TE Vwgh Erkenntnis 2007/3/29 2005/20/0040

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Veröffentlicht am 29.03.2007
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/02 Staatsbürgerschaft Staatenlosigkeit;

Norm

AsylG 1997 §32 Abs2;
AsylG 1997 §5 Abs1;
AsylG 1997 §5;
AVG §56;
AVG §66 Abs4;
Dubliner Übk 1997 Art18;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs4;
Dubliner Übk 1997;
MRK Art8 Abs1;
MRK Art8 Abs2;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2005/20/0041 2005/20/0042

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak sowie den Hofrat Dr. Berger, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. Doblinger und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Thurin, über die Beschwerden des Bundesministers für Inneres gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 21. Dezember 2004, Zlen. 231.973/0-VI/42/02, 231.972/0-VI/42/02 und 231.974/0-VI/42/02, betreffend §§ 5 und 32 Abs. 2 Asylgesetz 1997 (mitbeteiligte Parteien: 1. M, 2. S und 3. I, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Die mitbeteiligten Parteien - ein Ehepaar und dessen (1985 geborener) Sohn - sind iranische Staatsbürger und reisten am 27. Dezember 2001 unter Verwendung eines von der griechischen Botschaft in Teheran ausgestellten Schengenvisums (mit einer Gültigkeitsdauer vom 7. Dezember 2001 bis 6. Jänner 2002) von Teheran kommend in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 8. Jänner 2002 beantragten sie die Gewährung von Asyl und machten geltend, im Iran aus Gründen der politischen Gesinnung verfolgt zu werden.

Das Bundesasylamt wies die Asylanträge der erst- und drittbeschwerdeführenden Partei mit Bescheiden vom 30. September 2002 und den Asylantrag der zweitbeschwerdeführenden Partei mit Bescheid vom 27. September 2002 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 (AsylG) als unzulässig zurück. Gleichzeitig wurde in diesen Bescheiden ausgesprochen, dass nach dem Dubliner Übereinkommen für die Prüfung der gegenständlichen Asylanträge Griechenland zuständig sei. Die mitbeteiligten Parteien wurden nach Griechenland ausgewiesen.

Mit den angefochtenen Bescheiden gab die belangte Behörde den Berufungen der mitbeteiligten Parteien gegen diese Bescheide des Bundesasylamtes statt, behob die erstinstanzlichen Bescheide gemäß § 32 Abs. 2 AsylG und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung von Bescheiden an das Bundesasylamt zurück.

Die belangte Behörde stellte fest, dass sich Griechenland mit Schreiben vom 16. September 2002 zur Übernahme und Prüfung der Asylanträge der Mitbeteiligten auf Grundlage des Dubliner Übereinkommens (DÜ) für zuständig erklärt habe, weil die Mitbeteiligten "im Besitz eines von Griechenland ausgestellten echten Schengenvisums gewesen" seien. Die Mitbeteiligten - ein Ehepaar mit dessen (mittlerweile volljährigem) Sohn - hätten nach ihrer Einreise zunächst ca. vier Wochen bei der Schwester der erstmitbeteiligten Partei in Linz gewohnt, anschließend hätten sie "ein Jahr bei der Caritas in Linz gewohnt, danach wurde eine eigene Wohnung angemietet". Die Schwester bewohne mit ihrem Gatten ein Haus in Traun. Sowohl die Erstmitbeteiligte als auch ihr Mann seien "derzeit nicht auf die Hilfe ihrer Schwester angewiesen, zuvor wurde sie bzw. ihre Familie von der Schwester auch finanziell unterstützt". Die Mitbeteiligten unterhielten "regelmäßige - mehrmals wöchentliche - enge Kontakte zu den in Österreich aufhältigen Verwandten, die Verwandten unterstützen sich gegenseitig". Die genannte Schwester, deren Ehemann und deren Kinder lebten seit 1993 in Österreich. Von 1993 bis Dezember 2001 hätten die Mitbeteiligten "mit diesen nicht zusammengewohnt, zuvor lebten die (erstmitbeteiligte Partei) und ihr Ehegatte und ihr Sohn mit der Schwester und deren Mann im Iran im selben Haus in getrennten Stockwerken, dieses Haus gehörte dem Vater der (erstmitbeteiligten Partei)". Die erstmitbeteiligte Partei habe dort "ca. zwei bis drei Jahre gewohnt, zuvor lebte sie auf Grund der Militärzugehörigkeit ihres Gatten in verschiedenen Städten des Iran".

Den festgestellten Sachverhalt beurteilte die belangte Behörde dahin, dass die familiären und sozialen Bindungen der mitbeteiligten Parteien an die Schwester der erstmitbeteiligten Partei (bzw. deren Ehegatten und Kinder) "eine ausreichende Beziehungsintensität aufweisen, um in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK zu fallen". Mit einer Ausweisung im Sinne des § 5 AsylG würde in den durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Bereich der mitbeteiligten Parteien eingegriffen. Ein derartiger Eingriff finde in Art. 8 Abs. 2 EMRK keine Deckung, weil dieser im vorliegenden Fall sich nicht als Maßnahme darstelle, die in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele notwendig und verhältnismäßig sei. Es wäre "somit vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 4 DÜ aus Gründen des Art. 8 EMRK Gebrauch zu machen gewesen". Die erstinstanzlichen Bescheide seien daher gemäß § 32 Abs. 2 AsylG aufzuheben gewesen.

Über die gegen die angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerden des Bundesministers für Inneres hat der Verwaltungsgerichtshof - auf Grund des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges gemeinsam - erwogen:

Die Amtsbeschwerden treten den angefochtenen Bescheiden vor allem mit dem Argument entgegen, die Feststellungen über die familiäre Nahebeziehung der Mitbeteiligten zu der in Österreich lebenden Schwester der erstmitbeteiligten Partei reichten nicht aus, um diese Nahebeziehung, insoweit sie durch die Ausweisung nach Griechenland beeinträchtigt würde, als Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK werten zu können. Bei der Beurteilung, ob gegebenenfalls ein Eingriff in Art. 8 EMRK vorläge, hätte außerdem zwingend der Beschluss Nr. 1/2000 vom 31. Oktober 2000 des Ausschusses nach Art. 18 DÜ über den Übergang der Zuständigkeit für Familienangehörige gemäß Art. 3 Abs. 4 und Art. 9 DÜ als Maßstab herangezogen werden müssen.

Der zuletzt genannte Beschwerdegrund trifft nicht zu, weil der Prüfungsmaßstab des erwähnten Beschlusses Nr. 1/2000 weniger weit reicht als jener nach Art. 8 EMRK. Dass nach dem in Rede stehenden Beschluss vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 4 DÜ nicht Gebrauch gemacht werden müsste, schließt daher eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht aus (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2003, Zl. 2002/20/0072).

Den Beschwerdeausführungen kommt hingegen - unter Bedachtnahme auf das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird - in Bezug auf das hier zu beurteilende Verhältnis zwischen erwachsenen Schwestern und deren jeweiligen Familien im Ergebnis Berechtigung zu (vgl. auch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600):

Nach den Feststellungen der belangten Behörde haben die im Zeitpunkt der Einreise nach Österreich (Dezember 2001) 40-jährige Erstmitbeteiligte sowie deren Ehemann und Sohn seit 1993, als die Schwester (bzw. Schwägerin und Tante) nach Österreich gekommen war, nicht mehr zusammengewohnt. Dass in der Zeit, in der die Familien im Iran im selben Haus wohnten, ein gemeinsamer Haushalt der beiden Familien bestanden hätte, hat die belangte Behörde nicht festgestellt. Dass bzw. in welcher Form ein damals allenfalls bestandenes Familienleben aufrecht erhalten worden wäre, wurde von der belangten Behörde ebenfalls nicht festgestellt.

Unter diesen Umständen reichte die Aufnahme der mitbeteiligten Parteien durch die Schwester der Erstmitbeteiligten nach deren Einreise für die Dauer von vier Wochen auch in Verbindung mit anfänglichen finanziellen Unterstützungen nach der Einreise nicht aus, um die sich aus der Zuständigkeitsordnung des DÜ ergebende Ausweisung nach Griechenland als Eingriff in die Ausübung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK erscheinen zu lassen. Zu den weiteren (im Rahmen der Feststellungen als "eng" bezeichneten) Kontakten zwischen den volljährigen Beteiligten fehlen aber Feststellungen, aus denen auf die für die Annahme einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung notwendige Intensität eines Zusammenlebens geschlossen werden könnte (vgl. zur Prüfung der konkreten Umstände das schon zitierte Erkenntnis vom 26. Jänner 2006 mwN).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Festzuhalten ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hatte. Von der belangten Behörde wird aber in dem infolge der Aufhebung des Bescheides fortzusetzenden Verfahren zu prüfen sein, ob mittlerweile allenfalls Veränderungen der Sachlage eingetreten oder bisher nicht berücksichtigte Umstände vorhanden sind, aus denen sich aus grundrechtlicher Sicht eine Verpflichtung zum Selbsteintritt in das Asylverfahren ergeben könnte (vgl. zu dieser Verpflichtung der Asylbehörden das jüngst ergangene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 26. Februar 2007, B 1802, 1803/06).

Wien, am 29. März 2007

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Beachtung einer Änderung der Rechtslage sowie neuer Tatsachen und Beweise

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2005200040.X00

Im RIS seit

11.06.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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