TE OGH 2005/6/30 Bsw46720/99 (Bsw72203/01, Bsw72552/01)

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.06.2005
beobachten
merken

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Jahn u.a. gegen Deutschland, Urteil vom 30.06.2005, Bsw. 46720/99, Bsw. 72203/01 und Bsw. 72552/01.

Spruch

Art. 14 EMRK, Art. 1 1. ZP EMRK - Schutz des Eigentums an Bodenreformgrundstücken.Artikel 14, EMRK, Artikel eins, 1. ZP EMRK - Schutz des Eigentums an Bodenreformgrundstücken.

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (11:6 Stimmen).Keine Verletzung von Artikel eins, 1. Prot. EMRK (11:6 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art 1 1. Prot. EMRK (15:2 Stimmen).Keine Verletzung von Artikel 14, in Verbindung mit Artikel eins, 1. Prot. EMRK (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im September 1945 wurden in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland gelegene Grundstücke, die größer als 100 ha waren, im Rahmen der „Bodenreform" enteignet. Die Flächen wurden in einen staatlichen Bodenfonds überführt, aus dem Parzellen von durchschnittlich acht ha an landlose oder landarme Bauern verteilt wurden.

Die fünf Bf. sind Erben bzw. Erbinnen solcher „Neubauern", wie die neuen Eigentümer der Bodenreformgrundstücke genannt wurden. Die ihren Vorfahren zugeteilten Parzellen liegen im Gebiet der ehemaligen DDR. Nach den Bodenreformverordnungen, die die gesetzliche Grundlage der Bodenreform bildeten, unterlagen die in deren Rahmen erworbenen Grundstücke bestimmten Verfügungsbeschränkungen. In den Zuteilungsurkunden wurden die Grundstücke als vererblich bezeichnet. Diesen Urkunden zufolge musste ein Teil des Landes für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden. Die sogenannten Besitzwechselverordnungen regelten die Fälle der Rückführung der Grundstücke in den Bodenfonds und erlaubten die Zuteilung an Dritte, sofern diese die Grundstücke landwirtschaftlich nutzten. Mit dem Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform („Modrow-Gesetz"), das am 16.3.1990 in Kraft trat, wurden alle Verfügungsbeschränkungen aufgehoben und die Besitzer zu vollwertigen Eigentümern gemacht. Zwei Jahre nachdem dieses Gesetz mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990 Bestandteil des Rechts der BRD geworden war, verabschiedete der deutsche Bundestag das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz, mit dem das Verfahren zur Abwicklung der Bodenreform geschaffen wurde.(Anm.:

Durch das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14.7.1992 wurden in Art. 233 EGBGB die §§ 11 bis 16 eingefügt. Art. 233 § 11 Abs. 2 EGBGB sieht vor, dass das Eigentum an Bodenreformgrundstücken von Gesetz wegen grundsätzlich auf die Person übergeht, die am 15.3.1990 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen war, oder an deren Erben. Dies galt jedoch nur, sofern es keine „besserberechtigte" Person nach Art. 233 § 12 EGBGB gab, die einen Anspruch auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks hatte. Gemäß Art. 233 § 12 Abs. 3 EGBGB können land- und fortwirtschaftlich genutzte Grundstücke nur von Personen geerbt werden, die am 15.3.1990 oder in den letzten zehn Jahren vor diesem Stichtag in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig waren. Erfüllen die Erben diese Voraussetzung nicht, geht das Eigentum an dem Grundstück auf den Fiskus des Bundeslandes über, in dem das Grundstück liegt.)Durch das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14.7.1992 wurden in Artikel 233, EGBGB die Paragraphen 11 bis 16 eingefügt. Artikel 233, Paragraph 11, Absatz 2, EGBGB sieht vor, dass das Eigentum an Bodenreformgrundstücken von Gesetz wegen grundsätzlich auf die Person übergeht, die am 15.3.1990 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen war, oder an deren Erben. Dies galt jedoch nur, sofern es keine „besserberechtigte" Person nach Artikel 233, Paragraph 12, EGBGB gab, die einen Anspruch auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks hatte. Gemäß Artikel 233, Paragraph 12, Absatz 3, EGBGB können land- und fortwirtschaftlich genutzte Grundstücke nur von Personen geerbt werden, die am 15.3.1990 oder in den letzten zehn Jahren vor diesem Stichtag in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig waren. Erfüllen die Erben diese Voraussetzung nicht, geht das Eigentum an dem Grundstück auf den Fiskus des Bundeslandes über, in dem das Grundstück liegt.)

Die Bf. hatten die betroffenen Grundstücke zwischen 1976 und 1986 geerbt und wurden zwischen 1991 und 1996 als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen. Zwischen 1995 und 1998 mussten sie das Eigentum an ihren Grundstücken entschädigungslos an die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern bzw. Brandenburg abtreten, nachdem diese gemäß Art. 233 § 11 Abs. 3 iVm. Art. 233 § 12 Abs. 2 und 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) die unentgeltliche Auflassung der Grundstücke verlangt hatten. Nach Ansicht der über diese Anträge entscheidenden Gerichte hatten die Bf. kein Recht, die Grundstücke zu erben, weil sie vor dem 15.3.1990 nicht in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig und auch nicht Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren.Die Bf. hatten die betroffenen Grundstücke zwischen 1976 und 1986 geerbt und wurden zwischen 1991 und 1996 als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen. Zwischen 1995 und 1998 mussten sie das Eigentum an ihren Grundstücken entschädigungslos an die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern bzw. Brandenburg abtreten, nachdem diese gemäß Artikel 233, Paragraph 11, Absatz 3, in Verbindung mit Artikel 233, Paragraph 12, Absatz 2 und 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) die unentgeltliche Auflassung der Grundstücke verlangt hatten. Nach Ansicht der über diese Anträge entscheidenden Gerichte hatten die Bf. kein Recht, die Grundstücke zu erben, weil sie vor dem 15.3.1990 nicht in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig und auch nicht Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren.

Alle fünf Bf. erhoben Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erachtete die Bestimmungen des Art. 233 § 11 bis 13 EGBGB als mit dem Grundgesetz vereinbar und nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.(Anm.: BVerfG 6.10.2000, 1 BvR 1637/99; BVerfG 25.10.2000, 1 BvR 2062/99.)Alle fünf Bf. erhoben Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erachtete die Bestimmungen des Artikel 233, Paragraph 11 bis 13 EGBGB als mit dem Grundgesetz vereinbar und nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.(Anm.: BVerfG 6.10.2000, 1 BvR 1637/99; BVerfG 25.10.2000, 1 BvR 2062/99.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).Die Bf. behaupten eine Verletzung von Artikel eins, 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung mit Artikel 14, EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel eins, 1. Prot. EMRK:

Die Bf. bringen vor, die ihnen auferlegte Verpflichtung zur entschädigungslosen Übertragung ihrer Grundstücke an den Fiskus der Bundesländer verletzte ihr Recht auf Achtung des Eigentums.

1. Lag ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums vor? Die Ansicht der III. Kammer, die in ihrem Urteil vom 22.1.2004 (NL 2004, 14; EuGRZ 2004, 57) das Vorliegen einer Entziehung des Eigentums im Sinne des zweiten Satzes des Art. 1 1. Prot. EMRK bejaht hatte, wurde von der Regierung nicht angefochten. Auch der GH stimmt der Analyse der Kammer in diesem Punkt zu.1. Lag ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums vor? Die Ansicht der römisch III. Kammer, die in ihrem Urteil vom 22.1.2004 (NL 2004, 14; EuGRZ 2004, 57) das Vorliegen einer Entziehung des Eigentums im Sinne des zweiten Satzes des Artikel eins, 1. Prot. EMRK bejaht hatte, wurde von der Regierung nicht angefochten. Auch der GH stimmt der Analyse der Kammer in diesem Punkt zu.

2. War der Eingriff gerechtfertigt?

a) War er gesetzlich vorgesehen?

Die in Beschwerde gezogenen Maßnahmen beruhten auf Art. 233 § 11 Abs. 3 und Art. 233 § 12 Abs. 2 und 3 EGBGB in der Fassung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Dieser Artikel enthält sehr genaue Vorschriften über die Reihenfolge, in der Bodenreformgrundstücke zuzuweisen sind, und über die Voraussetzungen, die Erben solcher Grundstücke erfüllen müssen, um sie behalten zu dürfen. Der deutsche Gesetzgeber versuchte, Schlupflöcher im Modrow-Gesetz zu schließen, indem er in Übereinstimmung mit den Änderungen der in der DDR erlassenen Besitzwechselverordnungen festlegte, dass nur Personen Bodenreformgrundstücke erben könnten, die in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig oder Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren. Aufgrund dieser Bestimmungen ordneten die deutschen Gerichte die Auflassung der Grundstücke der Bf. zugunsten des Fiskus an. Das BVerfG bestätigte ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Der GH erachtet diese Interpretation nicht als willkürlich und gelangt – wie schon die III. Kammer – zu der Ansicht, dass die Enteignung gesetzlich vorgesehen war.Die in Beschwerde gezogenen Maßnahmen beruhten auf Artikel 233, Paragraph 11, Absatz 3 und Artikel 233, Paragraph 12, Absatz 2 und 3 EGBGB in der Fassung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Dieser Artikel enthält sehr genaue Vorschriften über die Reihenfolge, in der Bodenreformgrundstücke zuzuweisen sind, und über die Voraussetzungen, die Erben solcher Grundstücke erfüllen müssen, um sie behalten zu dürfen. Der deutsche Gesetzgeber versuchte, Schlupflöcher im Modrow-Gesetz zu schließen, indem er in Übereinstimmung mit den Änderungen der in der DDR erlassenen Besitzwechselverordnungen festlegte, dass nur Personen Bodenreformgrundstücke erben könnten, die in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig oder Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren. Aufgrund dieser Bestimmungen ordneten die deutschen Gerichte die Auflassung der Grundstücke der Bf. zugunsten des Fiskus an. Das BVerfG bestätigte ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Der GH erachtet diese Interpretation nicht als willkürlich und gelangt – wie schon die römisch III. Kammer – zu der Ansicht, dass die Enteignung gesetzlich vorgesehen war.

b) Lag der Eingriff im öffentlichen Interesse?

Der GH muss entscheiden, ob die Enteignung iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK ein berechtigtes Ziel verfolgte und damit iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK im öffentlichen Interesse lag.Der GH muss entscheiden, ob die Enteignung iSv. Artikel eins, 1. Prot. EMRK ein berechtigtes Ziel verfolgte und damit iSv. Artikel eins, 1. Prot. EMRK im öffentlichen Interesse lag.

Unter dem Schutzsystem der Konvention obliegt es primär den innerstaatlichen Behörden zu beurteilen, ob ein die Gesellschaft betreffendes Problem besteht, das Enteignungsmaßnahmen erforderlich macht. Der GH wird angesichts des dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von sozial- oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen zukommenden weiten Ermes­sensspielraums die Entscheidung des Gesetzgebers darüber, was im öffentlichen Interesse liegt, respektieren, solange sie nicht offensichtlich einer vernünftigen Grundlage entbehrt. Dies gilt umso mehr bei so grundlegenden Veränderungen, wie sie im Zuge des Übergangs von einer sozialistischen Wirtschaft zu einer Marktwirtschaft nach der deutschen Wiedervereinigung auftraten. Der GH sieht daher in Übereinstimmung mit dem Urteil der III. Kammer keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Absicht des deutschen Gesetzgebers, die sich aus der Bodenreform ergebenden Vermögensfragen abzuwickeln und dabei die seiner Ansicht nach unfairen Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, im öffentlichen Interesse lag.Unter dem Schutzsystem der Konvention obliegt es primär den innerstaatlichen Behörden zu beurteilen, ob ein die Gesellschaft betreffendes Problem besteht, das Enteignungsmaßnahmen erforderlich macht. Der GH wird angesichts des dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von sozial- oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen zukommenden weiten Ermes­sensspielraums die Entscheidung des Gesetzgebers darüber, was im öffentlichen Interesse liegt, respektieren, solange sie nicht offensichtlich einer vernünftigen Grundlage entbehrt. Dies gilt umso mehr bei so grundlegenden Veränderungen, wie sie im Zuge des Übergangs von einer sozialistischen Wirtschaft zu einer Marktwirtschaft nach der deutschen Wiedervereinigung auftraten. Der GH sieht daher in Übereinstimmung mit dem Urteil der römisch III. Kammer keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Absicht des deutschen Gesetzgebers, die sich aus der Bodenreform ergebenden Vermögensfragen abzuwickeln und dabei die seiner Ansicht nach unfairen Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, im öffentlichen Interesse lag.

c) War der Eingriff verhältnismäßig?

Das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz sieht keine Entschädigung für die Bf. vor. Angesichts der Tatsache, dass der GH bereits festgestellt hat, dass der in Beschwerde gezogene Eingriff gesetzmäßig und nicht willkürlich war, macht das Fehlen einer Entschädigung für sich alleine den Entzug des Eigentums der Bf. noch nicht unrechtmäßig. Daher bleibt zu prüfen, ob die Bf. im Zusammenhang mit ihrer rechtmäßigen Enteignung eine unverhältnismäßige und exzessive Last zu tragen hatten. Das Ziel der Bodenreform, die 1945 in der sowjetischen Besatzungszone begonnen und nach 1949 in der DDR fortgesetzt wurde, bestand nicht nur darin, Land an Bauern zu verteilen, sondern auch sicherzustellen, dass die zugeteilten Grundstücke unter staatlicher Kontrolle bewirtschaftet wurden. Es ist richtig, dass die Zuteilungsurkunden das Land als vererblich bezeichneten und das BVerfG die Vererbbarkeit bestätigte. Dennoch kann das Recht der Neubauern in der DDR nicht als ein Eigentumsrecht klassifiziert werden, wie es zu dieser Zeit in demokratischen, marktwirtschaftlichen Systemen existierte. Als Ausdruck einer für die kommunistischen Staaten typischen kollektivistischen Vorstellung vom Eigentumsrecht unterlagen die Bodenreformgrundstücke wesentlichen Verfügungsbeschränkungen. Das ursprünglich mit der Bodenreform verfolgte Ziel einer Bewirtschaftung des Landes erklärt auch, warum die Erben der Grundstücke diese nur dann behalten konnten, wenn sie sie selbst bewirtschafteten oder Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren. Erfüllten sie diese Voraussetzung nicht, wurde das Grundstück entweder besserberechtigten Personen zugeteilt oder es musste an den Bodenfonds rückübertragen werden.

Es scheint, dass zwar in vielen Fällen die Grundstücke wieder an den Bodenfonds übertragen wurden, die Behörden der DDR es jedoch manchmal – meist aus Gleichgültigkeit – verabsäumten, diese Transfers durchzuführen und sie in die Grundbücher einzutragen. Hätten die Behörden der DDR die geltenden Bestimmungen durchgehend angewandt, wären die Bf., die ihre Grundstücke nicht selbst bewirtschafteten und auch nicht Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, nicht in der Lage gewesen, diese zu behalten.

Durch das Modrow-Gesetz wurden alle Verfügungsbeschränkungen hinsichtlich der Bodenreformgrundstücke aufgehoben. Es ist jedoch anzumerken, dass dieses Gesetz sehr knapp gefasst ist. Obwohl es ausführt, dass die Verfügungsbeschränkungen aufgehoben und die Besitzwechselverordnungen widerrufen werden, enthält es weder spezielle Bestimmungen über die Stellung der Erben von Bodenreformgrundstücken noch Übergangsbestimmungen. Angesichts der uneinheitlichen Praxis der Behörden der DDR kann die Stellung von Erben, die wie die Bf. ihr Land nicht selbst bewirtschafteten und nicht Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, als unsicher angesehen werden. Die Feststellung des BVerfG, das Modrow-Gesetz enthalte versteckte Schlupflöcher, erscheint daher nicht ungerechtfertigt.

Mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14.7.1992 versuchte der deutsche Gesetzgeber aus Gründen der Fairness und der sozialen Gerechtigkeit die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren. Das Hauptziel des auf den Grundsätzen der Bodenreform- und der Besitzwechselverordnungen beruhenden Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes war es, alle Erben von Bodenreformgrundstücken so zu stellen, wie sie gestanden wären, wenn diese Grundsätze von den Behörden der DDR richtig angewendet worden wären. Dadurch sollte verhindert werden, dass Erben, welche die Voraussetzungen für eine Zuteilung nicht erfüllten, einen unfairen Vorteil gegenüber jenen hätten, die ihre Grundstücke an den Bodenfonds abtreten mussten, weil sie diese nicht selbst bewirtschafteten und nicht Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren.

Ein gänzliches Fehlen einer Entschädigung kann nur unter außergewöhnlichen Umständen als nach Art. 1 1. Prot. EMRK gerechtfertigt angesehen werden. Der GH muss daher prüfen, ob die einzigartigen Umstände der deutschen Wiedervereinigung das gänzliche Fehlen einer Entschädigung rechtfertigen können. In diesem Zusammenhang ist an den weiten Ermessensspielraum zu erinnern, der den Staaten bei der Erlassung von Gesetzen im Zusammenhang mit Änderungen des politischen oder wirtschaftlichen Systems zukommt. Die III. Kammer kam in ihrem Urteil im Hinblick auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber eine Eigentumsentziehung der Bf. zugunsten des Staates nicht vornehmen durfte, ohne eine angemessene Entschädigung vorzusehen. Der GH teil die Ansicht der Kammer in diesem Punkt nicht, wobei ihm drei Faktoren als entscheidend erscheinen.Ein gänzliches Fehlen einer Entschädigung kann nur unter außergewöhnlichen Umständen als nach Artikel eins, 1. Prot. EMRK gerechtfertigt angesehen werden. Der GH muss daher prüfen, ob die einzigartigen Umstände der deutschen Wiedervereinigung das gänzliche Fehlen einer Entschädigung rechtfertigen können. In diesem Zusammenhang ist an den weiten Ermessensspielraum zu erinnern, der den Staaten bei der Erlassung von Gesetzen im Zusammenhang mit Änderungen des politischen oder wirtschaftlichen Systems zukommt. Die römisch III. Kammer kam in ihrem Urteil im Hinblick auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber eine Eigentumsentziehung der Bf. zugunsten des Staates nicht vornehmen durfte, ohne eine angemessene Entschädigung vorzusehen. Der GH teil die Ansicht der Kammer in diesem Punkt nicht, wobei ihm drei Faktoren als entscheidend erscheinen.

Erstens die Umstände der Verabschiedung des Modrow-Gesetzes, das von einem nicht demokratisch gewählten Parlament während einer von Umwälzungen und Unsicherheiten geprägten Übergangsphase zwischen zwei Regierungsformen erlassen wurde. Unter diesen Voraussetzungen konnten die Bf., selbst wenn sie einen formalen Eigentumstitel erlangt hatten, nicht sicher sein, dass ihre rechtliche Stellung aufrechterhalten würde. Insbesondere blieb die Stellung derer, die ihr Land nicht selbst bewirtschafteten und nicht Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, angesichts des Fehlens jeglicher Bestimmung über Erben von Bodenreformgrundstücken im Modrow-Gesetz auch nach dessen Inkrafttreten unsicher. Zweitens die kurze Zeitspanne zwischen der deutschen Wiedervereinigung und der Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Angesichts der enormen Herausforderungen, die mit dem Übergang zu einem demokratischen, marktwirtschaftlichen System verbunden waren, wurde der Gesetzgeber in angemessener Frist tätig, um die aus seiner Sicht ungerechten Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren. Es kann ihm nicht vorgeworfen werden, die Auswirkungen dieses Gesetzes nicht am Tag der Wiedervereinigung in ihrem vollen Umfang erkannt zu haben. Drittens die Gründe für das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz. Der deutsche Bundestag erachtete sich nicht unvernünftigerweise als dazu verpflichtet, aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes dahingehend zu korrigieren, dass der Erwerb vollen Eigentums durch Erben von Bodenreformgrundstücken nicht mehr von der Tätigkeit bzw. Untätigkeit der Behörden der DDR abhängen sollte. Auch die Interessensabwägung des BVerfG bei der Prüfung der Verfassungskonformität dieses Gesetzes erscheint nicht willkürlich. Angesichts des unverhofften Glücksfalls, von dem die Bf. als Resultat des Modrow-Gesetzes unleugbar profitierten, war die Vorgehensweise des deutschen Gesetzgebers, der keine Entschädigung vorsah, nicht unverhältnismäßig. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz nicht nur den Staat begünstigte, sondern in einigen Fällen auch die Weitergabe von Land an Bauern vorsah.

Angesichts dieser Überlegungen und insbesondere unter Berücksichtigung der Unsicherheit der rechtlichen Stellung von Erben und den Gründen der sozialen Gerechtigkeit, auf die sich der deutsche Gesetzgeber stützte, gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass unter den einzigartigen Umständen der deutschen Wiedervereinigung das gänzliche Fehlen einer Entschädigung dem zwischen dem Schutz des Eigentums und dem Allgemeininteresse zu treffenden gerechten Ausgleich nicht entgegen steht. Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (11:6 Stimmen; Sondervotum von Richter Cabral Barreto; Sondervotum von Richter Pavlovschi; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa und Borrego Borrego, gefolgt von Richter Ress und Richterin Botoucharova).Angesichts dieser Überlegungen und insbesondere unter Berücksichtigung der Unsicherheit der rechtlichen Stellung von Erben und den Gründen der sozialen Gerechtigkeit, auf die sich der deutsche Gesetzgeber stützte, gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass unter den einzigartigen Umständen der deutschen Wiedervereinigung das gänzliche Fehlen einer Entschädigung dem zwischen dem Schutz des Eigentums und dem Allgemeininteresse zu treffenden gerechten Ausgleich nicht entgegen steht. Keine Verletzung von Artikel eins, 1. Prot. EMRK (11:6 Stimmen; Sondervotum von Richter Cabral Barreto; Sondervotum von Richter Pavlovschi; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa und Borrego Borrego, gefolgt von Richter Ress und Richterin Botoucharova).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 14, in Verbindung mit Artikel eins, 1. Prot. EMRK:

Die Bf. erachten sich gegenüber drei Kategorien von Personen diskriminiert: Personen, die im Zuge der Bodenreform Grundstücke als Neubauern erhalten hatten und am 15.3.1990 noch am Leben waren; Personen, die Grundstücke vor dem 15.3.1990 durch lebzeitigen Eigentumserwerb erworben hatten, und schließlich Personen, die zwischen 16.3.1990 und 2.10.1990 Grundstücke geerbt hatten. Da der vorliegende Fall in den Regelungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt, ist auch Art. 14 EMRK anwendbar.Die Bf. erachten sich gegenüber drei Kategorien von Personen diskriminiert: Personen, die im Zuge der Bodenreform Grundstücke als Neubauern erhalten hatten und am 15.3.1990 noch am Leben waren; Personen, die Grundstücke vor dem 15.3.1990 durch lebzeitigen Eigentumserwerb erworben hatten, und schließlich Personen, die zwischen 16.3.1990 und 2.10.1990 Grundstücke geerbt hatten. Da der vorliegende Fall in den Regelungsbereich von Artikel eins, 1. Prot. EMRK fällt, ist auch Artikel 14, EMRK anwendbar.

Eine unterschiedliche Behandlung ist dann diskriminierend im Sinne des Art. 14 EMRK, wenn sie keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung hat, wenn also kein legitimes Ziel verfolgt oder kein angemessenes Verhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem verfolgten legitimen Ziel besteht.Eine unterschiedliche Behandlung ist dann diskriminierend im Sinne des Artikel 14, EMRK, wenn sie keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung hat, wenn also kein legitimes Ziel verfolgt oder kein angemessenes Verhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem verfolgten legitimen Ziel besteht.

Das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz zielte darauf ab, die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren um eine Gleichbehandlung herbeizuführen zwischen Erben von Bodenreformgrundstücken, deren Land vor Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes am 16.3.1990 dritten Personen zugewiesen oder an den Bodenfonds rückübertragen wurde und solchen Erben, die zwar die Voraussetzungen für eine Zuteilung nicht erfüllten, bei denen es die Behörden der DDR aber unterließen, die Transfers durchzuführen und in die Grundbücher einzutragen.

Es gibt daher eine klare Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung der Bf. und jener Personen, die ihre Grundstücke nach dem Stichtag des 15.3.1990 geerbt hatten. Der Unterschied in der Behandlung der Bf. gegenüber im Ruhestand befindlichen Neubauern, die an diesem Tag noch am Leben waren, ist damit zu erklären, dass diese offiziell Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft blieben. Schließlich ist auch die Unterscheidung zwischen den Bf. und Personen, die die Grundstücke vor diesem Stichtag unter Lebenden erworben hatten, gerechtfertigt, weil zu dieser Zeit in der DDR der lebzeitige Eigentumserwerb von Bodenreformgrundstücken anderen Regeln unterworfen war als jenen, die im Erbsfall anwendbar waren.

Angesichts des legitimen Ziels, das im öffentlichen Interesse verfolgt wurde und des Ermessensspielraums, der dem Staat im Zusammenhang mit den einzigartigen Umständen der deutschen Wiedervereinigung zukommt, kann die Korrektur der Auswirkungen des Modrow-Gesetzes durch den Gesetzgeber nicht als unvernünftig angesehen werden. Da den Bf. auch keine unverhältnismäßige Bürde auferlegt wurde, beruhten die Bestimmungen des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes auf einer sachlichen und vernünftigen Rechtfertigung. Daher liegt keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK vor (15:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa und Borrego Borrego).Angesichts des legitimen Ziels, das im öffentlichen Interesse verfolgt wurde und des Ermessensspielraums, der dem Staat im Zusammenhang mit den einzigartigen Umständen der deutschen Wiedervereinigung zukommt, kann die Korrektur der Auswirkungen des Modrow-Gesetzes durch den Gesetzgeber nicht als unvernünftig angesehen werden. Da den Bf. auch keine unverhältnismäßige Bürde auferlegt wurde, beruhten die Bestimmungen des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes auf einer sachlichen und vernünftigen Rechtfertigung. Daher liegt keine Verletzung von Artikel 14, in Verbindung mit Artikel eins, 1. Prot. EMRK vor (15:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa und Borrego Borrego).

Vom GH zitierte Judikatur:

James u.a./GB v. 21.2.1986, EuGRZ 1988, 341.

Der ehemalige König von Griechenland/GR v. 23.11.2000, NL 2000, 228;

ÖJZ 2002, 351.

Wittek/D v. 12.12.2002, EuGRZ 2003, 224.

Forrer-Niedenthal/D v. 20.2.2003, NL 2003, 33.

von Maltzan u.a./D (ZE) v. 2.3.2005, NL 2005, 59; EuGRZ 2005, 305.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.6.2005, Bsw. 46720/99, Bsw. 72203/01 und Bsw. 72552/01 entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 176) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_4/Jahn.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00579 Bsw46720.99-U

Dokumentnummer

JJT_20050630_AUSL000_000BSW46720_9900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten