TE OGH 2004/8/26 6Ob145/04y

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Veröffentlicht am 26.08.2004
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, Linke Wienzeile 18, 1060 Wien, vertreten durch Dr. Klaus Perner, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei D***** GmbH & Co KG, *****, vertreten durch Dr. Erwin Köll, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 487,13 EUR, über die ordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 20. November 2003, GZ 53 R 366/03k-20, womit über die Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 28. August 2003, GZ 25 C 877/02w-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass dem Klagebegehren stattgegeben wird. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 487,13 EUR samt 4 % Zinsen pA seit 1. 1. 2002 binnen 14 Tagen zu zahlen und die mit 1.333,38 EUR (darin 200,06 EUR Umsatzsteuer und 233 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz, die mit 1.006,96 EUR (darin 97,16 EUR Umsatzsteuer und 424 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 929,74 EUR (darin 66,62 EUR Umsatzsteuer und 530 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mag. Rupert L***** hatte bei der Beklagten über ein Reisebüro für die Zeit vom 2. bis 11. 10. 2001 eine Reise von Salzburg nach New York und Chicago gebucht. Aufgrund der durch die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 in den USA veränderten Lage stornierte er am 15. 9. 2001 diese Privatreise. Die Beklagte zahlte einen Teil des Entgelts zurück, behielt aber eine "Stornogebühr" zurück. Mag. Rupert L***** trat seinen Rückforderungsanspruch an den klagenden Verband ab. Dieser stützt das Zahlungsbegehren seiner Klage vom 21. 8. 2002 im Wesentlichen darauf, dass wegen der Terroranschläge in den USA die Geschäftsgrundlage für die Reise weggefallen sei. Die Kriegserklärung einer islamistischen Terrororganisation habe sich gegen das ganze Land gerichtet. Über die Ereignisse und die künftigen Sicherheitsrisken sei in den Medien breit berichtet worden. Der Antritt der Reise sei für den Kunden der Beklagten unzumutbar geworden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kunde sei verfrüht zurückgetreten. Die Medienberichterstattung habe auf seine Willensbildung keinen Einfluss gehabt. Der Wegfall des zerstörten World Trade Centers und die vom Kunden vermutete Schließung des Empire State Building in New York rechtfertigten einen kostenlosen Rücktritt nicht. Die Terroranschläge hätten sich nicht gegen touristische Ziele gerichtet. Ab dem 26. 9. 2001 habe es für Reisende in die USA keine unzumutbaren Beeinträchtigungen gegeben. Es habe regulärer Flugbetrieb geherrscht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Nach den Ereignissen des 11. 9. 2001 habe Mag. Rupert L***** die Situation beobachtet, Erkundigungen eingeholt und Medienberichte gelesen. Am 15. 9. 2001 habe er die Reise storniert, mit der Begründung, dass der Zweck der Reise (Besichtigungen typischer Art) seitens des Reiseveranstalters nicht erfüllt werden könne. Aufgrund der Ereignisse vom 11. 9. 2001 sei zunächst der Luftraum für den zivilen Flugverkehr gesperrt und erst am 14. 9. 2001 zumindest teilweise wieder geöffnet worden. In einem Artikel von diesem Tag sei von einer großen Stornowelle die Rede gewesen. Weiters sei darüber berichtet geworden, dass bis zum 26. 9. 2001 Reisen "so gut wie überall" kostenlos storniert werden könnten. In einem weiteren Artikel der Salzburger Nachrichten vom 15. 9. 2001 sei die österreichische Außenministerin zitiert worden, wonach keine unnötigen Reisen in die USA unternommen werden sollten. Diesen Artikel habe der Kunde als Warnung des Außenministeriums aufgefasst. Tatsächlich habe es eine konkrete Warnung des auswärtigen Amtes für Reisen in die USA aber nicht gegeben. Bei dessen Mitteilungen werde in drei Stufen unterschieden und zwar "unbedenkliche Sicherheitslage", "Sicherheitsrisiko" und "sehr hohes Sicherheitsrisiko". Diese dritte Gefahrenstufe bedeute eine sogenannte "Reisewarnung", wie sie beispielsweise bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen ausgesprochen werde. Nach den Ereignissen vom 11. 9. 2001 sei hinsichtlich der Reisen nach Amerika "glaublich die Stufe 2/1 ausgesprochen worden, was bedeute, dass ein erhöhtes bzw hohes Sicherheitsrisiko bestanden habe". Man habe nicht ausschließen können, dass es zu weiteren Anschlägen komme. Die Gefahr sei aber nicht so hoch eingeschätzt worden, weil in Amerika sofort umfangreiche Maßnahmen gesetzt worden seien. Teilweise sei die Ansicht vertreten worden, dass es das sicherste Reiseland überhaupt gewesen sei. Das vom auswärtigen Amt ausgesprochene "Sicherheitsrisiko" habe über zwei Monate bestanden. Nach dem 26. 9. 2001 habe es bei Reisen in die USA keine Behinderungen gegeben. Lediglich die Sicherheitschecks seien intensiv verstärkt worden. Dies habe aber dem Schutz der Reisenden gedient. Die Beklagte habe ein kostenloses Stornieren der Reise für Leistungen nach dem 26. 9. 2001 abgelehnt.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, dass ein kostenloser Rücktritt von einer Reisebuchung immer dann möglich sei, wenn das auswärtige Amt eine "Reisewarnung" ausgesprochen habe. Wenn ein "sehr hohes Sicherheitsrisiko" - wie hier - ausgesprochen worden sei, müsse aufgrund der konkreten Umstände beurteilt werden, ob ein kostenloser Rücktritt gerechtfertigt sei. Die Anschläge vom 11. 9. 2001 hätten sich nicht nur gegen Amerika, sondern gegen den gesamten "Westen" gerichtet. Es sei nicht kalkulierbar gewesen, wo in Zukunft wieder Attentate erfolgen könnten. Dies sei auch in Europa, beispielsweise für diverse Städte Deutschlands und Großbritanniens befürchtet worden. Aufgrund der "exzessiven Sicherheitskontrollen" in Amerika sei eine Wiederholung der Anschläge nicht mehr möglich gewesen. Wegen dieser Kontrollen sei Amerika paradoxerweise eines der sichersten Länder gewesen. Die Entscheidung 1 Ob 257/01b des Obersten Gerichtshofs sei auf dem vorliegenden Fall nicht anwendbar. Dort sei die gesamte Türkei zum "Kriegsgebiet" erklärt worden. Terrororganisationen hätten weitere Gewaltakte insbesondere auf Urlauber und Urlaubseinrichtungen angekündigt. Dies sei nach dem 11. 9. 2001 in den USA nicht der Fall gewesen. Die Angriffe seien nicht gezielt auf Touristen gerichtet gewesen. Mag. Rupert L***** hätte die weitere Entwicklung abzuwarten gehabt. Ein vorschnell erklärter Rücktritt können nicht mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage legitimiert werden. Der Antritt der Reise hätte erst eineinhalb Wochen nach der Rücktrittserklärung vom 15. 9. 2001 erfolgen sollen. Der Kunde hätte sich nicht nur auf Medienberichte verlassen dürfen. Er hätte deren Richtigkeit hinterfragen müssen. Objektive Gründe für einen kostenlosen Rücktritt lägen nicht vor. Gewaltakte gegen Urlauber seien nicht angekündigt gewesen. In Europa habe es viel konkretere Drohungen gegeben, beispielsweise in Spanien. Der Wegfall des World Trade Centers, das zum Großteil ein Bürokomplex und kein Wahrzeichen New Yorks gewesen sei, bedeute nicht, dass die Geschäftsgrundlage weggefallen sei. Der Kunde habe auch keine Besichtigungstour, sondern nur die Übernachtungen in einem Hotel gebucht gehabt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger übergehe die Grundsätze, wie sie in den von ihm zitierten Entscheidungen 8 Ob 99/99p und 1 Ob 257/01b wiedergegeben worden seien. Vereinzelte Anschläge auch terroristischer Natur bildeten keinen Rücktrittsgrund. Wenn die Reise nicht unmittelbar bevorstehe, müsse der Kunde die weitere Entwicklung abwarten. Es treffe zwar zu, dass die Ereignisse nach dem 11. 9. 2001 und die Medienberichterstattung darüber allgemein bekannt und damit offenkundig (gerichtsnotorisch) seien. Es könnten daher noch weitere Feststellungen über Medienberichte getroffen werden. Das vom Kläger gezeichnete Bild entspreche aber nicht den Tatsachen. Die Bedrohungslage habe nicht ungemindert fortbestanden. Die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 hätten sich an einem einzigen Tag geeignet, woran sich massive Sicherheitsvorkehrungen angeschlossen hätten, sodass eine ersthafte Bedrohungslage nicht mehr gegeben gewesen sei. Reisen nach dem 26. 9. 2001 seien ohne Behinderungen möglich gewesen, lediglich die Sicherheitschecks seien intensiv verstärkt worden. Beim 26. 9. 2001 habe es sich um eine "Deadline" gehandelt, also einen Zeitpunkt, bis zu dem die Reisebüros Stornierungen akzeptiert hätten, ohne eine Stornogebühr zu verlangen. Ein immenses Sicherheitsrisiko bei Flugreisen in die USA habe nicht mehr bestanden. Nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung sei es dem Kunden zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten. Hier hätten sich die terroristischen Anschläge auch nicht gegen Reisende an sich gerichtet. Wegen der Verpflichtung zum Zuwarten komme es auch nicht auf die Äußerungen der österreichischen Außenministerin an, die kurze Zeit nach den Vorfällen abgegeben worden sei. Das Berufungsvorbringen, dass "schwer bewaffnete Polizisten überall Busse stürmen, in denen sie Verdächtigte vermuten" und über drohende "Asbestverseuchungen in der Luft aber auch durch andere Emissionen" unterläge dem Neuerungsverbot.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes 4.000 EUR, nicht jedoch 20.000 EUR übersteige und dass die ordentliche Revision zulässig sei. Eine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur kostenlosen Stornierung einer Reise aufgrund der Anschläge vom 11. 9. 2001 liege noch nicht vor.

Mit seiner ordentlichen Revision beantragt der Kläger die Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde, hilfsweise die Aufhebung zur Verfahrensergänzung.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Im vorliegenden Fall ist der Reisekunde entgegen der noch in der Revisionsbeantwortung der Beklagten vertretenen Auffassung von der Reise nicht nur wegen der vermuteten und voraussehbaren Behinderungen bei der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten zurückgetreten. Dem steht schon der Wortlaut des einen kostenlosen Rücktritt befürwortenden Schreibens des Reisebüros und der Wortlaut des Ablehnungsschreibens der Beklagten entgegen, in denen ganz allgemein "die aktuellen Ereignisse in den USA" und "die tragischen Terroranschläge in New York" erwähnt werden. Dass der Kunde die Gefahr künftiger Terroranschläge nicht als Rücktrittsgrund verstanden wissen wollte, geht aus seinem Rücktrittsschreiben nicht hervor. Mit seinem Hinweis, dass der Zweck der Reise nicht erfüllt werden könne, liegt zumindest schlüssig die geradezu selbstverständliche Begründung, die Reise wegen der durch die Terroranschläge ausgelösten Sicherheitsbedenken nicht antreten zu wollen. Das Sicherheitsrisiko ist damit Prozessthema. Wenn der Rücktritt des Kunden aus diesem Grund gerechtfertigt sein sollte, braucht auf das weitere Thema der Behinderungen bei der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten in den Großstädten der USA nicht mehr eingegangen zu werden.

Zum Wegfall der Geschäftsgrundlage als Anspruchsbasis für einen kostenlosen Rücktritt vom Reisevertrag wurde in den beiden einschlägigen Vorentscheidungen 8 Ob 99/99p = SZ 72/95 und 1 Ob 257/01b = ZVR 2003, 58/19, in denen es ebenfalls um Terroranschläge ging, anerkannt, dass das nur als subsidiäres und letztes Mittel aufzufassende Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage unter gewissen Voraussetzungen einer Partei es ermöglicht, sich von rechtsgeschäftlichen Bindungen zu lösen. Von den Parteien des Reisevertrags nicht voraussehbare Erschwerungen, Gefährdungen oder Beeinträchtigungen der Reise können zum Rücktritt berechtigen, wenn die Reise für den Kunden unzumutbar geworden ist. Wann dies der Fall ist, hängt grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls ab.

Wenn es sich nur um vereinzelte Anschläge handelt, mögen sie auch terroristischer Natur sein, steht kein Rücktrittsrecht zu. Die Anschläge müssen eine Intensität erreichen, die unter Anlegung eines durchschnittlichen Maßstabes als Konkretisierung einer unzumutbaren Gefahr derartiger künftiger Anschläge erscheint. Nur dann berechtigen sie zur Auflösung des Vertrages wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Dabei muss eine ex-ante-Betrachtung angestellt werden. Es ist zu fragen, wie ein durchschnittlicher, also weder ein besonders mutiger, noch ein besonders ängstlicher Reisender die künftige Entwicklung an dem in Aussicht genommenen Urlaubsziel beurteilt hätte. Die spätere reale Entwicklung der Ereignisse sei unerheblich. Eine eindeutige Reisewarnung durch das Außenamt ist als stornofreier Rücktrittsgrund zu werten. Medienberichte und Informationssendungen in Rundfunk und Fernsehen sowie in anerkannten seriösen Zeitungen sind ernst zu nehmen. Wenn der Antritt der Reise nicht unmittelbar bevorsteht, ist es dem Kunden durchaus zumutbar, vorerst die weitere Entwicklung abzuwarten. Vereinzelte Terroranschläge gehören zu den allgemeinen Lebensrisken, vor denen man auch in seinem eigenen Heimatland nicht gefeit ist (1 Ob 257/01b).

Der Entscheidung des vorliegenden Falles ist nicht nur der von den Vorinstanzen festgestellte Sachverhalt zugrunde zu legen. Es ist dem Berufungsgericht zuzustimmen, dass ein durchaus relevanter Teil der entscheidungswesentlichen Umstände notorisch ist, die Feststellungen können daher um solche Tatsachen ergänzt werden. Darüber hinaus hat die Beklagte die Echtheit der vom Kläger vorgelegten Zeitungsartikel zugestanden und zur Richtigkeit nur auf das eigene Prozessvorbringen verwiesen, das sich inhaltlich nicht mit der Richtigkeit der Zeitungsberichte auseinandersetzte. Damit steht aber die Veröffentlichung der Artikel und der für den Reisekunden dadurch bewirkte Informationsstand fest, sodass auch darüber eine Ergänzung des insoweit unstrittigen Sachverhalts möglich ist.

Die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 waren hinsichtlich der Planung, der Durchführung, des angerichteten Sachschadens und der Menschenopfer historisch einzigartig. Selbstmordattentäter hatten mit entführten Flugzeugen als Waffen Hochhäuser und andere politisch bedeutsame Gebäude in den USA angegriffen und mehrere tausend Personen getötet. Auch wenn der Tourismus nicht offenkundig das Ziel des Terrors war (anders in 1 Ob 257/01b) war der Reiseverkehr doch infolge der Entführung von Zivilflugzeugen direkt betroffen. Eine derartige "Intensität" von Terroranschlägen war bis zum 11. 9. 2001 unbekannt.

Bis zu den Terroranschlägen galten die USA als relativ sicheres Reiseland, keineswegs vergleichbar mit den schon traditionell von Terroranschlägen heimgesuchten Ländern Türkei (Kurden), Spanien (ETA) oder Nordirland (IRA). Für Reisende in die USA entstand eine völlig neue Situation.

Als unmittelbare notorische Folgen der Anschläge bis zum geplanten Reiseantritt am 2. 10. 2001 zeigten sich bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung:

Amerika hatte sich unmittelbar nach den Anschlägen als "im Krieg befindlich" (Wortwahl des Präsidenten der USA) erklärt. Vergeltungsanschläge wurden angedroht, gleichzeitig warnten so gut wie alle Medien in den USA und in Europa, höchste Politiker der USA und dortige Geheimdienstmitarbeiter vor der Gefahr weiterer Anschläge. Gewarnt wurde vor Angriffen gegen amerikanische Städte mit biologischen, chemischen oder sogar atomaren Waffen. Die Urheber der Anschläge waren noch nicht näher bekannt. Vermutet wurde die islamistische Terrororganisation Al Khaida, aber auch Staatsterrorismus (Irak; Afghanistan). In der Presse wurde ein "Horrorszenario" über Angriffe mit Giftgas, Bakterien, Milzbrand und Pocken gezeichnet.

Die einzigartige Dimension der Anschläge, vor allem desjenigen auf das World Trade Center (der Einsturz der beiden Türme wurde in den ersten Tagen nach dem Anschlag mehrmals täglich im österreichischen Fernsehen gezeigt) hat nicht nur "ängstliche" Reisende von Reisen in die USA abgehalten. Die österreichische Außenministerin warnte vor "unnötigen Reisen", worunter wohl alle Urlaubsreisen zu verstehen waren. Ex post steht (notorisch) fest, dass es zu einer Stornowelle von Reisen in die USA und zu seinem drastischen Umsatzrückgang bei Transatlantik-Flügen gekommen ist. An den verursachten Vertragseinbußen leiden europäischen Fluggesellschaften teilweise noch heute. Mit dieser ex-post-Betrachtung ist die Beurteilung zu stützen, dass nicht nur vereinzelt besonders ängstliche sondern auch zahlreiche vernünftige Reisende ihre Reisepläne änderten und der Warnung der österreichischen Außenministerin folgten, auch wenn sich das Außenministerium selbst zu einer formellen "Reisewarnung" nicht entschloss.

In der Entscheidung 8 Ob 99/99p wurden die vom Reisevertrag zurücktretenden Kunden als "ängstlich" qualifiziert. Der dort zu beurteilende Sachverhalt lässt sich allerdings mit den Terroranschlägen des 11. 9. 2001 in keiner Weise vergleichen. Explosionen von Sprengsätzen in Mistkübeln auf der Insel Rhodos verursachten Verletzungen von acht Personen. Nahezu alle Urlauber im Zielgebiet hatten ihren Urlaub nicht storniert. Der Oberste Gerichtshof schloss daraus auf eine "subjektiv verständliche, aber objektiv - gemessen am Durchschnittsreisenden - übertriebene Vorsicht" und vermisste konkrete Hinweise auf die Gefahr künftiger, gleichartiger Anschläge. Es liegt auf der Hand, dass die Intensität der Anschläge auf Rhodos mit den hier zu beurteilenden, als historisch zu bezeichnenden Terroranschlägen unvergleichbar ist.

Ein Zuwarten mit der Rücktrittserklärung ist dann erforderlich, wenn bis zum Reiseantritt noch ein erheblicher Zeitraum für die Beurteilung der Gefährdungslage zur Verfügung steht und nachfolgende Ereignisse zu einer Verminderung der Gefährdungslage führen. Dann ist der Rücktritt vor der Zeit als übereilt und aus übertriebener Vorsicht zu beurteilen und damit nicht gerechtfertigt. Der Grundsatz des Zuwartens wurde in der Entscheidung 1 Ob 257/01b näher ausgeführt. Dort hatte eine Familie schon am 1. 2. 1999 eine Türkeireise für den Sommer gebucht. Vor der Rücktrittserklärung hatten die Reisenden die in der Türkei wegen Terrordrohungen von Kurden im Zusammenhang mit der Festnahme ihres Führers entstandene Lage beobachtet. Am 6. 7. 1999 ereignete sich in Istanbul ein Bombenanschlag, ein weiterer am 13. 7. An diesem Tag erfolgte der Rücktritt von der Reise. Der Oberste Gerichtshof beurteilte den Rücktritt als gerechtfertigt. Ein weiteres Zuwarten mit dem Vertragsrücktritt sei ua auch wegen der Notwendigkeit einer endgültigen Buchung eines anderen Urlaubsziels unzumutbar. Aus dieser Vorentscheidung ist jedenfalls keine generelle Aussage abzuleiten, bis zu welchem Zeitpunkt vor dem Reiseantritt zuzuwarten ist. Immerhin wurde aber anerkannt, dass für eine Umbuchung auf ein weniger gefährliches Zielgebiet genügend Zeit offen stehen muss.

Der dargelegte Sachverhalt führt nach der zitierten oberstgerichtlichen Rechtsprechung zur Bejahung des gegenständlichen Klageanspruchs aus folgenden zusammengefassten Erwägungen:

Die Intensität der Terroranschläge hatten eine historische Dimension, die selbst bei mutigen, jedenfalls aber bei sogenannten "Durchschnittsreisenden" Angstgefühle auslösten. Vor der Gefahr weiterer Anschläge wurde nahezu in allen Medien mit plausiblen Gründen (ua wegen der Perfektion der Anschläge und des dafür nötigen, dahinterstehenden Apparates) gewarnt. Die Urheberschaft der Anschläge war nicht näher geklärt. Zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung am 15. 9. 2001 war nicht damit zu rechnen, in absehbarer Zeit ein verlässliches Bild über die Gefährdungslage zu erhalten. Die Rücktrittserklärung des Kunden war nicht diejenige einer besonders ängstlichen Person. Sie erfolgte auch nicht zu früh. Das gegenteilige Ergebnis der Vorinstanzen ist nicht zu billigen. An dieser Beurteilung vermögen auch die vom Berufungsgericht hervorgehobenen Umstände, dass massive Sicherheitsvorkehrungen in den USA getroffen wurden und dass sich dadurch das Sicherheitsrisiko verringert habe, nichts zu ändern. Dem ist entgegen zu halten, dass nach erfolgten Terroranschlägen im betroffenen Land jeweils die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt werden, dass dadurch aber weitere Anschläge nicht verhindert werden können. Insbesondere der Flugverkehr kann nicht vollständig gesichert werden; es ist unmöglich, alle sogenannten "weichen Ziele" in Großstädten zu bewachen und vor Terror zu schützen. Es ist gerade die neue Dimension der Anschläge vom 11. 9. 2001, dass es trotz der weltweiten Sicherheitskontrollen auf Flughäfen gelungen ist, vier Flugzeuge im amerikanischen Luftraum gleichzeitig zu entführen und die Selbstmordanschläge auszuführen. Da die Reise des zurücktretenden Kunden der Beklagten gerade in das Zielgebiet New York erfolgen sollte, und gerade diese Großstadt in der Berichterstattung von Anfang an immer wieder wegen ihrer politischen Bedeutung und Symbolkraft als Ziel möglicher Großanschläge genannt wurde, ist der hier strittige kostenlose Rücktritt vom Reisevertrag aus den angeführten Gründen als gerechtfertigt zu qualifizieren.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz beruht auf den § 41 ZPO, diejenige über die Verfahrenskosten der Rechtsmittelverfahren auch auf § 50 Abs 1 ZPO.Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz beruht auf den Paragraph 41, ZPO, diejenige über die Verfahrenskosten der Rechtsmittelverfahren auch auf Paragraph 50, Absatz eins, ZPO.

Textnummer

E74491

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2004:0060OB00145.04Y.0826.000

Im RIS seit

25.09.2004

Zuletzt aktualisiert am

15.09.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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