TE OGH 2002/10/10 Bsw38830/97

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Veröffentlicht am 10.10.2002
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Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Czekalla gegen Portugal, Urteil vom 10.10.2002, Bsw. 38830/97.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch III, Beschwerdesache Czekalla gegen Portugal, Urteil vom 10.10.2002, Bsw. 38830/97.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK - Verwehrung des Zugangs zu einem Höchstgericht wegen nicht gesetzmäßiger Ausführung eines Rechtsmittels.Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Artikel 6, Absatz 3, Litera c, EMRK - Verwehrung des Zugangs zu einem Höchstgericht wegen nicht gesetzmäßiger Ausführung eines Rechtsmittels.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (einstimmig).Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK in Verbindung mit Artikel 6, Absatz 3, Litera c, EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 3.000,- für immateriellen Schaden, EUR 11.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (einstimmig).Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: EUR 3.000,- für immateriellen Schaden, EUR 11.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf., ein dt. Staatsangehöriger, wurde 1993 im Zuge einer Drogenrazzia festgenommen. In der Folge wurde gegen ihn und weitere 43 Personen Anklage erhoben. Ihnen wurde zur Last gelegt, sich als Mitglied einer Bande des Suchtgifthandels schuldig gemacht zu haben. Im Februar 1995 beantragte der Bf. die Beistellung eines Verfahrenshelfers, worauf Frau T.M. zur Pflichtverteidigerin bestellt wurde. Am 24.7.1995 wurde der Bf. des Suchtgifthandels für schuldig befunden, vom Vorwurf der Bandenbildung jedoch freigesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Er wandte sich darauf am 3.8.1995 mit einer Eingabe an das Höchstgericht. Mit Beschluss vom 12.9.1995 wurde diese vom Strafgericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass sie entgegen dem § 92 (1) portug. StPO nicht in portug., sondern in dt. Sprache ab­gefasst sei.Der Bf., ein dt. Staatsangehöriger, wurde 1993 im Zuge einer Drogenrazzia festgenommen. In der Folge wurde gegen ihn und weitere 43 Personen Anklage erhoben. Ihnen wurde zur Last gelegt, sich als Mitglied einer Bande des Suchtgifthandels schuldig gemacht zu haben. Im Februar 1995 beantragte der Bf. die Beistellung eines Verfahrenshelfers, worauf Frau T.M. zur Pflichtverteidigerin bestellt wurde. Am 24.7.1995 wurde der Bf. des Suchtgifthandels für schuldig befunden, vom Vorwurf der Bandenbildung jedoch freigesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Er wandte sich darauf am 3.8.1995 mit einer Eingabe an das Höchstgericht. Mit Beschluss vom 12.9.1995 wurde diese vom Strafgericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass sie entgegen dem Paragraph 92, (1) portug. StPO nicht in portug., sondern in dt. Sprache ab­gefasst sei.

Am 7.8.1995 erhob T.M. im Namen des Bf. ein Rechtsmittel an das Höchstgericht, worin sie mehrere prozessuale Nichtigkeitsgründe und eine Verletzung der Art. 5 und 6 EMRK geltend machte. Kurze Zeit darauf erteilte der Bf. einem anderen Rechtsanwalt das Mandat, worauf die Bestellung von T.M. als Pflichtverteidigerin endete. Am 27.9.1995 brachte sein Rechtsvertreter gegen den Beschluss des Strafgerichts ein Rechtsmittel beim Höchstgericht ein.Am 7.8.1995 erhob T.M. im Namen des Bf. ein Rechtsmittel an das Höchstgericht, worin sie mehrere prozessuale Nichtigkeitsgründe und eine Verletzung der Artikel 5 und 6 EMRK geltend machte. Kurze Zeit darauf erteilte der Bf. einem anderen Rechtsanwalt das Mandat, worauf die Bestellung von T.M. als Pflichtverteidigerin endete. Am 27.9.1995 brachte sein Rechtsvertreter gegen den Beschluss des Strafgerichts ein Rechtsmittel beim Höchstgericht ein.

Mit Urteil vom 10.7.1996 wurde das von T.M. eingebrachte Rechtsmittel wegen fehlender deutlicher und bestimmter Ausführung der Nichtigkeitsgründe als unzulässig zurückgewiesen. Am 11.12.1996 fällte das Höchstgericht ein zweites Urteil. Es befand den Bf. nun auch des Verbrechens der Bandenbildung für schuldig und hob die Freiheitsstrafe auf 21 Jahre an. Das Höchstgericht kam zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des Strafgerichts vom 12.9.1995 mit Rücksicht auf Art. 6 (3) (e) EMRK aufzuheben sei und ordnete ferner an, die Eingabe zu übersetzen und einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Mehrere der mit dem Bf. gemeinsam Verurteilten erhoben dagegen ein Rechtsmittel an das Verfassungsgericht, nicht jedoch er selbst.Mit Urteil vom 10.7.1996 wurde das von T.M. eingebrachte Rechtsmittel wegen fehlender deutlicher und bestimmter Ausführung der Nichtigkeitsgründe als unzulässig zurückgewiesen. Am 11.12.1996 fällte das Höchstgericht ein zweites Urteil. Es befand den Bf. nun auch des Verbrechens der Bandenbildung für schuldig und hob die Freiheitsstrafe auf 21 Jahre an. Das Höchstgericht kam zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des Strafgerichts vom 12.9.1995 mit Rücksicht auf Artikel 6, (3) (e) EMRK aufzuheben sei und ordnete ferner an, die Eingabe zu übersetzen und einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Mehrere der mit dem Bf. gemeinsam Verurteilten erhoben dagegen ein Rechtsmittel an das Verfassungsgericht, nicht jedoch er selbst.

In der Folge ersuchte der Bf. das Höchstgericht um Erläuterung des letzten Teils des Urteils, insb. dahingehend, ob das Strafurteil angesichts der Aufhebung des Beschlusses des Strafgerichts überhaupt Rechtskraft erlangt habe. Sein Begehren wurde am 12.2.1997 mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass das seinerzeitige Urteil keiner Erläuterung bedürfe. Ferner behob das Höchstgericht einen Irrtum bezüglich der Strafbemessung in seinem Urteil vom 11.12.1996 und setzte das Strafmaß in Bezug auf den Bf. nunmehr auf 18 Jahre fest. Mit Urteil vom 1.10.1997 stellte das Höchstgericht fest, dass angesichts der Tatsache, dass das Verfassungsgericht die Rechtsmittel der mit dem Bf. gemeinsam Verurteilten im Juli 1997 abgewiesen hatte, sein Urteil vom 11.12.1996 in der berichtigten Fassung vom 12.2.1997 Rechtskraft erlangt habe und der Bf. somit die über ihn verhängte Freiheitsstrafe zu verbüßen habe. Der Bf. stellte daraufhin einen Enthaftungsantrag, wobei er geltend machte, dass das Urteil des Höchstgerichts vom 11.12.1996 in Bezug auf ihn niemals Rechtskraft erlangt hätte, weil der letzte Teil dieses Urteils, nämlich die Anordnung einer eingehenden Prüfung seiner Eingabe an das Strafgericht, niemals vollzogen worden sei. Der Antrag wurde vom Berichterstatter des Senats wie folgt abgewiesen:

„Die Eingabe vom 3.8.1995 ist dem § 98 StPO (Anm.: Danach ist es einem Angeklagten gestattet, dem Gericht Schriftsätze, Anträge und Eingaben zu jeder Zeit des Verfahrens vorzulegen, und zwar auch dann, wenn sie nicht von seinem Verteidiger unterzeichnet sind, sofern sie mit dem Verfahrensgegenstand in Bezug stehen oder die Wahrung seiner Grund- und Freiheitsrechte zum Ziel haben.) unterzuordnen. Wenn der Beschwerdeführer nun der Meinung ist, dass er mit dieser Eingabe das Urteil des Strafgerichts bekämpft hat, ist ihm mitzuteilen, dass dies nicht der Fall ist. Als gegen das Strafurteil eingebrachtes Rechtsmittel ist dasjenige seiner Pflichtverteidigerin anzusehen, das jedoch bereits behandelt wurde. ...„Die Eingabe vom 3.8.1995 ist dem Paragraph 98, StPO Anmerkung, Danach ist es einem Angeklagten gestattet, dem Gericht Schriftsätze, Anträge und Eingaben zu jeder Zeit des Verfahrens vorzulegen, und zwar auch dann, wenn sie nicht von seinem Verteidiger unterzeichnet sind, sofern sie mit dem Verfahrensgegenstand in Bezug stehen oder die Wahrung seiner Grund- und Freiheitsrechte zum Ziel haben.) unterzuordnen. Wenn der Beschwerdeführer nun der Meinung ist, dass er mit dieser Eingabe das Urteil des Strafgerichts bekämpft hat, ist ihm mitzuteilen, dass dies nicht der Fall ist. Als gegen das Strafurteil eingebrachtes Rechtsmittel ist dasjenige seiner Pflichtverteidigerin anzusehen, das jedoch bereits behandelt wurde. ...

Die Eingabe vom 3.8.1995, deren Inhalt durch das Strafgericht unmittelbar nach der Rückübermittlung des Strafaktes geprüft werden wird, konnte daher – wie auch immer – den Gang des Verfahrens weder berühren noch beeinflussen. Daraus folgt, dass die vorliegende Eingabe das Eintreten der Rechtskraft des Urteils des Höchstgerichts vom 11.12.1996 nicht verhindern konnte."

Gegen diese Entscheidung erhob der Bf. erfolglos ein Rechtsmittel an das Verfassungsgericht.

Am 16.3.1999 fällte das Strafgericht sein Urteil über die Eingabe des Bf. vom 3.8.1995. Es stellte zunächst fest, dass dieser ein Rechtsmittel eingebracht hätte, dass ohnehin mit dem von seiner damaligen Pflichtverteidigerin eingebrachten übereingestimmt habe. Er habe es allerdings verabsäumt, § 63 (2) portug. StPO zu beachten, wonach es ihm gestattet gewesen wäre, vom Verteidiger in seinem Namen durchgeführte Prozesshandlungen zu widerrufen. Auf jeden Fall sei seine Eingabe unzulässig, da sie lediglich von ihm, nicht jedoch von seiner Verteidigerin unterschrieben worden sei.Am 16.3.1999 fällte das Strafgericht sein Urteil über die Eingabe des Bf. vom 3.8.1995. Es stellte zunächst fest, dass dieser ein Rechtsmittel eingebracht hätte, dass ohnehin mit dem von seiner damaligen Pflichtverteidigerin eingebrachten übereingestimmt habe. Er habe es allerdings verabsäumt, Paragraph 63, (2) portug. StPO zu beachten, wonach es ihm gestattet gewesen wäre, vom Verteidiger in seinem Namen durchgeführte Prozesshandlungen zu widerrufen. Auf jeden Fall sei seine Eingabe unzulässig, da sie lediglich von ihm, nicht jedoch von seiner Verteidigerin unterschrieben worden sei.

Der Bf. wurde gemäß dem Europäischen Übereinkommen über die Überstellung von verurteilten Straftätern am 14.3. 2001 nach Deutschland überstellt und verbüßt dort den Rest seiner Freiheitsstrafe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 (1) MRK iVm. Art. 6 (3) (c) EMRK (hier: Recht auf den Beistand eines Verteidigers), weil ihm der Zugang zu einem Höchstgericht wegen nachlässiger Pflichterfüllung der ihm bestellten Verfahrenshelferin verwehrt worden sei.Der Bf. behauptet eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6, (1) MRK in Verbindung mit Artikel 6, (3) (c) EMRK (hier: Recht auf den Beistand eines Verteidigers), weil ihm der Zugang zu einem Höchstgericht wegen nachlässiger Pflichterfüllung der ihm bestellten Verfahrenshelferin verwehrt worden sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3) (c)Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK in Verbindung mit Artikel 6, (3) (c)

EMRK:

Aus der Unabhängigkeit des Anwaltsstandes gegenüber dem Staat ist zu schließen, dass die Führung der Verteidigung im Wesentlichen eine Angelegenheit zwischen dem Angeklagten und seinem Rechtsbeistand ist, mag sie im Wege der Verfahrenshilfe oder im Rahmen der privaten Kostentragung erfolgen. Art. 6 (3) EMRK verpflichtet die nationalen Behörden nur dann einzugreifen, wenn Versäumnisse des Pflichtverteidigers bei der Vertretung seines Klienten offensichtlich sind oder in hinreichender Weise anderweitig bekannt werden. Im Gegensatz zu der dem Urteil Daud/P zugrundeliegenden Sachlage kann im vorliegenden Fall nicht gesagt werden, dass die vom Gericht bestellte Verfahrenshelferin verabsäumt hätte, dem Bf. während des Verfahrens vor dem Strafgericht anwaltlichen Beistand zu gewähren. Es stellt sich daher die Frage, ob die Tatsache, dass das von T.M. beim Höchstgericht eingebrachte Rechtsmittel nicht die vom innerstaatlichen Recht geforderten gesetzlichen Formalkriterien erfüllte, als „offenkundiges Versäumnis" bezeichnet werden kann. In ihrer Meinung zum oben zitierten Urteil hat die ehemalige EKMR auf einen ähnlichen – damals wegen bereits anderer festgestellter Mängel in der Verteidigung nicht weiter erörterten – Umstand hingewiesen, nämlich dass die von Amts wegen beigegebene Verteidigerin es in ihrem Rechtsmittel an das Höchstgericht verabsäumt hätte, die Nichtigkeitsgründe einzeln und bestimmt zu bezeichnen, was dessen Unzulässigerklärung zur Folge hatte. Die Kms. führte weiter aus:Aus der Unabhängigkeit des Anwaltsstandes gegenüber dem Staat ist zu schließen, dass die Führung der Verteidigung im Wesentlichen eine Angelegenheit zwischen dem Angeklagten und seinem Rechtsbeistand ist, mag sie im Wege der Verfahrenshilfe oder im Rahmen der privaten Kostentragung erfolgen. Artikel 6, (3) EMRK verpflichtet die nationalen Behörden nur dann einzugreifen, wenn Versäumnisse des Pflichtverteidigers bei der Vertretung seines Klienten offensichtlich sind oder in hinreichender Weise anderweitig bekannt werden. Im Gegensatz zu der dem Urteil Daud/P zugrundeliegenden Sachlage kann im vorliegenden Fall nicht gesagt werden, dass die vom Gericht bestellte Verfahrenshelferin verabsäumt hätte, dem Bf. während des Verfahrens vor dem Strafgericht anwaltlichen Beistand zu gewähren. Es stellt sich daher die Frage, ob die Tatsache, dass das von T.M. beim Höchstgericht eingebrachte Rechtsmittel nicht die vom innerstaatlichen Recht geforderten gesetzlichen Formalkriterien erfüllte, als „offenkundiges Versäumnis" bezeichnet werden kann. In ihrer Meinung zum oben zitierten Urteil hat die ehemalige EKMR auf einen ähnlichen – damals wegen bereits anderer festgestellter Mängel in der Verteidigung nicht weiter erörterten – Umstand hingewiesen, nämlich dass die von Amts wegen beigegebene Verteidigerin es in ihrem Rechtsmittel an das Höchstgericht verabsäumt hätte, die Nichtigkeitsgründe einzeln und bestimmt zu bezeichnen, was dessen Unzulässigerklärung zur Folge hatte. Die Kms. führte weiter aus:

„[...] handelte es sich um eine Situation, in der das Versäumnis der Pflichtverteidigerin offenkundig wurde und die schwerwiegende Konse­quenzen für die Verteidigung des Bf. insofern hatte, als jenem dadurch der Zugang zu einem Höchstgericht genommen wurde. Unter den besonderen Umständen des Falles, und zieht man ebenfalls in Betracht, dass es sich bei dem Bf. um einen Ausländer handelte, wäre es an den portug. Behörden gelegen, Vorkehrungen zu treffen, dass der Bf. in den effektiven Genuss seines Rechts auf den Beistand eines Verteidigers kommen würde [...]"

Der GH ist somit aufgerufen, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Zuerst ist fest­zuhalten, dass eine unzulängliche oder irrtümliche Verteidigungsführung durch einen Pflichtverteidiger die Verantwortung des Staates hierfür nicht auszulösen vermag. Unter gewissen Umständen kann die Nichtbeachtung einer reinen Formvorschrift aus Nachlässigkeit jedoch nicht mit einem Irrtum des Verteidigers oder mit Argumentationsmängeln gleichgesetzt werden, nämlich wenn dadurch einem Verurteilten der Rechtsmittelweg abgeschnitten wird, ohne dass diese Situation von der höheren Instanz bereinigt würde. In dieser Hinsicht verdient die Tatsache Beachtung, dass der Bf. als Ausländer nicht der Verfahrenssprache mächtig war, sich jedoch mit einer Anklage konfrontiert sah, die zu einer beträchtlichen Freiheitsstrafe führen konnte und dann auch tatsächlich führte. Der GH hält fest, dass dem Bf. unter diesen Umständen, was den Rechtsweg an das portug. Höchstgericht anbelangt, keine konkrete und wirksame Verteidigung iSv. Art. 6 (3) (c) EMRK zur Verfügung stand. Es bleibt zu prüfen, ob die portug. Behörden verpflichtet gewesen wären, Vorkehrungen zu treffen, dass der Bf. dieses Recht wirksam wahrnehmen konnte. Es trifft zu, dass der Bf. die zuständigen Gerichte erst vor dem September 1995 über mögliche Unzulänglichkeiten betreffend seine Verteidigung aufmerksam gemacht hat. Seine unverzüglich am 3.8.1995 in eigener Person vorgenommene Eingabe gegen das Urteil des Strafgerichts spricht jedoch dafür, dass er mit der Verteidigungsführung seiner Verfahrenshelferin nicht gänzlich einverstanden war. Als entscheidender Punkt ist jedoch die Nichtbeachtung einer reinen Formvorschrift bei der Einbringung eines Rechtsmittels an das Höchstgericht durch die Pflichtverteidigerin zu sehen. Nach Ansicht des GH handelte es sich hierbei um ein „offenkundiges Versäumnis", das ein positives Handeln der Behörden nach sich ziehen hätte müssen. Es wäre somit am Höchstgericht gelegen, T.M. aufzufordern, ihren Schriftsatz zu berichtigen oder zu vervollständigen – und nicht von Vornherein das Rechtsmittel für unzulässig zu erklären.Der GH ist somit aufgerufen, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Zuerst ist fest­zuhalten, dass eine unzulängliche oder irrtümliche Verteidigungsführung durch einen Pflichtverteidiger die Verantwortung des Staates hierfür nicht auszulösen vermag. Unter gewissen Umständen kann die Nichtbeachtung einer reinen Formvorschrift aus Nachlässigkeit jedoch nicht mit einem Irrtum des Verteidigers oder mit Argumentationsmängeln gleichgesetzt werden, nämlich wenn dadurch einem Verurteilten der Rechtsmittelweg abgeschnitten wird, ohne dass diese Situation von der höheren Instanz bereinigt würde. In dieser Hinsicht verdient die Tatsache Beachtung, dass der Bf. als Ausländer nicht der Verfahrenssprache mächtig war, sich jedoch mit einer Anklage konfrontiert sah, die zu einer beträchtlichen Freiheitsstrafe führen konnte und dann auch tatsächlich führte. Der GH hält fest, dass dem Bf. unter diesen Umständen, was den Rechtsweg an das portug. Höchstgericht anbelangt, keine konkrete und wirksame Verteidigung iSv. Artikel 6, (3) (c) EMRK zur Verfügung stand. Es bleibt zu prüfen, ob die portug. Behörden verpflichtet gewesen wären, Vorkehrungen zu treffen, dass der Bf. dieses Recht wirksam wahrnehmen konnte. Es trifft zu, dass der Bf. die zuständigen Gerichte erst vor dem September 1995 über mögliche Unzulänglichkeiten betreffend seine Verteidigung aufmerksam gemacht hat. Seine unverzüglich am 3.8.1995 in eigener Person vorgenommene Eingabe gegen das Urteil des Strafgerichts spricht jedoch dafür, dass er mit der Verteidigungsführung seiner Verfahrenshelferin nicht gänzlich einverstanden war. Als entscheidender Punkt ist jedoch die Nichtbeachtung einer reinen Formvorschrift bei der Einbringung eines Rechtsmittels an das Höchstgericht durch die Pflichtverteidigerin zu sehen. Nach Ansicht des GH handelte es sich hierbei um ein „offenkundiges Versäumnis", das ein positives Handeln der Behörden nach sich ziehen hätte müssen. Es wäre somit am Höchstgericht gelegen, T.M. aufzufordern, ihren Schriftsatz zu berichtigen oder zu vervollständigen – und nicht von Vornherein das Rechtsmittel für unzulässig zu erklären.

Die Reg. bringt vor, dass eine solche Vorgangsweise angesichts der Unabhän­gigkeit der Anwaltschaft und des Grundsatzes der Waffengleichheit nicht vorstellbar sei.

Der GH vermag sich diesem Argument nicht anzuschließen. Zum einen ist nicht erkennbar, in welcher Art und Weise die Unabhängigkeit der Anwaltschaft durch die bloße Aufforderung, formelle Ungenauigkeiten zu berichtigen, betroffen sein könnte. Zum anderen kann nicht ohne weiteres gesagt werden, dass eine solche Situation im Vorhinein geeignet wäre, den Grundsatz der Waffengleichheit in Frage zu stellen. Vielmehr ist darin eine Äußerung des Gerichts im Rahmen der ihm übertragenen Verfahrensführung, und zwar im Interesse einer ausgewogenen Rechtsprechung, zu sehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die portug. Rechtsordnung auf dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts sehr wohl eine solche Aufforderung kennt, ohne dass in diesem Zusammenhang jemals Fragen nach einer Verletzung der Unabhängigkeit der Anwaltschaft, des Grundsatzes der Waffengleichheit oder einer Unterscheidung zwischen einem gerichtlich bestellten Verfahrenshelfer und einem frei gewählten Verteidiger aufgetreten wären.

Es bleibt noch anzumerken, dass das portug. Verfassungsgericht vor kurzem entschieden hat, dass jene Regelung der portug. StPO, die den zuständigen Gerichten gestattete, ein Rechtsmittel wegen nicht gesetzmäßiger Ausführung ohne vorherige Aufforderung zur Vervollständigung oder Berichtigung zurückzuweisen, verfassungswidrig sei. (Anm.: Konkret ging es um die Aufhebung des § 412 portug. StPO durch das Urteil Nr. 337/2000 v. 27.6.2000.) Nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung in Portugal ist davon auszugehen, dass eine solche Entscheidung, wie sie vom portug. Höchstgericht in seinem ersten Urteil am 10.7.1996 getroffen wurde, nicht mehr möglich wäre. Die zuständigen Gerichte wären somit unter einer positiven Verpflichtung gestanden, dem Bf. zu seinem Recht auf eine konkrete und wirksame Verteidigung zu verhelfen. Da dies nicht geschehen ist, liegt eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3) (c) EMRK vor (einstimmig).Es bleibt noch anzumerken, dass das portug. Verfassungsgericht vor kurzem entschieden hat, dass jene Regelung der portug. StPO, die den zuständigen Gerichten gestattete, ein Rechtsmittel wegen nicht gesetzmäßiger Ausführung ohne vorherige Aufforderung zur Vervollständigung oder Berichtigung zurückzuweisen, verfassungswidrig sei. Anmerkung, Konkret ging es um die Aufhebung des Paragraph 412, portug. StPO durch das Urteil Nr. 337/2000 v. 27.6.2000.) Nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung in Portugal ist davon auszugehen, dass eine solche Entscheidung, wie sie vom portug. Höchstgericht in seinem ersten Urteil am 10.7.1996 getroffen wurde, nicht mehr möglich wäre. Die zuständigen Gerichte wären somit unter einer positiven Verpflichtung gestanden, dem Bf. zu seinem Recht auf eine konkrete und wirksame Verteidigung zu verhelfen. Da dies nicht geschehen ist, liegt eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK in Verbindung mit Artikel 6, (3) (c) EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:

EUR 3.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 11.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates

(einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Daud/P v. 21.4.1998 (= ÖJZ 1999, 198).

Van Geyseghem/B v. 21.1.1999 (= NL 1999, 15 = ÖJZ 1999, 737 = EuGRZ

1999, 9).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.10.2002, Bsw. 38830/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 209) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_5/Czekalla.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00412 Bsw38830.97-U

Dokumentnummer

JJT_20021010_AUSL000_000BSW38830_9700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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