Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Eisner, über die Beschwerde des AB in S, geboren 1970, vertreten durch Dr. Ewald Jenewein, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Brixner Straße 2, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 1. Juli 2004, Zl. III 4033-72/03, betreffend Versagung einer Erstniederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (der belangten Behörde) vom 1. Juli 2004 wurde der vom - seinen Angaben zufolge - derzeit staatenlosen Beschwerdeführer am 21. Jänner 2004 gestellte Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 14 Abs. 2 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, abgewiesen.
Der Beschwerdeführer sei am 9. Oktober 2000 rechtswidrig in das Bundesgebiet eingereist. Am 16. Oktober 2000 habe er einen Asylantrag gestellt, der mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 16. April 2002 rechtskräftig abgewiesen worden sei. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Russland sei gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt worden.
Auf Grund des schriftlichen Adoptionsvertrages vom 20. Juni 2002 habe das Bezirksgericht Innsbruck mit Beschluss vom 7. August 2002 bewilligt, dass der Beschwerdeführer als Wahlkind von der Österreicherin Anna B. als Wahlmutter an Kindesstatt angenommen werde. Der Beschwerdeführer habe bei der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck die Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittstaat-Ö, § 49 Abs. 1 FrG" gestellt. Dieser Antrag sei im Hinblick auf § 8 Abs. 4a FrG mit Bescheid der belangten Behörde vom 18. September 2003 rechtskräftig abgewiesen worden.
Am 21. Jänner 2004 habe der Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck (der Erstbehörde) einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen gestellt, weil in seiner früheren Heimat Tschetschenien Krieg herrsche und ihm eine Rückkehr dorthin sowie überhaupt nach Russland nicht zumutbar sei. Er sei von einer österreichischen Staatsbürgerin adoptiert worden und wolle weiterhin bei seiner Adoptivfamilie bleiben. Eine Ausweisung "wäre für alle eine Tragödie".
Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei Gegenstand des Asylverfahrens gewesen. Weitere humanitäre Aspekte seien vom Beschwerdeführer nicht behauptet worden. Auch im Verfahren habe sich kein entsprechender Hinweis ergeben. Das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles aus humanitären Gründen sei zu verneinen. Der im Inland gestellte Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung sei nach dem "Grundsatz der Auslandsantragstellung" (§ 14 Abs. 2 erster Satz FrG) abzuweisen.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Gemäß § 14 Abs. 2 letzter Satz FrG kann der - nach dem ersten Satz dieser Gesetzesstelle grundsätzlich vom Ausland aus zu stellende - Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung im Inland gestellt werden, wenn die Voraussetzungen des § 10 Abs. 4 FrG vorliegen. Kommt die Niederlassungsbehörde zum Ergebnis, dass ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" im Sinn des § 10 Abs. 4 leg. cit. vorliegt, so schließt dies die Abweisung des Antrages auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gemäß § 14 Abs. 2 erster Satz leg. cit. aus. Ist hingegen nach Ansicht der Behörde das Vorliegen eines "besonders berücksichtigungswürdigen Falles" aus humanitären Gründen zu verneinen, dann hat sie den im Inland gestellten Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung nach dem "Grundsatz der Auslandsantragstellung" (§ 14 Abs. 2 erster Satz FrG) abzuweisen.
§ 10 Abs. 4 FrG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab. Weiters liegen "besonders berücksichtigungswürdige Fälle" auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. April 2006, Zl. 2005/18/0022).
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, die belangte Behörde habe sich mit seinem Vorbringen nicht ausreichend auseinander gesetzt, wonach in Tschetschenien seit dem Jahr 2000 ein Partisanenkrieg herrsche, der insbesondere die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehe. Die belangte Behörde hätte das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles aktuell beurteilen müssen und nicht auf eine vier Jahre zurückliegende Entscheidung im Asylverfahren Bezug nehmen dürfen. Sie hätte auf die näher zitierte Rechtsprechung des unabhängigen Bundesasylsenates zur Frage der Gefährdung der Zivilbevölkerung "und insbesondere auch kaukasisch aussehender Tschetschenen in Tschetschenien sowie in Russland allgemein" Bedacht nehmen müssen. Es komme in Tschetschenien zu "ernstzunehmenden Übergriffen gegen die Bevölkerung". Die belangte Behörde habe keine Ermittlungen dahingehend angestellt, "ob sich seit dem rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren die tatsächliche Situation in Russland bzw. Tschetschenien geändert hat, sodass eine Antragstellung im Inland zulässig und nunmehr ein berücksichtigungswürdiger Fall für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gegeben ist". Ein solcher Fall liege vor, "wenn - wie der Beschwerdeführer - eine Person familiäre Bindungen in Österreich eingegangen ist und eine Ausreise aus Österreich nur zum Zweck der Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels diesen in eine besonders gefährliche Situation bringt und er überdies auch in ein Land reisen müsste, in dem ein eklatanter Mangel an medizinischer Versorgung, Medikamenten und Nahrungsmitteln herrscht und die Sicherheit der Zivilbevölkerung überhaupt nicht gewährleistet ist, sodass der Verbleib vieler rückgeführter oder zurückgekehrter Personen nach Tschetschenien nicht mehr geklärt werden konnte".
2.2. Mit rechtskräftigem Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 16. April 2002 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers vom 16. Oktober 2000 gemäß § 7 AsylG abgewiesen und ausgesprochen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Russland gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Damit steht auch für das vorliegende Verfahren auf Erteilung einer humanitären Erstniederlassungsbewilligung fest, dass er in Russland keiner Gefährdung oder Bedrohung im Sinn von § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG ausgesetzt ist, sofern nicht seit der genannten Feststellung in den als maßgeblich erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtliche Relevanz für die Entscheidung über das Vorliegen eines humanitären Grundes in Form einer Gefährdung oder Bedrohung im Sinn von § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG zukommt. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen, an den die für eine neuerliche Entscheidung positive Prognose anknüpfen kann. Im vorliegenden Fall erfordert die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mehrfach betonte Exzeptionalität der Umstände, die vorliegen müssten, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Hinblick auf außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegende Gegebenheiten im Zielstaat im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen zu lassen, eine ganz besonders detaillierte Darstellung der Verhältnisse der betreffenden Person, und zwar sowohl im Zielstaat der Abschiebung als auch in Österreich (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. März 2006, Zl. 2004/18/0035). Das oben wiedergegebene Vorbringen des Beschwerdeführers wird diesen Anforderungen nicht gerecht, weil eine detaillierte Darstellung der Verhältnisse seiner Person insbesondere im Hinblick darauf fehlt, in welchen Staaten er sein bisheriges Leben verbracht hat und inwieweit sich daraus Rückschlüsse auf eine Gefährdung ableiten lassen, ferner welche Staatsbürgerschaft er ursprünglich besessen hat, auf Grund welcher Umstände er seine bisherige Staatsbürgerschaft verloren hat und weshalb er keine andere Staatsbürgerschaft (in Frage käme vorliegend die russische Staatsangehörigkeit) habe erwerben können. Daher ist auch nicht nachvollziehbar, wieso der Beschwerdeführer jetzt nicht bloß in Tschetschenien, sondern in ganz Russland (wohin der unabhängige Bundesasylsenat seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt hat) einer Gefährdung oder Bedrohung im Sinn von § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG ausgesetzt sein will. Der belangten Behörde kann daher nicht entgegen getreten werden, wenn sie das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles im Sinn des § 10 Abs. 4 FrG verneint hat.
3.1. Die Beschwerde macht auch geltend, die belangte Behörde sei unzuständig gewesen.
3.2. Gemäß § 89 Abs. 2 Z. 1 FrG trifft die Bezirksverwaltungsbehörde die Entscheidungen im Zusammenhang mit Niederlassungsbewilligungen und Niederlassungsnachweisen, wenn es sich um den Aufenthaltstitel (Z. 1) für einen Drittstaatsangehörigen handelt, der nach dem vierten Hauptstück des FrG Niederlassungsfreiheit genießt, (Z. 2) für einen der in § 19 Abs. 2 Z. 1 und 2 FrG genannten Drittstaatsangehörigen oder (Z. 3) für Ehegatten oder minderjährige Kinder von Drittstaatsangehörigen mit näher umschriebenen Eigenschaften handelt.
Dem angefochtenen Bescheid zu Folge wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittstaat-Ö, § 49 Abs. 1 FrG" mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 18. September 2003 abgewiesen. Damit steht rechtskräftig fest, dass dem Beschwerdeführer keine Niederlassungsfreiheit nach dem
4. Hauptstück des FrG zukommt. Schon deshalb hatte über den gegenständlichen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen nicht die in § 89 Abs. 2 FrG genannte Behörde, sondern gemäß § 89 Abs. 1 FrG der Landeshauptmann zu entscheiden. Die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck wäre zwar iSd Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 18. Dezember 1997, LGBl. Nr. 113/1997, ermächtigt gewesen, im Namen des Landeshauptmannes zu entscheiden, sie war jedoch nicht befugt, den erstinstanzlichen Bescheid vom 19. Mai 2004 im eigenen Namen zu erlassen. Die gemäß § 94 Abs. 1 FrG zur Entscheidung über die Berufung zuständige belangte Behörde hätte diese dem erstinstanzlichen Bescheid anhaftende Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit von Amts wegen aufgreifen und den erstinstanzlichen Bescheid ersatzlos beheben müssen.
4. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
5. Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil diese im pauschalen Aufwandersatz bereits enthalten ist.
Wien, am 14. Juni 2007
Schlagworte
Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Diversessachliche Zuständigkeit in einzelnen AngelegenheitenInstanzenzugInhalt der Berufungsentscheidung KassationBesondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2004180245.X00Im RIS seit
18.10.2007Zuletzt aktualisiert am
07.12.2011