TE OGH 2004/2/10 10ObS258/03v

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Veröffentlicht am 10.02.2004
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Peter Ammer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gottfried Winkler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ljiljana B*****, vertreten durch DDr. Jörg Zehetner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Witwenpension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. August 2003, GZ 7 Rs 121/03w-125, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 21. November 2001, GZ 11 Cgs 168/96t-110, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden als nichtig aufgehoben; die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit Beschluss vom 20. 4. 1999 (ON 66) hat das Erstgericht der Klägerin die Verfahrenshilfe bewilligt und im Bewilligungsbeschluss entgegen § 64 Abs 1 ZPO ("für einen bestimmten Rechtsstreit") ausgesprochen, dass die Beigebung des Rechtsanwalts "für das Berufungsverfahren" gelte. Mit Beschluss vom 28. 7. 1999 (ON 71) hat das Berufungsgericht der Berufung der Klägerin Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückgewiesen. Zu den folgenden Tagsatzungen zur mündlichen Streitverhandlung vor dem Erstgericht wurde nicht der seinerzeit für die Klägerin bestellte Verfahrenshelfer geladen, sondern (nur) die Klägerin persönlich, die aber jeweils nicht erschienen ist (ON 80, 83, 103 und 108).Mit Beschluss vom 20. 4. 1999 (ON 66) hat das Erstgericht der Klägerin die Verfahrenshilfe bewilligt und im Bewilligungsbeschluss entgegen Paragraph 64, Absatz eins, ZPO ("für einen bestimmten Rechtsstreit") ausgesprochen, dass die Beigebung des Rechtsanwalts "für das Berufungsverfahren" gelte. Mit Beschluss vom 28. 7. 1999 (ON 71) hat das Berufungsgericht der Berufung der Klägerin Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückgewiesen. Zu den folgenden Tagsatzungen zur mündlichen Streitverhandlung vor dem Erstgericht wurde nicht der seinerzeit für die Klägerin bestellte Verfahrenshelfer geladen, sondern (nur) die Klägerin persönlich, die aber jeweils nicht erschienen ist (ON 80, 83, 103 und 108).

In der Tagsatzung vom 21. 11. 2001 (ON 108) wurde nach Erörterung der Gutachten von drei Sachverständigen die Verhandlung geschlossen. Im Protokoll ist vermerkt, dass die Klägerin nicht erschienen sei und dass die Zustellung der Ladung an sie nicht ausgewiesen sei. Die Zustellung der Ladung war erfolglos an einer über das Zentralmeldeamt der Bundespolizeidirektion Wien erhobenen Adresse im 16. Wiener Gemeindebezirk, die nicht mit der zuletzt bekannten Adresse der Klägerin (im 18. Wiener Gemeindebezirk) übereinstimmte, versucht worden. Der RSb-Brief langte mit dem Vermerk "unbekannt" zurück, worauf das Erstgericht die Hinterlegung ohne Zustellversuch verfügte, die am 20. 11. 2001 durchgeführt wurde (ON 106 - 107). Ein zuvor erfolgloser Zustellversuch an der früher bekannten Adresse im 18. Wiener Gemeindebezirk ist aus dem Akt nicht ersichtlich (siehe ON 87).

In der Tagsatzung vom 31. 10. 2001 (ON 103) hatte das Erstgericht festgehalten, dass die Ladung an die Adresse im 16. Wiener Gemeindebezirk und nicht - wie zuvor - an die Adresse im 18. Wiener Gemeindebezirk zugestellt worden sei. Anschließend an das Protokoll über die Streitverhandlung findet sich folgender Aktenvermerk: "Kzlei teilte nach der Vh. v. 31. X. 01 mit, dass die Klägerin die Adresse <oben> persönlich bekanntgegeben hätte; AV findet sich darüber nicht." Die Adresse <oben> ist diejenige im 16. Wiener Gemeindebezirk.In der Tagsatzung vom 31. 10. 2001 (ON 103) hatte das Erstgericht festgehalten, dass die Ladung an die Adresse im 16. Wiener Gemeindebezirk und nicht - wie zuvor - an die Adresse im 18. Wiener Gemeindebezirk zugestellt worden sei. Anschließend an das Protokoll über die Streitverhandlung findet sich folgender Aktenvermerk: "Kzlei teilte nach der römisch fünf h. v. 31. römisch zehn. 01 mit, dass die Klägerin die Adresse <oben> persönlich bekanntgegeben hätte; AV findet sich darüber nicht." Die Adresse <oben> ist diejenige im 16. Wiener Gemeindebezirk.

Anzumerken ist, dass die Klägerin in weiterer Folge am 15. 1. 2003 (ON 113) dem Gericht bestätigt hat, "früher" an dieser Adresse im 16. Wiener Gemeindebezirk aufhältig gewesen zu sein; häufig lebe sie aber in Jugoslawien.

Mit Urteil vom 21. 11. 2001 hat das Erstgericht das auf Weitergewährung der Witwenpension gerichtete Klagebegehren abgewiesen (ON 110). Mit Beschluss vom 11. 4. 2003 hat das Erstgericht der Klägerin neuerlich die Verfahrenshilfe bewilligt und ausgesprochen, dass die Beigebung eines Rechtsanwalts "für das Rechtsmittelverfahren" gilt.

Die Klägerin hat durch den für sie bestellten Verfahrenshelfer Berufung aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhoben (ON 121), der das Berufungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 29. 8. 2003 (ON 125) nicht Folge gab. Das Berufungsgericht verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und sah die Rechtsrüge als nicht berechtigt an. Die ordentliche Revision ließ es mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zu.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der Nichtigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen unvollständiger Sachverhaltsfeststellung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf ersatzlose Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Streitsache an die erste Instanz.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision, in der die Klägerin unter anderem ausführt, dass sie aufgrund eines Zustellmangels nicht an der mündlichen Streitverhandlung vom 21. 11. 2001 teilnehmen konnte, ist berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat in jahrelanger Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass Nichtigkeiten, die im erstinstanzlichen Verfahren unterlaufen sind, im Revisionsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden können (RIS-Justiz RS0042925). Dieser Grundsatz wurde in der Entscheidung eines verstärkten Senats vom 17. 10. 1995 (1 Ob 612/95 = SZ 68/195) auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen der erstinstanzliche Nichtigkeitsgrund schon vom Gericht zweiter Instanz - nach entsprechender Rüge in der Berufung oder von Amts wegen wahrgenommen - verneint wurde. Hat das Berufungsgericht dagegen den nichtigkeitsbegründenden Umstand auch nicht von Amts wegen aufgegriffen und liegt auch keine andere, die Nichtigkeit bindend verneinende Entscheidung der ersten und zweiten Instanz vor, kann diese Nichtigkeit auch erst in der Revision mit Erfolg geltend gemacht werden bzw muss sonst von Amts wegen berücksichtigt werden (RIS-Justiz RS0042925 [T5] und [T7]).

Die Ladung der Klägerin zur Streitverhandlung vom 21. 10. 2001, zu der sie nicht erschienen ist, war durch Hinterlegung ohne Zustellversuch vorgenommen worden. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Säumigkeit Folge einer nicht gehörigen Ladung an die Klägerin persönlich war. Der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO ist dadurch verwirklicht, dass die Zustellung der Ladung nicht an den aufgrund des Beschlusses vom 20. 4. 1999 bestellten Verfahrenshelfers erfolgte. Die Bewilligung der Verfahrenshilfe wirkt für den ganzen Rechtsstreit, in dem sie beantragt wurde (RIS-Justiz RS0036177; 8 Ob 555/91 = AnwBl 1993, 512); sie kann daher nicht auf bestimmte Prozesshandlungen oder Prozessabschnitte beschränkt werden. Der zur Verfahrenshilfe beigegebene Rechtsanwalt ist formell nach außen in gleicher Weise berechtigt wie ein frei gewählter Prozessvertreter, sieht man von den in § 64 Abs 1 Z 3 ZPO genannten, hier nicht relevanten Verfügungen über den Streitgegenstand ab (M. Bydlinski in Fasching2 II/1 § 64 Rz 18 f). Zustellungen haben daher entsprechend an den als Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt zu erfolgen (Stumvoll in Fasching2 II/2 § 93 Rz 3). Da dies im vorliegenden Fall nicht geschehen ist, war der Klägerin durch einen ungesetzlichen Vorgang die Möglichkeit entzogen, ab der aufhebenden Entscheidung des Berufungsgerichts vom 28. 7. 1999 (ON 71) vor Gericht zu verhandeln, insbesondere in der Streitverhandlung vom 21. 10. 2001, in der Sachverständigengutachten erörtert und schließlich die Verhandlung geschlossen wurde. Das erstinstanzliche Verfahren leidet daher an einer Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO.Die Ladung der Klägerin zur Streitverhandlung vom 21. 10. 2001, zu der sie nicht erschienen ist, war durch Hinterlegung ohne Zustellversuch vorgenommen worden. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Säumigkeit Folge einer nicht gehörigen Ladung an die Klägerin persönlich war. Der Nichtigkeitsgrund des Paragraph 477, Absatz eins, Ziffer 4, ZPO ist dadurch verwirklicht, dass die Zustellung der Ladung nicht an den aufgrund des Beschlusses vom 20. 4. 1999 bestellten Verfahrenshelfers erfolgte. Die Bewilligung der Verfahrenshilfe wirkt für den ganzen Rechtsstreit, in dem sie beantragt wurde (RIS-Justiz RS0036177; 8 Ob 555/91 = AnwBl 1993, 512); sie kann daher nicht auf bestimmte Prozesshandlungen oder Prozessabschnitte beschränkt werden. Der zur Verfahrenshilfe beigegebene Rechtsanwalt ist formell nach außen in gleicher Weise berechtigt wie ein frei gewählter Prozessvertreter, sieht man von den in Paragraph 64, Absatz eins, Ziffer 3, ZPO genannten, hier nicht relevanten Verfügungen über den Streitgegenstand ab (M. Bydlinski in Fasching2 II/1 Paragraph 64, Rz 18 f). Zustellungen haben daher entsprechend an den als Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt zu erfolgen (Stumvoll in Fasching2 II/2 Paragraph 93, Rz 3). Da dies im vorliegenden Fall nicht geschehen ist, war der Klägerin durch einen ungesetzlichen Vorgang die Möglichkeit entzogen, ab der aufhebenden Entscheidung des Berufungsgerichts vom 28. 7. 1999 (ON 71) vor Gericht zu verhandeln, insbesondere in der Streitverhandlung vom 21. 10. 2001, in der Sachverständigengutachten erörtert und schließlich die Verhandlung geschlossen wurde. Das erstinstanzliche Verfahren leidet daher an einer Nichtigkeit nach Paragraph 477, Absatz eins, Ziffer 4, ZPO.

Diese aktenkundige Nichtigkeit wäre bereits vom Gericht zweiter Instanz aufzugreifen gewesen. Da das Gericht zweiter Instanz diesen Nichtigkeitsgrund aber auch nicht verneint hat, ist vom Obersten Gerichtshof darauf Bedacht zu nehmen. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aus dem angeführten Grund als nichtig aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.Der Kostenvorbehalt beruht auf Paragraph 52, Absatz eins, ZPO.

Textnummer

E72540

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2004:010OBS00258.03V.0210.000

Im RIS seit

11.03.2004

Zuletzt aktualisiert am

07.02.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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