TE Vwgh Erkenntnis 2007/4/17 2006/19/0851

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Veröffentlicht am 17.04.2007
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Index

E3R E19103000;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 1997 §24b Abs1;
AsylG 1997 §32 Abs1;
AsylG 1997 §32a Abs1;
AsylG 1997 §5;
AsylG 1997 §5a;
AVG §52;
VwGG §42 Abs2 Z1;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2006/19/0852 2006/19/0853 2006/19/0854

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden 1.) des A B, 2.) der Z B, 3.) des I B, und 4.) der D B, alle vertreten durch Dr. Gregor Schett, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottenring 12, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom 22. November 2005, Zlen. 263.105/0- XI/34/05 (ad 1.), 263.104/0-XI/34/05 (ad 2.), 263.102/0-XI/34/05 (ad 3.) und vom 29. November 2005, Zl. 263.347/0-XI/34/05 (ad 4.), alle betreffend §§ 5, 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 991, 20, zusammen somit EUR 3.964, 80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführer sind Mitglieder einer Familie (der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten, der Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin ihre gemeinsamen Kinder) und Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit aus Dagestan.

Der Erstbeschwerdeführer, die Zweit- und der Drittbeschwerdeführer reisten am 15. Juni 2005 mit gültigen tschechischen Visa in das Bundesgebiet ein und brachten am selben Tag Asylanträge ein. Am 26. Juli 2005 wurde die Viertbeschwerdeführerin geboren, für die am 3. August 2005 ebenfalls um Asyl angesucht wurde.

Mit Bescheiden vom 20. Juli 2005 und 17. August 2005 wies das Bundesasylamt die Asylanträge der Beschwerdeführer - nach Konsultationen mit den zuständigen tschechischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung der Asylanträge sei "gemäß Artikel 9 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) die Tschechische Republik zuständig, und wies die Beschwerdeführer gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Tschechische Republik aus.

In den gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen behaupteten die Beschwerdeführer, aufgrund der fluchtauslösenden Ereignisse traumatisiert zu sein. In Ergänzung dazu legten sie im Verfahren des Drittbeschwerdeführers mit Schreiben vom 22. August 2005 einen ärztlichen Befund vom 9. August 2005 des Evangelischen Hilfswerks, Beratungsstelle AMBER, vor, in dem es wie folgt hieß (Anonymisierung durch den Verwaltungsgerichtshof):

"Wir haben heute in unserer Ordination das Kind B. I., geb. 09.11.2002 mit seinen Eltern empfangen. ... Von dem Brief, den sie mitgebracht haben, bekommen wir die Information, dass das Kind nicht gut schlafen kann und weint bis zur Ohnmacht. Der Vater erzählt auch, dass das Kind Fieberepisoden und Nasenbluten seit einem Jahr hat. Weitere Information ist, dass das Kind untergewichtig ist. Wir haben das Kind hier untersucht ... Meiner Meinung nach ist das Kind im letzten Jahr nicht richtig gewachsen. Wir werden das Kind zur Elternberatung zur weiteren Betreuung und Abklärung überweisen. ...

Dr. J.M. O., gez. Diakonie, Ordination AMBER, Ärztliche Leitung Dr. H. D.-R."

Angeschlossen war ein Formblatt der Diakonie, Ordination AMBER, in dem die "Aktuelle Diagnose: Psychotrauma - traumatische Erlebnisse" angeführt bzw. eine Überweisung an einen Neurologen empfohlen wurde.

Bezogen auf diese Unterlagen brachten die Beschwerdeführer vor, es sei darin eine Traumatisierung des Drittbeschwerdeführers festgestellt und weitere schwere gesundheitliche Probleme attestiert worden.

Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen der Beschwerdeführer ohne weitere Ermittlungen "gemäß § 5 Abs. 1 AsylG" ab. Sie ging zunächst - von den Beschwerden insoweit unbestritten - davon aus, dass für die Prüfung der Asylanträge nach den Kriterien der Dublin-Verordnung die Tschechische Republik zuständig wäre. Zur Frage der Traumatisierung des Drittbeschwerdeführers führte die belangte Behörde in dem ihn betreffenden Bescheid wörtlich aus (Anonymisierung durch den Verwaltungsgerichtshof):

"Zum Vorbringen, dass der ...(Drittbeschwerdeführer( traumatisiert sei und auch an anderen schweren gesundheitlichen Problemen - wie in einer ärztlichen Bestätigung des Dr. J.O., Ordination Amber, vom 09.08.2005 festgehalten wird - leide, ist Folgendes festzustellen: Die Einbringung dieses Privatgutachtens im Berufungsverfahren ist als verspätet anzusehen, da dies bzw. zumindest ein Hinweis auf psychische Probleme oder eine Traumatisierung ... gemäß § 24b Abs. 1 AsylG bereits im Zulassungsverfahren geschehen hätte müssen. Dies ist im Zuge des Zulassungsverfahrens jedoch nicht geschehen.

Zudem ist die gegenständliche, ärztliche Bestätigung durch Dr. J. O. ... aus Sicht der erkennenden Behörde dergestalt, dass sie keinesfalls ungeprüft einer wie immer gearteten Entscheidung zugrunde gelegt werden kann. Gegenstand der für das Verfahren relevanten Sach- und Rechtsfrage ist nämlich, ob der Asylwerber durch Geschehnisse in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, was angesichts der Kürze des vorliegenden Arztbriefes keinesfalls abzuleiten ist. Die diesbezügliche ärztliche Bestätigung vom 09.08.2005 vermag daher den Anforderungen des im AVG vorgesehenen Sachverständigenbeweises (§ 52 AVG) keinesfalls Genüge zu tun.

Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass das vorliegende

Arztschreiben ... nicht einmal ansatzweise ausreichend ist, um

einer nachprüfenden Kontrolle zugänglich zu sein. ... Dem

vorliegenden Arztschreiben ist jedoch überhaupt nicht ableitbar, aufgrund welcher Überlegungen der Arzt zum Ergebnis gekommen ist, dass der ...(Drittbeschwerdeführer( traumatisiert sei und auch an anderen schweren gesundheitlichen Problemen leide. Auf Grund dieser nicht ausreichenden ärztlichen Stellungnahme kann aus dieser das Vorliegen der in § 24b Abs. 1 1. Satz AsylG umschriebenen Voraussetzungen nicht schlüssig abgeleitet werden.

Da sohin im Falle einer Rückschiebung in die Tschechische Republik keine Verletzung des Art. 3 EMRK droht, besteht keine Veranlassung ..., von dem in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) des Rates Nr. 343/2003 vom 18.02.2003 ... vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen."

Dagegen richten sich die vorliegenden, wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde wendet sich gegen die Auffassung der belangten Behörde, die Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG (und damit für die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung durch Österreich) seien hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers nicht gegeben. Damit zeigt sie eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide auf.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Erkenntnissen vom heutigen Tag, auf deren Begründungen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, zur Auslegung des § 24b Abs. 1 AsylG Stellung genommen, (zur Interpretation der Vorschrift im Allgemeinen vgl. die hg. Erkenntnisse Zlen. 2006/19/0919 und 2006/19/0442; zur Beachtlichkeit von Neuerungen im Zusammenhang mit einer behaupteten Traumatisierung unter dem Blickwinkel des § 32 Abs. 1 AsylG einerseits sowie der Wendung "in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren" in § 24b Abs. 1 AsylG andererseits vgl. das hg. Erkenntnis Zl. 2006/19/0675; zur unzutreffenden Rechtsauffassung, das Verfahren vor der belangten Behörde über die Berufung gegen einen zurückweisenden erstinstanzlichen Bescheid sei kein Teil des Zulassungsverfahrens vgl. das hg. Erkenntnis Zlen. 2006/19/0163 bis 0166).

Demnach unterlag die belangte Behörde einem Rechtsirrtum, wenn sie das im Berufungsverfahren vorgelegte ärztliche Schreiben vom 9. August 2005 als "verspätet" bezeichnete und es deshalb unberücksichtigt lassen wollte. Auch ihre - implizit zum Ausdruck gebrachte - Rechtsansicht, der Drittbeschwerdeführer müsse, um die Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG zu erfüllen, ein die Traumatisierung bestätigendes Sachverständigengutachten vorlegen, das einer Entscheidung ohne weitere Prüfung zugrundegelegt werden könne, findet im Gesetz keine Deckung.

Aufgrund dessen hat es die belangte Behörde zu Unrecht unterlassen, den im vorgelegten ärztlichen Schreiben vom 9. August 2005 attestierten Tatsachen, die für eine Traumatisierung des Drittbeschwerdeführers durch die fluchtauslösenden Ereignisse sprechen sollen, Beachtung zu schenken. Wenn der belangten Behörde - wie die Begründung ihrer Entscheidung erkennen lässt - dieser Beleg nicht ausreichend erschien, um entsprechende Feststellungen zu treffen, so wäre sie gehalten gewesen, die vorgelegten Beweismittel einer näheren Überprüfung (etwa durch Beiziehung eines Sachverständigen) zu unterziehen, um so in die Lage versetzt zu werden, (allenfalls auch Negativ-) Feststellungen über das Vorliegen von Tatsachen, die für eine Traumatisierung im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG sprechen könnten, zu treffen. Da sie Derartiges unterließ, kann der den Drittbeschwerdeführer betreffende angefochtene Bescheid keinen Bestand haben.

Dieser Umstand schlägt gemäß § 10 Abs. 5 AsylG auch auf die Verfahren der Familienangehörigen des Drittbeschwerdeführers (also die übrigen Beschwerdeführer) durch.

Die angefochtenen Bescheide waren deshalb wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 17. April 2007

Schlagworte

Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006190851.X00

Im RIS seit

24.05.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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