TE Vwgh Erkenntnis 2007/5/30 2006/19/0433

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Veröffentlicht am 30.05.2007
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §24b Abs1;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2006/19/0434 2006/19/0435 2006/19/0436

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde 1. des R, 2. der A, 3. der T, und 4. der X, alle vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof, Mag. Wilfried Embacher, Mag. Dr. Roland Kier und Univ. Prof. Dr. Richard Soyer, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Kärntner Ring 6, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenats jeweils vom 6. Dezember 2005, Zlen. 265.863/0-V/15/05 (ad 1.), 265.862/0-V/15/05 (ad 2.), 265.865/0-V/15/05 (ad 3.) und 265.864/0-V/15/05 (ad 4.), alle betreffend §§ 5 und 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers und der Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer und den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 991,20, zusammen somit EUR 3.964,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen; sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen reisten im April 2005 in das Gebiet der EU-Mitgliedstaaten ein und stellten am 23. April 2005 in Polen Asylanträge. Die Viertbeschwerdeführerin wurde am 15. Juni 2005 in Polen geboren. Am 1. August 2005 zogen die Beschwerdeführer ihre Asylanträge zurück und reisten nach Aufenthalten in Tschechien und der Slowakei am 9. Oktober 2005 in das Bundesgebiet ein. Sie brachten am folgenden Tag (weitere) Asylanträge ein. Der Erstbeschwerdeführer gab dazu an, er sei zweimal von der Miliz festgenommen und misshandelt worden; man habe ihn der Teilnahme an Terroranschlägen verdächtigt, da sein Bruder beim "tschetschenischen Militär" gewesen sei. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte bei der Ersteinvernahme vor dem Bundesasylamt am 13. Oktober 2005 vor, sie habe, als ihr Mann mitgenommen worden sei, einen Schock gehabt und "fast das Kind verloren" (gemeint war die in Polen geborene Viertbeschwerdeführerin). Eine weitere Befragung zu diesen Angaben fand nicht statt, und zwar auch nicht in der vier Tage später erfolgten Zweiteinvernahme.

Im Rahmen einer am 19. Oktober 2005 erfolgten Untersuchung des Erstbeschwerdeführers, bei der dieser angab, Ende März, Anfang April 2005 zwei- bis dreimal morgens mitgenommen und geschlagen worden zu sein, stellte Dr. Ilse Hruby, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, in ihrem Bericht keine "krankheitswertige psychische Störung" fest. Eine ärztliche Untersuchung der Zweit-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen fand nach der Aktenlage nicht statt.

Mit Bescheiden vom 31. Oktober 2005 wies das Bundesasylamt die Asylanträge der Beschwerdeführer - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung der Asylanträge sei "gemäß Artikel 13 i.V.m. 16(1)(d) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und wies den Beschwerdeführer und die Beschwerdeführerinnen gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus. In der Begründung des die Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Bescheides wurde u.a. ausgeführt, es hätten keine medizinisch belegbaren Tatsachen festgestellt werden können, die die Annahme rechtfertigten, die Zweitbeschwerdeführerin sei durch Geschehnisse in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert.

In den gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen behaupteten der Beschwerdeführer und die Beschwerdeführerinnen, sie seien aufgrund der fluchtauslösenden Ereignisse traumatisiert.

Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführerinnen "gemäß §§ 5 und 5a" AsylG ab. Sie ging zunächst - von der Beschwerde insoweit unbestritten - davon aus, dass für die Prüfung der Asylanträge nach den Kriterien der Dublin-Verordnung Polen zuständig wäre. Zur Frage einer möglichen Traumatisierung der Zweitbeschwerdeführerin führte die belangte Behörde in ihrem Bescheid aus, die Zweitbeschwerdeführerin habe

"während des gesamten Zulassungsverfahrens vor dem Bundesasylamt keinen wie immer gearteten Hinweis auf ein allfälliges Vorliegen einer Traumatisierung getätigt. Weder konnte vor dem Hintergrund eines mangelnden Fluchtvorbringens noch aufgrund ihres Verhaltens seitens der erstinstanzlichen Behörde geschlossen werden, dass die ...(Zweitbeschwerdeführerin( durch Geschehnisse, die in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis stehen, traumatisiert sein könnte. So brachte die ...(Zweitbeschwerdeführerin( in keiner Phase des bisherigen Verfahrensganges auch nur ein einziges konkretes fluchtauslösendes Ereignis vor, welches abstrakt dazu geeignet wäre, das Vorliegen einer Traumatisierung nahezulegen."

Über die gegen alle vier Bescheide gemeinsam erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

1. Die Beschwerde wendet sich gegen die Auffassung der belangten Behörde, die Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG (und damit für die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung durch Österreich) seien hinsichtlich des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführerinnen nicht gegeben. Damit zeigt sie eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide auf.

2. Gemäß § 24b Abs. 1 AsylG ist das Asylverfahren zuzulassen, wenn medizinisch belegbare Tatsachen die Annahme rechtfertigen, der Asylwerber könnte Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein. Daraus folgt, dass zum Zweck der Zulassung des Verfahrens die (durch die fluchtauslösenden Ereignisse bedingte) Traumatisierung nicht feststehen, sondern eine solche nur möglich sein muss. Für die Zulassung des Verfahrens bedarf es freilich der Feststellung von Tatsachen, die für eine Traumatisierung des Asylwerbers sprechen könnten, und die sich medizinisch belegen lassen (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 17. April 2007, Zlen. 2006/19/0442 und 2006/19/0919).

Im Hinblick auf den im Asylverfahren herrschenden Grundsatz der Amtswegigkeit der Ermittlungen (§ 28 AsylG) ist es Aufgabe der Asylbehörden, bei entsprechendem Vorbringen des Asylwerbers oder sonstigen diesbezüglichen Anhaltspunkten diese Zulassungsvoraussetzungen von Amts wegen zu prüfen (vgl.  Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 1997 idF. der

3. Ergänzung, 316 k; zur Methode der Abklärung medizinisch belegbarer Tatsachen vgl. die zitierten hg. Erkenntnisse vom 17. April 2007).

3. Die Zweitbeschwerdeführerin hatte in ihrer Ersteinvernahme vorgebracht: "Als mein Mann mitgenommen wurde, bekam ich einen Schock und habe fast das Kind verloren." Aufgrund dieses Vorbringens ist die Einschätzung der belangten Behörde, die Zweitbeschwerdeführerin habe "während des gesamten Zulassungsverfahrens vor dem Bundesasylamt keinen wie immer gearteten Hinweis auf ein allfälliges Vorliegen einer Traumatisierung getätigt", nicht nachvollziehbar. Die den Asylbehörden durch die Aussage der Zweitbeschwerdeführerin vorliegenden Anhaltspunkte für eine mögliche Traumatisierung (im Zusammenhang mit den die Flucht auslösenden Ereignissen) hätten vielmehr Anlass für weitere Ermittlungen, etwa eine ärztliche Untersuchung, sein müssen. Da das Bundesasylamt derartige Ermittlungen unterließ und dieses Versäumnis von der belangten Behörde - die die zitierte Aussage der Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Bescheid ignorierte - nicht aufgegriffen wurde, kann der die Zweitbeschwerdeführerin betreffende angefochtene Bescheid keinen Bestand haben. Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

4. Dieser Umstand schlägt gemäß § 10 Abs. 5 AsylG auch auf die Verfahren der Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin (also den Erstbeschwerdeführer und die Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen) durch und belastet die ihnen gegenüber erlassenen Bescheide der belangten Behörde aus den im hg. Erkenntnis vom 20. April 2006, Zlen. 2005/01/0556 bis 0560, dargestellten Gründen (auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird) mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Diese Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

5. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 bzw. 4 und 6 VwGG abgesehen werden.

6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 30. Mai 2007

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006190433.X00

Im RIS seit

17.07.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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