TE Vfgh Beschluss 2002/10/7 B1437/02, G297/02

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Veröffentlicht am 07.10.2002
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art144 Abs1 / Gerichtsakt
B-VG Art144 Abs1 / Bescheid
ASGG §71
ASVG §89 Abs1 Z1
ZPO §63 Abs1 / Aussichtslosigkeit

Leitsatz

Zurückweisung eines Individualantrags eines Häftlings auf Aufhebung einer Bestimmung betreffend das Ruhen der Invaliditätspension während des Aufenthalts in einer Strafanstalt mangels Legitimation; Zurückweisung der Beschwerde gegen einen bereits aufgehobenen Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt sowie von Eingaben gegen Urteile des Arbeits- und Sozialgerichts in derselben Rechtssache mangels Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes

Spruch

              Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird abgewiesen.

              Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

              Der Gesetzesprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

I.              1. Gegen den Einschreiter war vom 3. August 1999 bis 10. März 2000 die Untersuchungshaft verhängt worden; seit dem 10. März 2000 befindet er sich in Strafhaft.

              Mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 30. Juli 1999 war ihm eine Invaliditätspension zuerkannt worden. Mit Bescheid dieser Pensionsversicherungsanstalt vom 16. August 2000 wurde ausgesprochen, daß die Invaliditätspension wegen des Aufenthalts des Einschreiters in Strafhaft seit dem 3. August 1999 ruht (§89 Abs1 Z1 ASVG). Der Einschreiter wurde verpflichtet, den bis zum 30. April 2000 entstandenen Überbezug (S 179.040,20) binnen vier Wochen nach Rechtskraft des Bescheides an die Pensionsversicherungsanstalt zu erstatten.

              Der Einschreiter erhob dagegen mit Schriftsatz vom 5. Oktober 2000 Klage an das Arbeits- und Sozialgericht Wien. Nach Klagseinbringung wurde der Einschreiter von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter mit "Verständigung" vom 15. September 2000 in Kenntnis gesetzt, daß die Frage des Überbezugs neu beurteilt worden und (bloß) der vom 10. März 2000 bis 30. April 2000 entstandene Überbezug (S 46.400,10) zu ersetzen sei.

              Mit Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 20. März 2001 wurde festgestellt, daß die Invaliditätspension des Einschreiters ab dem 10. März 2000 ruht, sowie, daß die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter hinsichtlich des vom 3. August 1999 bis 30. April 2000 entstandenen Überbezugs keinen Rückforderungsanspruch gem. §107 ASVG hat.

              Das Oberlandesgericht Wien (als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen) wies die dagegen erhobene Berufung der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter mit Urteil vom 12. Oktober 2001 als unbegründet ab.

              Mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 28. Mai 2002 wurde der Revision der Pensionsversicherungsanstalt Folge gegeben; die bisherigen Urteile wurden ua. dahin abgeändert, daß der Einschreiter den vom 3. August 1999 bis 12. März 2000 entstandenen Überbezug an Invaliditätspension nicht zu erstatten verpflichtet ist (Pkt. 1 des Urteilstenors); in Pkt. 3 wurde der Einschreiter verpflichtet, den vom 13. März 2000 bis 30. April 2000 entstandenen Überbezug (S 44.765,90) bis zum 1. Oktober 2005 (dh. bis zum voraussichtlichen Ende seiner Strafhaft) an die Pensionsversicherungsanstalt zu zahlen.

              2.1. Mit beim Verfassungsgerichtshof am 19. September 2002 eingelangtem Schriftsatz stellt der (durch einen Rechtsanwalt vertretene) Einschreiter - gestützt auf Art140 Abs1 letzter Satz B-VG - den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge §89 Abs1 Z1 ASVG als verfassungswidrig aufheben.

              Diese Bestimmung lautet:

              "§89. (1) Die Leistungsansprüche ruhen

              1. in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung, solange der Anspruchsberechtigte oder sein Angehöriger (§123), für den die Leistung gewährt wird, eine Freiheitsstrafe verbüßt oder in den Fällen der §§21 Abs2, 22 und 23 des Strafgesetzbuches, BGBl. Nr. 60/1974, in einer der dort genannten Anstalten angehalten wird;

              2.-3. ..."

              2.2. Gemäß Art140 Abs1 letzter Satz B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch die Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit dem Beschluß VfSlg. 8009/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist daher grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, daß das Gesetz in die Rechtssphäre der Betroffenen unmittelbar eingreift und diese - im Falle seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt.

              Nicht jedem Normadressaten aber kommt diese Antragsbefugnis zu. Es ist (wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluß VfSlg. 8009/1977 ausgeführt und in seiner Rechtsprechung mehrfach, zB in VfSlg. 8148/1977, 8241/1978, 8276/1978 und 8485/1979, bekräftigt hat) für die Antragslegitimation darüber hinaus auch erforderlich, daß dem Antragsteller ein anderer zumutbarer Weg zur Geltendmachung der von ihm behaupteten Verfassungswidrigkeit nicht zur Verfügung steht.

              Ein - nach dem vorhin Ausgeführten die Zulässigkeit eines Antrags gem. Art140 Abs1 letzter Satz B-VG ausschließender - zumutbarer Weg ist nach ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ua. dann gegeben, wenn bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, das dem Betroffenen die Gelegenheit eröffnet, beim Gericht anzuregen, es möge einen Gesetzesprüfungsantrag gem. Art140 Abs1 B-VG stellen (s. zB VfSlg. 13.871/1994 und die dort zitierte Vorjudikatur). Gemäß Art89 Abs2 zweiter Satz B-VG wären die betreffenden Gerichte (nämlich der Oberste Gerichtshof oder ein zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständiges Gericht) zur Anrufung des Verfassungsgerichtshofes verpflichtet, sofern sie - ebenso wie der Antragsteller - gegen die Anwendung des Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken haben sollten (s. zB VfSlg. 11.480/1987; aus dem Blickwinkel des vorliegenden Falles s. insbesondere VfSlg. 13.751/1994; VfGH 22. Mai 2000, G52/00). Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn ein gerichtliches Verfahren anhängig war, in dem der Antragsteller die Möglichkeit hatte, eine amtswegige Anrufung des Verfassungsgerichtshofes anzuregen (s. VfSlg. 8890/1980, 12.810/1991).

              Ein Antrag eines einzelnen gem. Art140 Abs1 letzter Satz B-VG wäre in solchen Fällen nur zulässig, wenn besondere, außergewöhnliche Umstände vorlägen (s. zB VfSlg. 13.871/1994 und die dort zitierte Vorjudikatur). Andernfalls ergäbe sich nämlich eine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes, die sich mit dem Grundprinzip des Individualantrags als eines bloß subsidiären Rechtsbehelfes nicht vereinbaren ließe (vgl. zB VfSlg. 8890/1980, 11.823/1988, 13.659/1993). Die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgesetzgebers, die Initiative zur Prüfung genereller Normen (vom Standpunkt des Betroffenen aus gesehen) zu mediatisieren, wenn die Rechtsverfolgung vor Gerichten stattfindet, gefährdet auch nicht den Grundrechtsschutz (vgl. VfSlg. 11.889/1988).

              Besondere, außergewöhnliche Umstände liegen im

konkreten Fall jedoch nicht vor: Die Tatsache, daß der Oberste Gerichtshof - somit ein ordentliches Gericht, das gem. Art89 Abs2 B-VG allenfalls verpflichtet gewesen wäre, den Verfassungsgerichtshof anzurufen - mit dem vorhin erwähnten Urteil vom 28. Mai 2002 (gestützt auf Vorjudikatur) zum Ausdruck gebracht hat, die vom Einschreiter erhobenen Bedenken gegen §89 Abs1 Z1 ASVG nicht zu teilen, bewirkt weder - wovon der Einschreiter jedoch auszugehen scheint -, daß das Gesetz nunmehr unmittelbar in seine Rechtssphäre eingreift, noch ergibt sich daraus eine quasi subsidiäre Antragslegitimation. Für die Zulässigkeit des vom Einschreiter beabsichtigten Rechtsbehelfs ist daraus allein somit nichts zu gewinnen (s. zB VfSlg. 8552/1979, 9220/1981, 9394/1982, 9788/1983, 9926/1984, 11.889/1988, 13.659/1993).

              Der Gesetzesprüfungsantrag war daher als unzulässig zurückzuweisen.

              3. Der Einschreiter stellt darüber hinaus,

anscheinend gestützt auf Art144 Abs1 B-VG, den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 16. August 2000 - sowie die hiezu ergangene (wohl als Berichtigungsbescheid intendierte) "Verständigung" vom 15. September 2000 - wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte aufheben.

              Dadurch, daß der Einschreiter gegen den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter - seinem gesamten Umfange nach - Klage an das Arbeits- und Sozialgericht Wien erhoben hat, ist dieser Bescheid (ebenso wie ein allfälliger, hiezu ergangener Berichtigungsbescheid) indes zur Gänze außer Kraft getreten (§71 Abs1 ASGG; s. dazu VfSlg. 14.859/1997). Die Beschwerde richtet sich damit gegen einen Bescheid, der nicht mehr dem Rechtsbestand angehört; sie war daher ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen.

              4. Der Einschreiter beantragt weiters, der Verfassungsgerichtshof möge die - eingangs bezeichneten - Urteile des Arbeits- und Sozialgerichts Wien, des Oberlandesgerichts Wien sowie des Obersten Gerichtshofs, "soweit [s]eine Pensionsansprüche während der Strafhaft für ruhend erklärt wurden", wegen "Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte" aufheben.

              Die Eingabe richtet sich somit insoweit gegen Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Weder Art144 B-VG noch eine andere Rechtsvorschrift räumen indes dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis zur Nachprüfung bzw. Aufhebung solcher Akte auf Grund einer an ihn gerichteten Beschwerde ein (zB VfGH 3. Oktober 2001, B913/01, mwN).

              Auch dieses Begehren war damit als unzulässig zurückzuweisen.

II.              Da die vom Einschreiter in Aussicht genommene Rechtsverfolgung durch Erhebung einer offenkundig unzulässigen Bescheidbeschwerde und einer offenkundig unzulässigen Beschwerde gegen Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie durch Einbringung eines ebenso unzulässigen Gesetzesprüfungsantrags somit als offenbar aussichtslos und - im Hinblick auf die einschlägige hg. Vorjudikatur - geradezu mutwillig erscheint, war sein Verfahrenshilfeantrag abzuweisen (§63 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG).

III.              Dies konnte ohne vorangegangene mündliche Verhandlung und ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs3 Z2 lita und e VfGG, §72 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG).

Schlagworte

Bescheidbegriff, Gerichtsakt, Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Invalidität, VfGH / Verfahrenshilfe, VfGH / Zuständigkeit, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B1437.2002

Zuletzt aktualisiert am

26.02.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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