TE Vfgh Erkenntnis 2002/11/25 B1083/02

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Veröffentlicht am 25.11.2002
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
ASVG §347 Abs5

Leitsatz

Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf eine mündliche Verhandlung vor einem unparteiischen Tribunal durch Unterlassung der Durchführung einer (volks)öffentlichen Verhandlung im Verfahren vor der Landesberufungskommission unter Hinweis auf die Vorjudikatur

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor einem Gericht iS des Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 1.962,-- bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Vorgeschichte dieses Beschwerdefalls ergibt sich aus dem hg. Erkenntnis VfGH 27. November 2000, B721/99 (= VfSlg. 15.981/2000), mit welchem der Bescheid der Landesberufungskommission für Niederösterreich vom 25. November 1998, Z LBK-NÖ 1/98, 4/98 und 5/98, wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem - aus Art6 Abs1 EMRK erfließenden - verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor einem unparteiischen Gericht iS des Art6 Abs1 EMRK aufgehoben worden ist.

2. Mit Bescheid vom 19. September 2001 wies die Landesberufungskommission für Niederösterreich - nach Durchführung einer mündlichen, nichtöffentlichen Verhandlung - das Begehren des Beschwerdeführers, die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse zu verpflichten, ihm € 1.900,31 (3. Vierteljahr 1997), € 1.944,57 (4. Vierteljahr 1997), € 1.184,81 (1. Vierteljahr 1998) sowie € 1.098,63 (2. Vierteljahr 1998), jeweils samt 7 vH Zinsen, an von ihm verrechnetem, ihm jedoch nicht ausbezahltem Vertragsarzthonorar zu leisten, (von neuem) als unbegründet ab.

Begründend wird dazu im wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe der Gebietskrankenkasse sog. außervertragliche, dh. im einschlägigen (Ärzte für Allgemeinmedizin betreffenden) Teil der Honorarordnung nicht angeführte Leistungen verrechnet, die jedoch ohne chefärztliche Bewilligung und ohne Vorliegen eines medizinischen Notfalles erbracht worden seien. Ein Vergütungsanspruch sei insoweit somit nicht gegeben, weshalb die Gebietskrankenkasse die vom Beschwerdeführer verrechneten Beträge zu Recht nicht ausbezahlt habe.

3. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gem. Art144 B-VG, worin die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art6 Abs1 EMRK, Art7 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die bezughabenden Verwaltungsakten vorgelegt, jedoch keine Gegenschrift erstattet. Die dem Verfahren als beteiligte Partei beigezogene Gebietskrankenkasse hat eine schriftliche Äußerung zum Gegenstand erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die im vorliegenden Fall maßgebende Rechtslage stellt sich dar wie folgt:

1.1. Die einschlägigen Vorschriften des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955 idgF, lauten auszugsweise wie folgt:

"Gesamtverträge

§341. (1) Die Beziehungen zwischen den Trägern der Krankenversicherung und den freiberuflich tätigen Ärzten werden durch Gesamtverträge geregelt, die für die Träger der Krankenversicherung durch den Hauptverband mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind. [...]

(2) (aufgehoben)

(3) Der Inhalt des Gesamtvertrages ist auch Inhalt des zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt abzuschließenden Einzelvertrages. Vereinbarungen zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt im Einzelvertrag sind rechtsunwirksam, insoweit sie gegen den Inhalt eines für den Niederlassungsort des Arztes geltenden Gesamtvertrages verstoßen.

(4) ...

Inhalt der Gesamtverträge

§342. (1) Die zwischen dem Hauptverband und den Ärztekammern abzuschließenden Gesamtverträge haben nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen insbesondere folgende Gegenstände zu regeln:

...

3. die Rechte und Pflichten der Vertragsärzte, insbesondere auch ihre Ansprüche auf Vergütung der ärztlichen Leistung

...

(2) Die Vergütung der vertragsärztlichen Tätigkeit ist grundsätzlich nach Einzelleistungen zu vereinbaren. Die Vereinbarungen über die Vergütung der ärztlichen Leistungen sind in Honorarordnungen zusammenzufassen; diese bilden einen Bestandteil der Gesamtverträge. Die Gesamtverträge sollen eine Begrenzung der Ausgaben der Träger der Krankenversicherung für die vertragsärztliche Tätigkeit (einschließlich der Rückvergütungen bei Inanspruchnahme der wahlärztlichen Hilfe [§131]) enthalten.

...

Paritätische Schiedskommission

§344. (1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Antragsberechtigt im Verfahren vor dieser Behörde sind die Parteien des Einzelvertrages.

(2) ...

(3) Die paritätische Schiedskommission ist verpflichtet, über einen Antrag ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach dessen Einlangen, mit Bescheid zu entscheiden. Wird der Bescheid dem Antragsteller innerhalb dieser Frist nicht zugestellt oder wird dem Antragsteller schriftlich mitgeteilt, daß wegen Stimmengleichheit keine Entscheidung zustande kommt, geht auf schriftliches Verlangen einer der Parteien die Zuständigkeit zur Entscheidung an die Landesberufungskommission über. Ein solches Verlangen ist unmittelbar bei der Landesberufungskommission einzubringen. Das Verlangen ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf Stimmengleichheit oder nicht ausschließlich auf ein Verschulden der Behörde (§73 AVG 1950) zurückzuführen ist.

(4) Gegen einen Bescheid der paritätischen Schiedskommission kann Berufung an die Landesberufungskommission erhoben werden.

Landesberufungskommission

§345. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesberufungskommission zu errichten. Diese besteht aus einem Richter des Dienststandes als Vorsitzendem und aus vier Beisitzern. Der Vorsitzende ist vom Bundesminister für Justiz zu bestellen; der Vorsitzende muß ein Richter sein, der im Zeitpunkt seiner Bestellung bei einem Gerichtshof in Arbeits- und Sozialrechtssachen tätig ist. Je zwei Beisitzer werden von der zuständigen Ärztekammer und dem Hauptverband entsendet.

(2) Die Landesberufungskommission ist zuständig:

1. zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide der paritätischen Schiedskommission und

2. zur Entscheidung auf Grund von Devolutionsanträgen gemäß §344 Abs3.

...

(3) §346 Abs3 bis 7 gelten sinngemäß auch für die Landesberufungskommission und deren Mitglieder.

...

Bundesschiedskommission

§346. (1)-(5) ...

(6) Die Mitglieder der Bundesschiedskommission sind in Ausübung ihres Amtes unabhängig und an keine Weisungen gebunden.

(7) Entscheidungen der Bundesschiedskommission unterliegen weder der Aufhebung noch der Abänderung im Verwaltungswege.

Allgemeine Bestimmungen über die Kommissionen

§347. (1)-(3) ...

(4) Die in den §§344, 345, 345a und 346 vorgesehenen Kommissionen haben auf das Verfahren das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1950 anzuwenden, sofern dieses Bundesgesetz nichts anderes anordnet. Sie fassen ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit; eine Stimmenthaltung ist nicht zulässig. Im übrigen sind die Geschäftsordnungen dieser Kommissionen vom Bundesministerium für soziale Verwaltung nach Anhörung der Österreichischen Ärztekammer und des Hauptverbandes durch Verordnung zu regeln.

(5) Die Parteien haben das Recht, neben ihren Vertretern auch jeweils drei Vertrauenspersonen an der Verhandlung teilnehmen zu lassen.

(6) Die Verhandlungen der Landesberufungskommission (§345) und der Landesschiedskommission (§345a) sind am Sitz des Landesgerichtes der jeweiligen Landeshauptstadt, im Land Vorarlberg am Sitz des Landesgerichtes Feldkirch, und die Verhandlungen der Bundesschiedskommission (§346) am Sitz des Obersten Gerichtshofes durchzuführen. Im übrigen bleibt §40 Abs1 AVG 1950 unberührt. ...

(7) ..."

1.2. Die ua. auf §347 Abs4 letzter Satz ASVG gestützte Schiedskommissionsverordnung (SchKV) des (damaligen) Bundesministers für Arbeit und Soziales, BGBl. Nr. 128/1991 idgF, bestimmt in ihren - auf das Verfahren vor der Landesberufungskommission sinngemäß anzuwendenden (vgl. §§18 f) - §§8 und 10 über die Verhandlungen der paritätischen Schiedskommission folgendes:

"Mündliche Verhandlung

§8. (1) Die paritätische Schiedskommission hat in der Regel innerhalb von zwei Wochen nach Einlangen der Gegenschrift oder nach Ablauf der für die Erstattung einer Gegenschrift eingeräumten Frist

1. aufgrund der Aktenlage in der Sache selbst zu entscheiden oder

2. zu beschließen, welche Beweise aufzunehmen sind und ob sogleich eine mündliche Verhandlung anzuberaumen ist.

(2) Die Ladungen zur mündlichen Verhandlung sollen spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung zugestellt werden. Die Ladung der Mitglieder der paritätischen Schiedskommission hat den Zusatz zu enthalten, daß im Falle der Verhinderung hievon ehestens die Geschäftsstelle (§5) zu verständigen ist.

(3) Außer dem Vorsitzenden sind auch die anderen Mitglieder der paritätischen Schiedskommission berechtigt, an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen zur Feststellung des Sachverhaltes geeignete Fragen zu stellen. Dieses Recht steht auch den Parteien zu.

...

Leitung und Schluß der Verhandlung (Beratung)

§10. (1) Der Vorsitzende hat die Verhandlung (Beratung) zu leiten.

(2) Nach einer erschöpfenden Erörterung des Sachverhaltes ist die mündliche Verhandlung zu schließen.

(3) Über jede mündliche Verhandlung ist eine Niederschrift zu führen, die vom Vorsitzenden zu unterfertigen ist."

2. Der Beschwerdeführer erhebt ua. den Vorwurf, das von der belangten Behörde durchgeführte Verfahren haben den Erfordernissen des Art6 Abs1 EMRK nicht entsprochen.

2.1. Gemäß Art6 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, "daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat". Das Urteil muß öffentlich verkündet werden, "jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozeßparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang".

2.2.1. Österreich hat zu Art6 EMRK einen Vorbehalt gemäß dem (damaligen) Art64 EMRK (nunmehr Art57 EMRK idF des 11. ZP-EMRK) abgegeben, worin ausgeführt wird,

        "... daß ... die Bestimmungen des Artikels 6 der Konvention

mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in Artikel 90 des

Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 festgelegten

Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in

keiner Weise beeinträchtigt werden ... ".

Art 90 Abs1 B-VG lautet:

"Die Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden Gericht sind mündlich und öffentlich. Ausnahmen bestimmt das Gesetz."

2.2.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den vorhin wiedergegebenen österreichischen Vorbehalt zu Art6 EMRK im Fall Eisenstecken (EGMR 3. Oktober 2000, Z29.477/95, Rz 21 ff = ÖJZ 2001/7) ausdrücklich als ungültig qualifiziert. Der Verfassungsgerichtshof ist dem EGMR in seiner nunmehrigen Qualifikation des österreichischen Vorbehalts gefolgt (s. - zum Verfahren vor den Landes-Grundverkehrskommissionen - die mit dem hg. Erkenntnis vom 13. Dezember 2001, B227/99, beginnende, ständige Judikatur). Dies gilt auch für das Verfahren vor den im Vertragspartnerrecht des ASVG (§§338 ff) vorgesehenen Kollegialbehörden:

2.3.1. Die Ungültigkeit des österreichischen Vorbehalts zu Art6 Abs1 EMRK hat zur Folge, daß in Verwaltungsverfahren, in denen über den "Kernbereich" von civil rights abgesprochen wird, eine (volks)öffentliche Verhandlung vor einem Tribunal durchzuführen ist. Einschränkungen der Öffentlichkeit dürfen hier nur vorgesehen werden, soweit Art6 EMRK dies zuläßt.

2.3.2. Nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofs (zB VfSlg. 13.553/1993, 13.946/1994, 14.901/1997, 15.698/1999, 15.981/2000) gehören Streitigkeiten aus jenem - durch den Abschluß eines Einzelvertrags begründeten, privatrechtlichen (§338 Abs1 ASVG) - Rechtsverhältnis, das zwischen einem Krankenversicherungsträger und einem Vertragsarzt besteht, dem Kernbereich der von Art6 Abs1 EMRK erfaßten "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" ("civil rights and obligations") zu. Derartige Streitigkeiten müssen somit von einer Behörde entschieden werden, die den Kriterien des Art6 Abs1 EMRK in jedem Punkt Rechnung trägt.

Der Verfassungsgerichtshof hat überdies bereits wiederholt ausgesprochen (zB VfSlg. 15.698/1999 mwN), daß die Landesberufungskommissionen jenen Anforderungen, die nach Art6 Abs1 EMRK an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht iS des Art6 Abs1 EMRK gestellt sind, grundsätzlich entsprechen.

2.3.3. Im Verwaltungsverfahren nach dem AVG - das im Verfahren vor der Landesberufungskommission Anwendung findet (s. §347 Abs4 erster Satz ASVG) - kann die Verwaltungsbehörde gem. §39 Abs2 AVG (idF des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 158/1998 [AVG-Novelle 1998]) eine mündliche Verhandlung anordnen. Nähere Vorschriften hiefür finden sich in den §§40 ff AVG.

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem vorhin erwähnten Erkenntnis vom 13. Dezember 2001, B227/99, ausgeführt hat, sieht das AVG die Durchführung (volks-)öffentlicher mündlicher Verhandlungen - sieht man von den §§44e und 67d AVG ab - nicht vor, schließt sie aber auch nicht aus. Auch dem ASVG kann kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, daß (volks-)öffentliche Verhandlungen vor der Landesberufungskommission jedenfalls unzulässig seien. Vor allem zwingt nichts dazu, ein solches Verständnis §347 Abs5 ASVG beizumessen, wonach jede Partei berechtigt ist, drei Vertrauenspersonen an der Verhandlung teilnehmen zu lassen: Diese Vorschrift kann nämlich zwanglos (bloß) auf jene Fälle bezogen werden, in denen die Landesberufungskommission die (Volks-)Öffentlichkeit ausgeschlossen hat. Ein solches Verständnis liegt umso näher, als das AVG selbst hinsichtlich des - an sich (volks-)öffentlich geführten - Verfahrens vor den unabhängigen Verwaltungssenaten Ähnliches vorsieht (vgl. §67e Abs3 AVG). Eine verfassungskonforme Auslegung der maßgebenden Gesetzeslage dahin, daß uch die Landesberufungskommissionen in Handhabung des AVG bzw. des ASVG nach Maßgabe des Art6 Abs1 EMRK volksöffentlich zu verhandeln haben, ist durch den Wortlaut des §347 Abs5 ASVG somit keineswegs ausgeschlossen.

2.4. Im Beschwerdefall ist im Verfahren vor der belangten Behörde unstrittig bloß eine nichtöffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt worden. Nach dem soeben Ausgeführten hatte der Beschwerdeführer jedoch einen Anspruch darauf, daß seine Rechtssache einer (volks-)öffentlichen mündlichen Verhandlung unterzogen wird. Wie sich aus dem Verwaltungsakt ergibt, ist dies vom Beschwerdeführer allerdings nicht beantragt worden. Damit erhebt sich die Frage, ob das Unterbleiben eines entsprechenden Antrags als Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung zu werten ist.

2.4.1. Im Fall Werner (24. November 1997, Z138/1996/757/956, ÖJZ 1998/12) hat der EGMR in einer vergleichbaren Konstellation das Vorliegen eines solchen Verzichtes verneint, weil öffentliche Verhandlungen in Fällen wie dem des damaligen Beschwerdefalls nicht durchgeführt zu werden pflegten und diese Vorgehensweise sowohl dem "Geist des Gesetzes" als auch den einschlägigen Lehrmeinungen entsprochen habe, sodaß dem Beschwerdeführer jenes Verfahrens nicht zur Last gelegt werden könne, keinen - aussichtslosen - Antrag gestellt zu haben (Rz 48). Im Fall Eisenstecken (aaO, Rz 33) wurde diese Auffassung bekräftigt.

2.4.2. Wie der Beschwerdeführer - insoweit unwidersprochen - ausgeführt hat, finden vor der belangten Behörde ausschließlich nichtöffentliche Verhandlungen statt. Da die einschlägige Gesetzeslage, insbesondere §347 Abs5 ASVG, (wenn auch in Verkennung des Gebotes verfassungskonformer Auslegung) so verstanden werden könnte, daß (volks-)öffentliche Verhandlungen nicht durchzuführen sind, ist dem Beschwerdeführer kein Vorwurf daraus zu machen, daß er keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.

2.5. Die belangte Behörde hat somit dadurch, daß sie keine (volks-)öffentliche Verhandlung durchgeführt hat, den Beschwerdeführer in seinem aus Art6 Abs1 EMRK erfließenden Recht auf eine öffentliche Verhandlung verletzt.

Der Bescheid war aus diesem Grund aufzuheben. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen.

3. Der Kostenspruch stützt sich auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.

4. Dies konnte ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte, Verwaltungsverfahren, Ermittlungsverfahren, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B1083.2002

Dokumentnummer

JFT_09978875_02B01083_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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