TE Vwgh Erkenntnis 2007/6/20 2006/19/0265

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Veröffentlicht am 20.06.2007
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Beachte

Serie (erledigt im gleichen Sinn): 2006/19/0267 E 20. Juni 2007 2006/19/0266 E 20. Juni 2007

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß und den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak sowie die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der A, vertreten durch Dr. Stephanie Merckens, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Seilergasse 3, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 13. Februar 2004, Zl. 227.520/0-VIII/22/02, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin gelangte am 29. Oktober 2001 gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn nach Österreich. Sie stellte noch am selben Tag einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14. März 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen und gemäß § 8 AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Armenien zulässig sei.

Die gegen diesen Bescheid von der Beschwerdeführerin erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 7 AsylG ab. Mit den Spruchpunkten II. und III. erklärte sie die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Armenien gemäß § 8 AsylG iVm § 57 FrG für nicht zulässig und erteilte ihr gemäß § 15 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Nach ausführlicher Wiedergabe der Aktenlage stellte die belangte Behörde "zur Person des Berufungswerbers" folgenden - in den wesentlichen Punkten weitgehend dem Vorbringen der Beschwerdeführerin entsprechenden - Sachverhalt fest:

"Sie (die Beschwerdeführerin) wurde am 12.11.1958 in Hoktemberian in der ehemaligen armenischen SSR, nunmehr Republik Armenien, geboren und gehört der armenischen Volksgruppe sowie der gregorianischen Kirche an. Nach der Absolvierung der Pflichtschule hat sie nicht gearbeitet. Im Sommer 1980 lernte sie ihren aus Aserbaidschan stammenden Mann kennen, dessen Mutter Aserbaidschanerin ist und dessen Vater Armenier. Wenig später heiratete sie und zog mit ihrem Mann in dessen Heimat Kiravabad in Aserbaidschan. Dort wurde 1981 ihr Sohn Agram geboren. Nachdem im Jahre 1991 ihr Schwiegervater von aserbaidschanischen Uniformierten ermordet wurde und aserische Polizisten im Dezember 1992 das Haus der Familie anzündeten, flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Armenien, wo sie sich zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in Metzamur und anschließend in Hoktemberian aufhielt. Die Berufungswerberin verfügt über keine armenische Staatsangehörigkeit.

Wegen der Herkunft ihres Ehemannes aus einer armenischaserischen Mischehe wurde sie in Armenien häufig beleidigt und beschimpft und misshandelt. Als ihr Sohn einmal - ihrer Meinung nach zu Unrecht - beschuldigt wurde und sie sich deswegen auf der Polizei beschwerte, sei sie geschlagen worden. Sie erhielt immer wieder anonyme Briefe und wurden auch die Fensterscheiben zerschlagen. Als sie dies der Polizeistation anzeigte, wurde sie anschließend von den Eltern eines Verdächtigen mit dem Umbringen ihres Sohnes bedroht, wobei ihr Sohn noch am selben Tag zusammengeschlagen wurde. Sie verließ 1996 Armenien (und war seither nicht mehr in Armenien), hielt sich bis 1998 in Georgien, und zwar in Abchasien illegal auf. Im Zuge das Abchasien-Konfliktes verließ die Berufungswerberin 1998 Georgien und hielt sich anschließend, ebenfalls illegal (gemeinsam mit ihrer Familie) bis Oktober 2001 in Moskau auf, von wo sie nach Österreich gelangte."

Danach traf die belangte Behörde Feststellungen zu Armenien, zur Situation der aserischen Minderheit sowie von Personen gemischt-ethnischer (armenisch aserbaidschanischer) Abstammung in Armenien. Diese lauten wie folgt:

"Die Verfassung der Repulik Armenien (1995) garantiert in Artikel 15 die Rechtsgleichheit aller Bürger ungeachtet ihrer 'nationalen Abstammung, Rasse, Geschlechts, Sprache, Glaubens, politischen oder anderen Überzeugung, sozialen Herkunft, Vermögens oder anderen Status'.

Weder der armenische Gesetzgeber, noch die armenische Regierung diskriminieren Angehörige ethnischer Minderheiten in kollektiver oder individueller Weise. Diese fühlen sich jedoch in einer zu 97 Prozent monoethnischen Gesellschaft oft von der armenischen Minderheit überwältigt.

Mit 5,3 Prozent bzw. 161.000 Angehörigen (nach Eigenangaben sogar bis zu 250.000) bildeten die Aseris vor ihrer fast vollständigen Massenflucht 1988/1989 die größte ethnische Minderheit Armeniens. Seither ist das aserbaidschanisch-armenische Verhältnis sowohl auf zwischenstaatlicher, wie auch gesellschaftlicher Ebene durch die wechselseitige Vertreibung der Minoritäten stark belastet.

Im Herbst 1988 setzte der Massenexodus der aserbaidschanischen Minderheit aus Armenien ein.

Heute gibt es kaum noch Aserbaidschaner in Armenien. Die wenigen im Land verbliebenen sind meist mit Armenier/Innen verheiratet bzw. entstammen binationalen Ehen.

Als ethnische Gemeinschaft ist die aserische Minderheit nicht organisiert, aber die meisten ihrer Angehörigen sind ziemlich assimiliert und werden von ihren Nachbarn und ihrer lokalen Gemeinschaft akzeptiert.

Im Unterschied zum eigentlichen Armenien, wo nur wenige Aseris geblieben sind, leben in Berg-Karabach eine ganze Menge Aseris sowie binationale Ehepaare.

Es gibt keinerlei Hinweise für eine Verfolgung von Angehörigen binationaler Ehen durch staatliche Organe in Armenien, weder auf nationaler, noch regionaler oder lokaler Ebene.

Es liegen auch keine aktuellen Berichte für derartige Verfolgungen durch Privatpersonen nach Beendigung der Kampfhandlungen in und um Berg-Karabach (Mai 1994) vor.

Die Rückkehr von Armeniern aserischer Abstammung bzw. gemischt-ethnischer (armenisch-aserischer) Herkunft, die schon vor längerer Zeit aus Armenien ausgereist sind und beispielweise länger in Russland gelebt haben, kann jedoch riskant sein."

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde nach Darstellung der maßgeblichen Gesetzesstellen und dazu in der Judikatur entwickelter Rechtssätze aus, die Beschwerdeführerin habe als Grund für eine Verfolgungsgefahr in Armenien lediglich die gemischt-ethnische Abstammung ihres Ehemannes behauptet. Die Sachverhaltsfeststellungen würden sich aus dem "länderkundlichen Gutachten der international höchst renommierten Sachverständigen Dr. Tessa Savvidis" vom 7. Mai 2003 ergeben. Demnach sei hinsichtlich der Angehörigen armenischaserischer Mischehen derzeit in Armenien weder eine Gruppenverfolgung noch eine individuelle Verfolgung durch staatliche Organe oder Private zu erwarten. Der von der Beschwerdeführerin behaupteten Verfolgungsgefahr fehle es somit an der erforderlichen Aktualität. Eine solche Verfolgungsgefahr müsse nämlich im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen.

Im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung zu § 8 AsylG verwies die belangte Behörde wiederum auf das Sachverständigengutachten von Dr. Tessa Savvidis vom 7. Mai 2003. Um das Risiko der Rückkehr ethnischer Aseris und von Personen aus binationalen Ehen abzuschätzen, deren Asylantrag abgelehnt worden sei, laute die Schlüsselfrage, wann diese ausgereist seien. So stelle sich die Lage als nicht zu schwierig dar, falls die Rückkehrer vor relativ kurzem ausgereist seien. Dann nämlich kenne sie ihre Gemeinschaft noch. Wenn aber ein ethnischer Aseri oder jemand aus einer binationalen Ehe vor etwa fünf Jahren ausgereist sei und für längere Zeit in Russland gelebt habe, bevor er nach Europa weitergereist sei um Asyl zu beantragen, könnte die Rückkehr nach Armenien riskant sein. Eine solche Person könne sich gegenüber ihrer Gemeinschaft nämlich nicht ausweisen. Solche Personen seien in der örtlichen Gemeinschaft, die ihnen den erforderlichen Schutz biete, nicht integriert. Die Beschwerdeführerin sei bereits vor acht Jahren aus Armenien ausgereist. Durch ihren anschließenden Aufenthalt in Georgien und Russland liege daher das Kriterium der Verwurzelung in einer örtlichen Gemeinschaft nicht mehr vor. Außerdem habe die Beschwerdeführerin zuvor längere Zeit in Aserbaidschan gelebt. Es bestehe daher nach Ansicht der belangten Behörde auf Grund des Sachverständigengutachtens im Fall der Beschwerdeführerin eine reale Möglichkeit ("real risk") "einer Bedrohungssituation im Sinne des § 57 FrG", weshalb der Beschwerdeführerin Abschiebungsschutz zu gewähren sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die belangte Behörde verneint in ihrer Begründung zum Asylteil unter Verweis auf das Sachverständigengutachten vom 7. Mai 2003 eine aktuelle Verfolgungsgefahr zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (zu deren Relevanz vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Oktober 2000, Zl. 98/20/0233, mwN).

Die Rückkehr nach Armenien sei der Beschwerdeführerin nach Ansicht der belangten Behörde aber nicht zumutbar, weshalb sie ihr Refoulementschutz gewährte. Die Rückkehrgefährdung erblickt die belangte Behörde unter Berufung auf dasselbe Sachverständigengutachten vom 7. Mai 2003 in der bereits 1996 erfolgten Ausreise der Beschwerdeführerin aus Armenien. Die illegalen Aufenthalte in Georgien (bis 1998) und Moskau (bis 2001) würden eine Integration der Beschwerdeführerin in einer örtlichen Gemeinschaft, über die sich "derartige Personen in Armenien" definierten und die ihnen den erforderlichen Schutz biete, unmöglich machen. Deshalb könnte für die Beschwerdeführerin "die Rückkehr nach Armenien riskant sein".

Den Beschwerdeausführungen, wonach bei Prüfung der Verfolgungsgefahr darauf abgestellt werden müsse, ob eine Rückkehr in den Heimatstaat zugemutet werden könne, kommt aus nachstehenden Gründen im Ergebnis Berechtigung zu:

Die Ausführungen der belangten Behörde zur Gewährung von Refoulementschutz, wonach im Falle der Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Armenien eine reale Möglichkeit ("real risk") einer "Bedrohungssituation im Sinne des § 57 FrG" gegeben sei, steht in einem von der belangten Behörde nicht aufgeklärten Widerspruch zu ihrer Annahme, die Beschwerdeführerin sei in ihrem Herkunftsstaat nicht aktuell asylrelevant bedroht. Dass das zum Abschiebeschutz führende Bedrohungsszenario nämlich nicht als "Verfolgung" im asylrechtlichen Sinne gedeutet oder eine solche auf keinem Konventionsgrund beruhen könnte, lässt sich weder dem Gutachten der Sachverständigen noch dem angefochtenen Bescheid entnehmen.

Die Begründung der belangten Behörde, wonach es den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin an der erforderlichen Aktualität mangle, erweist sich angesichts des als wahr unterstellten Vorbringens der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem Gutachten der Sachverständigen zur Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Armenien jedenfalls als unschlüssig.

Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 20. Juni 2007

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006190265.X00

Im RIS seit

27.07.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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