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41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art8 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mangels ausreichender Interessenabwägung insbesondere im Hinblick auf den langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin im InlandSpruch
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit je € 2.142,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführer sind polnische Staatsangehörige; sie sind am 1.5.1991 aufgrund von bis 30.9.1991 bzw. (im Fall des Beschwerdeführers zu B825/02) bis 28.8.1991 gültig gewesenen Sichtvermerken nach Österreich eingereist und leben seither in Österreich im gemeinsamen Haushalt. Die Beschwerdeführer zu B824/02 und B826/02 haben in Wien die Volksschule absolviert und besuchen nunmehr die sechste Klasse des Gymnasiums.
2. Mit Bescheiden der Bundespolizeidirektion Wien vom 26.4.2001 wurden die Beschwerdeführer gemäß §33 Abs1 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden: FrG 1997) aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich ausgewiesen. Den dagegen erhobenen Berufungen gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit Bescheiden vom 19.3.2002 keine Folge.
3. Gegen diese Berufungsbescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, in denen die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Gleichheit vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide begehrt wird.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und Gegenschriften erstattet, in denen sie die Abweisung der Beschwerden beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:
1. Die verfügten Ausweisungen werden in den bekämpften Bescheiden damit begründet, dass die Beschwerdeführer am 1.5.1991 aufgrund von bis 30.9.1991 bzw. bis 28.8.1991 gültig gewesenen Sichtvermerken nach Österreich eingereist seien. Nach Ablauf der Sichtvermerke seien sie in Österreich verblieben, verfügten seither aber weder über einen Aufenthaltstitel noch über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz. Sie hielten sich somit unrechtmäßig im Bundesgebiet auf, sodass die Voraussetzungen des §33 Abs1 FrG 1997 vorlägen.
Da die Beschwerdeführer seit knapp elf Jahren in Österreich - im gemeinsamen Haushalt - lebten, stelle die Ausweisung einen Eingriff in ihr Privat- und Familienleben dar. Dieser Eingriff erweise sich jedoch zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele - hier: zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens - als dringend geboten.
2. In den Beschwerden wird das überwiegende öffentliche Interesse an der Ausweisung verneint und insbesondere vorgebracht, dass die Beschwerdeführer eine starke Bindung zu Österreich hätten, perfekt Deutsch sprächen, mit vielen Österreichern befreundet seien und über eine ausreichende Wohnmöglichkeit verfügten; die Beschwerdeführer zu B824/02 und B826/02 hätten überdies in Österreich die Volksschule absolviert und besuchten nun die sechste Klasse des Gymnasiums. Die Behörde habe aber die Integration der Beschwerdeführer sowie die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen nicht berücksichtigt und somit keine dem Art8 Abs2 EMRK entsprechende Interessenabwägung durchgeführt.
3. Die Beschwerden sind im Ergebnis begründet.
3.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie den angewandten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.982/1989, 13.241/1992, 13.489/1993).
3.2. Zwar gesteht die belangte Behörde in den bekämpften Bescheiden zu, dass es sich bei den verfügten Ausweisungen um einen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer handle; die Ausweisungen seien aber zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens dringend geboten. Besondere Gründe dafür werden nicht konkret angegeben, sondern nur allgemein angenommen.
Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 15.400/1999 ausgeführt hat, verlangt §33 Abs1 FrG 1997 für eine Ausweisung in jedem Fall, dass sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Dieser Umstand allein vermag jedoch eine Ausweisung nicht zu rechtfertigen, vielmehr muss eine solche gemäß §37 Abs1 FrG 1997 zur Erreichung der in Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten sein. Die Behörde hat daher unter Berücksichtigung des jeweils zu entscheidenden Einzelfalles näher darzutun, warum sie den mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in die durch Art8 EMRK geschützten Rechte als dringend geboten erachtet.
Eine solche - den Umständen der Beschwerdefälle entsprechende - Abwägung ist nicht erfolgt. Die Begründungen der angefochtenen Bescheide erschöpfen sich vielmehr in einer formelhaften Abfolge von zwar auf die Rechtslage, aber nicht auf die Einzelfälle Bezug nehmenden Sätzen. Es wurden weder die aufgrund der Dauer des Aufenthalts der Beschwerdeführer in Österreich aktuellen Schulbesuche der Beschwerdeführer zu B824/02 und B826/02 noch die sich daraus ergebende Intensität der bereits erfolgten Integration in die Abwägung einbezogen. Die angefochtenen Bescheide verletzen daher auf Grundlage der hier gewählten Begründungen die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (vgl. auch VfGH 12.6.2001, B394-397/01).
Die angefochtenen Bescheide waren deshalb aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag ist die entrichtete Eingabegebühr in der Höhe von je € 180,-- sowie Umsatzsteuer in Höhe von je € 327,-- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Fremdenrecht, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2002:B823.2002Dokumentnummer
JFT_09978993_02B00823_2_00