Index
E3R E19103000;Norm
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des A, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof, Mag. Wilfried Embacher, Mag. Dr. Roland Kier und Univ.- Prof. Dr. Richard Soyer, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Kärntner Ring 6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 6. Dezember 2005, Zl. 263.698/0-XII/37/05, betreffend §§ 5, 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste im Juni 2005 in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und beantragte am 14. Juni 2005 in Lublin (Polen) Asyl. Im Folgenden gelangte er Ende Juli 2005 in das Bundesgebiet und brachte am 31. Juli 2005 einen (weiteren) Asylantrag ein.
Mit Bescheid vom 23. August 2005 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück, stellte fest, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit d der "Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig sei, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung und ergänzte diese mit Schriftsatz vom 21. November 2005. Darin brachte er unter anderem vor, aufgrund der Verhältnisse in Tschetschenien traumatisiert zu sein. Die gegenteilige Ansicht des Bundesasylamtes beruhe auf dem Untersuchungsbericht eines Arztes vom 11. August 2005, der nicht nachvollziehbar sei.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung "gemäß §§ 5 und 5a AsylG" ab. Der Beschwerdeführer habe - so die zusammengefasste Begründung dieser Entscheidung - vor seiner Einreise nach Österreich in Polen bereits um Asyl angesucht. Die zuständige polnische Behörde habe sich zur Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäß Art. 16 Abs. 1 lit d Dublin-Verordnung bereit erklärt. Es lägen keine medizinisch belegbaren Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigten, dass der Beschwerdeführer Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse in Zusammenhang mit dem fluchtauslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte. Auch verstoße Österreich - bei Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen - aus näher dargestellten Gründen nicht gegen Art. 3 EMRK, weshalb nicht angenommen werden könne, dass Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.
Zur Frage der Traumatisierung des Beschwerdeführers führte die belangte Behörde im Einzelnen aus, sie stütze ihre Feststellung auf eine vom Bundesasylamt eingeholte ärztliche Befundaufnahme. Die untersuchende Ärztin habe ihre Einschätzung, wonach beim Beschwerdeführer keine krankheitswerte psychische Störung vorliege, schlüssig damit begründet, dass der Beschwerdeführer unter anderem orientiert und sein Bewusstsein klar gewesen sei; er habe keine "Denk-, Wahrnehmungs- oder Ichstörung" aufgewiesen und keine "Intrusionen" oder belastende Albträume geschildert. Er habe auch keine "frei flottierende Angst" und es bestünde kein Hinweis auf "Vermeidung oder Dissoziation". Da das Untersuchungsergebnis schlüssig begründet sei, sei es nicht erforderlich, ein ergänzendes Gutachten einzuholen. Der Beschwerdeführer habe auch keine Beweismittel vorgelegt, die auf eine Traumatisierung hindeuten könnten.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde wendet sich unter anderem gegen die Auffassung der Asylbehörden, die Voraussetzungen für die Annahme einer Traumatisierung im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG lägen in seinem Fall nicht vor.
§ 24 b Abs. 1 AsylG (in der hier maßgeblichen Fassung der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101) lautet:
"Ergeben sich in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren (§ 24a) medizinisch belegbare Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, ist das Verfahren zuzulassen und der Asylwerber kann einer Betreuungseinrichtung zugewiesen werden. In dieser und im weiteren Verlauf des Asylverfahrens ist auf die besonderen Bedürfnisse des Asylwerbers Bedacht zu nehmen."
Zur Auslegung dieser Gesetzesstelle hat der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Erkenntnissen vom heutigen Tag, auf deren Begründungen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, Stellung genommen (zur Interpretation der Vorschrift im Allgemeinen vgl. die hg. Erkenntnisse Zlen. 2006/19/0919 und 2006/19/0442; zur Beachtlichkeit von Neuerungen im Zusammenhang mit einer behaupteten Traumatisierung unter dem Blickwinkel des § 32 Abs. 1 AsylG einerseits sowie der Wendung "in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren" in § 24b Abs. 1 AsylG andererseits vgl. das hg. Erkenntnis Zl. 2006/19/0675; zur unzutreffenden Rechtsauffassung, das Verfahren vor der belangten Behörde über die Berufung gegen einen zurückweisenden erstinstanzlichen Bescheid sei kein Teil des Zulassungsverfahrens vgl. das hg. Erkenntnis Zlen. 2006/19/0163 bis 0166).
Im gegenständlichen Fall hat der Beschwerdeführer bei seinen erstinstanzlichen Einvernahmen am 3. und 16. August 2005 eine Traumatisierung seiner Person nicht ausdrücklich behauptet. Er hat jedoch über Aufforderung, die fluchtauslösenden Ereignisse "in ca. 5 Sätzen" zu schildern, erklärt, "ein paar Freunde, welche als Untergrundkämpfer tätig" gewesen seien, mit Lebensmitteln versorgt zu haben. Deshalb hätten "die Russen" ihn "gezielt verfolgt" und gesucht. Es sei ihm jedoch gelungen, immer rechtzeitig zu fliehen.
Der Beschwerdeführer wurde überdies im Auftrag des Bundesasylamtes am 11. August 2005 von Dr. Ilse Hruby, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, untersucht. Im aktenkundigen Bericht der Ärztin über diese Untersuchung im Zulassungsverfahren heißt es unter anderem wörtlich:
"... Eigenangaben-Anamnese:
... Derzeitige subjektive Beschwerden: Einschlafstörungen, er
könne erst gegen Morgen einschlafen, er sei aber von zu Hause gewohnt, so zu schlafen. Er hätte Nieren- und Rückenschmerzen, seit ca. 2 Jahren ein schlechtes Gedächtnis, im Nacken einen Druck. Träume, dass sie ihn abholen.
Psychopath./psychotraumatologischer Status: AW orientiert, Ductus kohärent, Bewusstsein klar, keine Denk- Wahrnehmungs- oder Ichstörungen, Affekt unauff, AW in beiden Skalenbereichen affizierbar, Stimmung euthym, Antrieb normal, keine Intrusionen, keine belastenden Albträume, keine frei flottierende Angst, kein Hyperarousal, kein HW auf Vermeidung oder Dissoziation. ...
...Schlussfolgerungen:
Liegt aus aktueller Sicht eine krankheitswerte psychische
Störung vor?
Nein"
Die belangte Behörde stützte ihre Entscheidung zur Frage der Traumatisierung auf diesen ärztlichen Bericht, der ihr schlüssig begründet erschien. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Anamnese der Ärztin, der Beschwerdeführer habe "keine belastenden Albträume", in einem unaufgeklärten Widerspruch zu den unmittelbar davor festgehaltenen Angaben des Beschwerdeführers steht, er träume, "dass sie ihn abholen" (womit offenbar ein Bezug zu den vom Beschwerdeführer ausgesagten Verfolgungshandlungen "der Russen" hergestellt wurde). Eine nachvollziehbare Erklärung, warum diese Eigenangaben nicht als belastende Albträume anzusehen sind, enthält der ärztliche Bericht nicht. Schon diese Ungereimtheit steht aber der Annahme der belangten Behörde, ihr habe ein schlüssiger ärztlicher Befund zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG vorgelegen, entgegen. Das erstinstanzliche Verfahren litt somit an einem (relevanten) Verfahrensmangel, der von der belangten Behörde auch im Berufungsverfahren nicht behoben wurde.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl II Nr. 333.
Wien, am 17. April 2007
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2006190011.X00Im RIS seit
24.05.2007