TE OGH 2002/12/10 10ObS389/02g

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.12.2002
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr und die fachkundigen Laienrichter Dr. Karlheinz Kux (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johannes Denk (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Monika R*****, vertreten durch Mag. Kurt Oberleitner, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. September 2002, GZ 7 Rs 187/02b-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. März 2002, GZ 34 Cgs 270/01d-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 30. 11. 1959 geborene Klägerin war als Raumpflegerin beschäftigt und hat während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 7. 2001) 31 Beitragsmonate als Hilfsarbeiterin erworben. Sie ist nur mehr in der Lage, leichte Tätigkeiten auszuführen, wobei der Arbeitsplatz frei von inhalativen Noxen, Kälte und Nässe sowie geschützt von Witterungsunbilden sein soll. Arbeiten in kniender Haltung und über Schulterhöhe sollen nicht über die Hälfte der Arbeitszeit hinausgehen.

Mit Bescheid vom 3. 8. 2001 hat die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag der Klägerin vom 11. 6. 2001 auf Zuerkennung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Die Frage der Invalidität der Klägerin sei nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Da die Klägerin keinen Berufsschutz genieße, sei das Verweisungsfeld mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt ident. Auch wenn die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, die von ihr zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Raumpflegerin zu verrichten, könne sie doch auf verschiedenste körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten in arbeitsteilig organisierten Industrie- und Gewerbebetrieben verwiesen werden, wie beispielsweise die Tätigkeiten des Sortierens, Einlegens, Verpackens, Automatenbedienens und dergleichen. Das Anforderungsprofil dieser Verweisungstätigkeiten übersteige offenkundig nicht das bei der Klägerin noch bestehende Leistungskalkül und es gebe jedenfalls mehr als hundert Arbeitsplätze dieser Art, die frei von inhalativen Noxen, Kälte, Nässe und geschützt von Witterungsunbilden seien. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es sah die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen Nichteinholung von Gutachten aus dem Bereich der Orthopädie und der Berufskunde nicht als gegeben an und bestätigte die erstgerichtliche Beweiswürdigung. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass die offenkundigen Anforderungen in weit verbreiteten Berufen, die sich überwiegend vor den Augen der Öffentlichkeit abspielten, nicht festgestellt werden müssten. Dazu gehörten die Tätigkeiten von Adjustieren, Etikettierern, Sortierern, Geschirrabräumern, Portieren, Aufsehern, Büroboten, Abwäschern, Parkgaragenkassieren, Telefonisten und Postabfertigern. Auch wenn das Leistungskalkül der Klägerin auf leichte Tätigkeiten unter weiteren Bedingungen eingeschränkt sei, könne unbedenklich davon ausgegangen werden, dass dieses Leistungskalkül offenkundig jedenfalls für die Tätigkeiten einer Etikettiererin, Aufseherin und Telefonistin ausreiche. Im Hinblick auf diese möglichen Verweisungstätigkeiten sei die Klägerin nicht invalid.Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Die Frage der Invalidität der Klägerin sei nach Paragraph 255, Absatz 3, ASVG zu beurteilen. Da die Klägerin keinen Berufsschutz genieße, sei das Verweisungsfeld mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt ident. Auch wenn die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, die von ihr zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Raumpflegerin zu verrichten, könne sie doch auf verschiedenste körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten in arbeitsteilig organisierten Industrie- und Gewerbebetrieben verwiesen werden, wie beispielsweise die Tätigkeiten des Sortierens, Einlegens, Verpackens, Automatenbedienens und dergleichen. Das Anforderungsprofil dieser Verweisungstätigkeiten übersteige offenkundig nicht das bei der Klägerin noch bestehende Leistungskalkül und es gebe jedenfalls mehr als hundert Arbeitsplätze dieser Art, die frei von inhalativen Noxen, Kälte, Nässe und geschützt von Witterungsunbilden seien. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es sah die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen Nichteinholung von Gutachten aus dem Bereich der Orthopädie und der Berufskunde nicht als gegeben an und bestätigte die erstgerichtliche Beweiswürdigung. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass die offenkundigen Anforderungen in weit verbreiteten Berufen, die sich überwiegend vor den Augen der Öffentlichkeit abspielten, nicht festgestellt werden müssten. Dazu gehörten die Tätigkeiten von Adjustieren, Etikettierern, Sortierern, Geschirrabräumern, Portieren, Aufsehern, Büroboten, Abwäschern, Parkgaragenkassieren, Telefonisten und Postabfertigern. Auch wenn das Leistungskalkül der Klägerin auf leichte Tätigkeiten unter weiteren Bedingungen eingeschränkt sei, könne unbedenklich davon ausgegangen werden, dass dieses Leistungskalkül offenkundig jedenfalls für die Tätigkeiten einer Etikettiererin, Aufseherin und Telefonistin ausreiche. Im Hinblick auf diese möglichen Verweisungstätigkeiten sei die Klägerin nicht invalid.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Klägerin sieht eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens in dem Umstand, dass es das Berufungsgericht unterlassen habe, die seiner Ansicht nach gerichtskundigen Tatsachen über Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen mit den Parteien zu erörtern, bevor solche Tatsachen von Amts wegen berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn sie unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Allerdings steht es dem Berufungsgericht nicht zu, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN), oder offenkundige Tatsachen ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde zu legen (10 ObS 273/02y), außer wenn die Tatsache völlig unzweifelhaft ist (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T4]) oder die Vorgangsweise mit den Parteien erörtert wird (RIS-Justiz RS0040219 [T3]). In diesem Sinn muss den Parteien bei bezweifelbarer Offenkundigkeit Gelegenheit geboten werden, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T9] = RIS-Justiz RS0040219 [T6]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Art 6 EMRK an ein faires Verfahren stellt (vgl zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschw Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395). Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnten (10 ObS 263/01a, 10 ObS 259/02i, 10 ObS 273/02y; RIS-Justiz RS0040219 [T6] und [T7]).Die Klägerin sieht eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens in dem Umstand, dass es das Berufungsgericht unterlassen habe, die seiner Ansicht nach gerichtskundigen Tatsachen über Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen mit den Parteien zu erörtern, bevor solche Tatsachen von Amts wegen berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn sie unter Anwendung des Paragraph 269, ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Allerdings steht es dem Berufungsgericht nicht zu, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN), oder offenkundige Tatsachen ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde zu legen (10 ObS 273/02y), außer wenn die Tatsache völlig unzweifelhaft ist (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T4]) oder die Vorgangsweise mit den Parteien erörtert wird (RIS-Justiz RS0040219 [T3]). In diesem Sinn muss den Parteien bei bezweifelbarer Offenkundigkeit Gelegenheit geboten werden, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T9] = RIS-Justiz RS0040219 [T6]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Artikel 6, EMRK an ein faires Verfahren stellt vergleiche zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschw Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395). Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnten (10 ObS 263/01a, 10 ObS 259/02i, 10 ObS 273/02y; RIS-Justiz RS0040219 [T6] und [T7]).

Nun hat das Berufungsgericht zwar im vorliegenden Fall einige vom Erstgericht nicht herangezogene Verweisungsberufe genannt, aber auch den Verweisungsberuf einer Etikettiererin angeführt, der in die Gruppe der vom Erstgericht erwähnten Verweisungsberufe ("körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten in arbeitsteilig organisierten Industrie- und Gewerbebetrieben ... wie beispielsweise die Tätigkeiten des Sortierens, Einlegens, Verpackens, Automatenbedienens und dergleichen") einzuordnen ist. Insofern hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Feststellung bestätigt, dass die Klägerin in der Lage ist, den Anforderungen in einem solchen Beruf zu genügen. Die Richtigkeit dieser aufgrund von Offenkundigkeit getroffenen Feststellung kann vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüft werden (10 ObS 259/02i = RIS-Justiz RS0040046 [T15]). Auf der Grundlage der von den Tatsacheninstanzen getroffenen Feststellungen versagt auch die Rechtsrüge. Demnach ist die Klägerin in der Lage, zumindest einen Verweisungsberuf auszuüben, sodass bei ihr Invalidität nicht vorliegt.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.Die Kostenentscheidung beruht auf Paragraph 77, Absatz eins, Ziffer 2, Litera b, ASGG.

Anmerkung

E68234 10ObS389.02g

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2002:010OBS00389.02G.1210.000

Dokumentnummer

JJT_20021210_OGH0002_010OBS00389_02G0000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten