TE OGH 2005/9/27 1Ob58/05v

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Veröffentlicht am 27.09.2005
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Alexandra F*****, vertreten durch Prof. Dipl. Ing. Mag. Andreas O. Rippel, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Gemeinde (richtig: Land) Wien, vertreten durch Dr. Wolfgang Heufler, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 11.461,04 sA, infolge Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse EUR 9.968,50) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Dezember 2004, GZ 14 R 179/04b-51, mit welchem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 14. Juni 2004, GZ 33 Cg 14/01y-44, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Gericht zweiter Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung:

Die Klägerin ist die allein obsorgeberechtigte Mutter der am 25. 8. 1992 geborenen Sarah D*****. Mitarbeiter eines Amtes für Jugend und Familie der beklagten Partei (im Folgenden als „Jugendamt" bezeichnet) nahmen der Klägerin das Kind gemäß § 215 Abs 1 ABGB wegen Gefahr im Verzug ab. Am 5. 3. 2001 beantragte das Jugendamt beim damaligen Jugendgerichtshof, der Klägerin die Obsorge für das Kind im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen und sie auf die beklagte Partei als Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Dieser Antrag wurde damit begründet, dass am 1. 3. 2001 „die Schule" über eine Verletzung der rechten Gesichtshälfte des Kindes berichtet habe, welche laut Angaben des Kindes auf eine Tätlichkeit des Stiefvaters zurückzuführen sei. Das Kind sei bereits früher im Krisenzentrum und in einer Wohngemeinschaft - damals jeweils mit Zustimmung der Klägerin - aufhältig gewesen. Nach der Geburt ihres dritten Kindes habe die Klägerin die Termine in der Beratungsstelle nicht mehr eingehalten und alle Verhaltensauffälligkeiten des Kindes einem diagnostizierten „hyperkinetischen Syndrom" zugeschrieben.

Mit Beschluss des Jugendgerichtshofs Wien als Pflegschaftsgericht vom 6. 12. 2001, wurden die vom Jugendamt im Laufe des Verfahrens gestellten (modifizierten) Anträge, ab 1. 3. 2001 bis 8. 11. 2001 die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen sowie ab 8. 11. 2001 die Unterstützung der Pflege und Erziehung zu verfügen und die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung in näher umschriebenen Bereichen einzuschränken, abgewiesen. Mit Beschluss des Jugendgerichtshofs Wien als Rekursgericht vom 14. 1. 2003 wurde diese Entscheidung bestätigt. Im Verfahren vor dem Jugendgerichtshof wurden folgende wesentliche Feststellungen getroffen:

Das Kind leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (hyperkinetisches Syndrom), einer Anpassungsstörung mit gemischter Störung der Emotion und des Sozialverhaltens sowie einer Entwicklungsstörung der motorischen Funktion. Zudem liegt eine psychosoziale Belastung vor. Geringste Frustrationserlebnisse führten zu Wut- und Verzweiflungsausbrüchen sowie zu Aggressionsakten gegen sich und andere, begleitet von Geschrei und Verbalattacken. Bereits im Jahr 1998 wurde das Kind im Einverständnis mit der Mutter in Gemeindepflege übernommen und nach etwa einem Jahr wieder nach Hause entlassen. Am 31. 1. 2001 diagnostizierte eine klinische Psychologin das Vorliegen des „hyperkinetischen Syndroms" , welches seither medikamentös behandelt wurde. Eine Psychotherapie war konkret eingeleitet.

Beim Vorfall vom 1. 3. 2001 hatte das Kind einen Wutausbruch und ging auf die Mutter los. Es biss die Mutter, während diese versuchte, die Arme des Kindes festzuhalten. Im Zuge dieses Ausbruchs versetzte der Stiefvater dem Kind eine „Tachtel" auf den Kopf. Ob diese zu einer Verletzung führte, konnte nicht festgestellt werden. In der Schule erzählte das Kind den Lehrerinnen, dass es wieder „gesponnen" und vom Stiefvater wieder „Watschen" bekommen habe. Die Lehrerinnen und die Schulärztin stellten eine deutlich angeschwollene Wange über dem rechten Jochbein, eine Dunkelfärbung außen am Rand des rechten Auges und Spuren von Blutergüssen im Bereich der rechten Nasenwurzel fest. Nach Information des Jugendamts wurde das Kind noch am 1. 3. 2001 ins Krisenzentrum gebracht. Am 4. 3. 2001 diagnostizierten Ärzte des Allgemeinen Krankenhauses eine eitrige Zahnentzündung mit Schwellung der Wange.

Nicht festgestellt werden konnte, ob das Kind bereits früher vom Stiefvater geschlagen worden war. Ende Mai 2001 wurde das Kind aus dem Krisenzentrum in eine Wohngemeinschaft gebracht, die Wochenenden und jeden Mittwoch Nachmittag verbrachte es bei der Klägerin. Im Sommer fuhr diese gemeinsam mit dem Kind einen Monat lang auf Urlaub. Nach einem anschließenden, etwa vierzehntägigen Aufenthalt bei der Großmutter kehrte das Kind wieder in die Wohngemeinschaft zurück. Am 24. 9. 2001 kam es über Auftrag des Gerichts zu einer Aufnahme in die Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde, Station für Heilpädagogik und Psychosomatik. Die Wochenenden verbrachte das Kind auch dann weiterhin bei der Familie zu Hause. Ein Verdacht, dass das Kind dort missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt wurde, hat sich nicht ergeben. Am 8. 11. 2001 wurde das Kind zur Mutter entlassen. Unter der Voraussetzung einer Einzeltherapie, einer familientherapeutischen Erziehungsberatung, der Fortsetzung der Medikation und Durchführung von Ambulanzkontrollen wurde die Rückführung in die Familie befürwortet.

Das Kind liebt seine Mutter und auch den Stiefvater, zur Mutter hat es eine enge Beziehung. Die Mutter erkennt die Problematik und möchte einzeltherapeutische und familientherapeutische Hilfe annehmen.

Rechtlich ging der Jugendgerichtshof davon aus, dass die Unterbringung im Krisenzentrum am 1. 3. 2001 wegen des Verdachts einer Misshandlung mit Verletzungsfolgen gerechtfertigt und erforderlich gewesen sei. Nach Feststellung der eitrigen Zahnentzündung (am 4. 3. 2001) hätte aber die Rückführung zur Mutter erfolgen müssen, weil die weitere Abklärung des Krankheitsbildes und der notwendigen Therapien ohne Gefährdung des Kindeswohls bei der Mutter hätte erfolgen können. Die Gefährdung des Kindeswohls resultiere allein aus den fremd- und autoaggressiven Handlungen des Kindes, welche aber auf seinen Gesundheitszustand und nicht auf das Verhalten der Mutter rückführbar seien. Insofern habe nicht die Mutter durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes gefährdet. Außerdem hätte vor der Antragstellung auf Übertragung der Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger erhoben werden müssen, ob nicht eine Verwandte oder eine andere nahestehende Person (etwa die Großmutter) für diese Aufgabe hätte gefunden werden können.

Mit der Behauptung, die Kindesabnahme sei rechtswidrig und schuldhaft durchgeführt und aufrecht erhalten worden, forderte die Klägerin im vorliegenden Verfahren von der beklagten Partei den Ersatz von „Generalunkosten" und jener Kosten, die ihr durch ihre Rechtsvertretung im Rahmen des Entzugsverfahrens entstanden seien, insgesamt EUR 11.461,04.

Die beklagte Partei sprach sich gegen die Berücksichtigung der - erst während des laufenden Verfahrens ergangenen - Rekursentscheidung des Jugendgerichtshofs aus und führte - zusammengefasst - aus, dass die Handlungsweisen der Organe der beklagten Partei jedenfalls vertretbar gewesen seien.

Das Erstgericht gab der Klage teilweise statt und verurteilte die beklagte Partei unter Abweisung des Mehrbegehrens zur Zahlung von EUR 9.528,36 sA. Die eingeklagte Forderung sei als Amtshaftungsanspruch zu qualifizieren, weil es sich bei den dem Jugendamt vorgeworfenen Verhaltensweisen um Realakte gehandelt habe, die der schlichten Hoheitsverwaltung zuzuordnen seien. Infolge Bindungswirkung der Beschlüsse des Jugendgerichtshofs sei die Verhaltensweise des Jugendamts ab dem 4. 3. 2001 als unvertretbar rechtswidrig zu qualifizieren. Die im Zusammenhang damit von der Klägerin aufgewendeten Rechtsvertretungskosten seien als notwendiger und zweckmäßiger Rettungsaufwand anzusehen. Lediglich für die auf den Zeitraum vom 1. bis 4. 3. 2001 entfallenden anwaltlichen Leistungen stehe kein Ersatzanspruch zu, weil in diesem Zeitraum die Kindesabnahme gerechtfertigt gewesen sei.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es das Klagebegehren wegen mangelnder Passivlegitimation gänzlich abwies. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Der hoheitliche Charakter der vom Jugendamt gesetzten Maßnahmen sei zu verneinen. Vorläufige Maßnahmen, die ein Jugendwohlfahrtsträger nach § 215 Abs 1 ABGB wegen Gefahr im Verzug selbst treffe, würden in Ausübung der gesetzlich angeordneten vorläufigen Obsorge bzw Sachwalterschaft und somit durch den - provisorischen - gesetzlichen Vertreter des Kindes getroffen. Folglich könnten sie nicht als hoheitlich angesehen werden, sondern seien dem Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung zuzuordnen. Dagegen spreche auch nicht der gerade im vorliegenden Fall zu Tage tretende Zwangscharakter, sei doch die Anwendung von Zwang gerade auch bei der Aufenthaltsbestimmung eines Kindes der Ausübung der Obsorge durchaus immanent. Wenngleich im Rahmen der öffentlichen Jugendwohlfahrt sowohl hoheitliche als auch nicht hoheitliche Vorgangsweisen vorkommen könnten, sei die Jugendwohlfahrtspflege grundsätzlich der Privatwirtschaftsverwaltung der damit betrauten Jugendwohlfahrtsträger zugewiesen. Ein Amtshaftungsanspruch scheitere daher am fehlenden hoheitlichen Charakter des inkriminierten Einschreitens der beklagten Partei.

Die Revision der klagenden Partei ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

In der Entscheidung 1 Ob 49/05w vom 24. 6. 2005 sprach der erkennende Senat unter Ablehnung der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts aus, die Wahrnehmung der Kompetenz zur Ergreifung vorläufiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung durch den Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB gegen den Willen der Obsorgeberechtigten (durch Unterbringung eines Minderjährigen in einer psychologischen Beobachtungsstation zwecks Abklärung des Verdachts des sexuellen Missbrauchs) stelle eine hoheitliche Handlung dar. Dies leite sich aus der Doppelfunktion der öffentlichen Jugendwohlfahrt ab. Diese erschöpfe sich nicht in der Mitwirkung an der Vollziehung eines bestimmten Teils des privatrechtlichen Obsorgerechts im Interesse bestimmter Minderjähriger und deren Familien, sondern entspreche auch dem gesellschaftlichen Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung nachwachsender Generationen. So sei insbesonders die Hintanhaltung des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und die Klärung einer entsprechender Verdachtslage durch Maßnahmen der öffentlichen Jugendwohlfahrt nicht auf die Wahrnehmung der Interessen bestimmter Individuen in Vollziehung des privatrechtlichen Obsorgerechts beschränkt. Offenkundig sei deshalb in der Entscheidung SZ 62/74 betont worden, die „Regelungen der Jugendwohlfahrt" dienten „auch dem Wohl der gesamten inländischen Bevölkerung". Qualifiziere man Maßnahmen der Jugendwohlfahrtsbehörde nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB rein als privatwirtschaftliches Verhalten, würden die Interessen der Allgemeinheit übergangen. Werde Interessen der Allgemeinheit mit behördlichem Zwang zum Durchbruch verholfen, so bestehe - außer im Bereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt - gewöhnlich kein Zweifel am Einsatz dieses Zwangs als hoheitliches Mittel. Die Annahme hoheitlichen Handelns entspreche der Ansicht Schragels (AHG³ § 1 Rz 108). Die gegenteilige Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (Erkenntnisse des VwGH 93/11/0221 = VwSlg 14.326 A/1995 und VfGH G 47/87 = VfSlg 11.492/1987) würde auf einer verkürzten Perspektive bei der Beurteilung der für Hoheitsakte maßgebenden Voraussetzungen beruhen. Das von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts gebrauchte Argument, die Ausübung unmittelbaren Zwangs sei „auch dem Privatrecht nicht ganz fremd", überzeuge nicht. Im Allgemeinen würde man nicht auf die Idee kommen, dass Polizisten privatwirtschaftlich einschreiten, wenn sie einen Einbruchsdieb in Wahrnehmung einer Aufgabe der Sicherheitspolizei im Dienste der Allgemeinheit unter Anwendung von Gewalt an der Tatausführung hindern, nur weil sich auch der betroffene Sacheigentümer iSd § 344 ABGB mit angemessener Gewalt gegen einen Einbruchsdieb hätte zur Wehr setzen dürfen. Auch das Argument des Verfassungsgerichtshofs, es gehe darum, „der Ausübung von Zwang durch die Eltern ... den allenfalls nötigen Nachdruck zu verleihen", überzeuge nicht, da offenbar nicht eine unmittelbare Zwangsmaßnahme durch eine Behörde angesprochen sei, sondern ein Zwang durch Eltern oder Vormünder, dem die Behörde durch ihre Mitwirkung entweder bloß „Nachdruck" verleihe oder bei dem die Behörde in nicht näher beschriebener Weise lediglich assistiere. Der Zwang nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB beruhe dagegen auf einer - vor allem auch im Interesse der Allgemeinheit gelegenen - anderen Qualität staatlicher Machtausübung.In der Entscheidung 1 Ob 49/05w vom 24. 6. 2005 sprach der erkennende Senat unter Ablehnung der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts aus, die Wahrnehmung der Kompetenz zur Ergreifung vorläufiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung durch den Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB gegen den Willen der Obsorgeberechtigten (durch Unterbringung eines Minderjährigen in einer psychologischen Beobachtungsstation zwecks Abklärung des Verdachts des sexuellen Missbrauchs) stelle eine hoheitliche Handlung dar. Dies leite sich aus der Doppelfunktion der öffentlichen Jugendwohlfahrt ab. Diese erschöpfe sich nicht in der Mitwirkung an der Vollziehung eines bestimmten Teils des privatrechtlichen Obsorgerechts im Interesse bestimmter Minderjähriger und deren Familien, sondern entspreche auch dem gesellschaftlichen Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung nachwachsender Generationen. So sei insbesonders die Hintanhaltung des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und die Klärung einer entsprechender Verdachtslage durch Maßnahmen der öffentlichen Jugendwohlfahrt nicht auf die Wahrnehmung der Interessen bestimmter Individuen in Vollziehung des privatrechtlichen Obsorgerechts beschränkt. Offenkundig sei deshalb in der Entscheidung SZ 62/74 betont worden, die „Regelungen der Jugendwohlfahrt" dienten „auch dem Wohl der gesamten inländischen Bevölkerung". Qualifiziere man Maßnahmen der Jugendwohlfahrtsbehörde nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB rein als privatwirtschaftliches Verhalten, würden die Interessen der Allgemeinheit übergangen. Werde Interessen der Allgemeinheit mit behördlichem Zwang zum Durchbruch verholfen, so bestehe - außer im Bereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt - gewöhnlich kein Zweifel am Einsatz dieses Zwangs als hoheitliches Mittel. Die Annahme hoheitlichen Handelns entspreche der Ansicht Schragels (AHG³ Paragraph eins, Rz 108). Die gegenteilige Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (Erkenntnisse des VwGH 93/11/0221 = VwSlg 14.326 A/1995 und VfGH G 47/87 = VfSlg 11.492/1987) würde auf einer verkürzten Perspektive bei der Beurteilung der für Hoheitsakte maßgebenden Voraussetzungen beruhen. Das von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts gebrauchte Argument, die Ausübung unmittelbaren Zwangs sei „auch dem Privatrecht nicht ganz fremd", überzeuge nicht. Im Allgemeinen würde man nicht auf die Idee kommen, dass Polizisten privatwirtschaftlich einschreiten, wenn sie einen Einbruchsdieb in Wahrnehmung einer Aufgabe der Sicherheitspolizei im Dienste der Allgemeinheit unter Anwendung von Gewalt an der Tatausführung hindern, nur weil sich auch der betroffene Sacheigentümer iSd § 344 ABGB mit angemessener Gewalt gegen einen Einbruchsdieb hätte zur Wehr setzen dürfen. Auch das Argument des Verfassungsgerichtshofs, es gehe darum, „der Ausübung von Zwang durch die Eltern ... den allenfalls nötigen Nachdruck zu verleihen", überzeuge nicht, da offenbar nicht eine unmittelbare Zwangsmaßnahme durch eine Behörde angesprochen sei, sondern ein Zwang durch Eltern oder Vormünder, dem die Behörde durch ihre Mitwirkung entweder bloß „Nachdruck" verleihe oder bei dem die Behörde in nicht näher beschriebener Weise lediglich assistiere. Der Zwang nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB beruhe dagegen auf einer - vor allem auch im Interesse der Allgemeinheit gelegenen - anderen Qualität staatlicher Machtausübung.

Diese auf das öffentliche Interesse abzielende Argumentation trifft nicht nur auf die Unterbringung eines Minderjährigen in einer psychologischen Begutachtungsstation zwecks Klärung des Verdachts dessen sexuellen Missbrauchs durch einen Obsorgeberechtigten zu, sondern auch auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt der Unterbringung eines krankheitsbedingt verhaltensauffälligen Kindes in ein Kriseninterventionszentrum, um zu verhindern, dass es während der auf die Erkrankung zurückzuführenden Anfälle einerseits selbst Aggressionshandlungen gegen andere setzt und andererseits durch Obsorgeberechtigte allenfalls fortgesetzt körperlich misshandelt und verletzt wird. Ausgehend von dieser potentiellen Gefahrensituation liegt das Eingreifen der öffentlichen Jugendwohlfahrt in familiäre Beziehungen nicht nur im Interesse des betroffenen Kindes, sondern auch im öffentlichen Interesse. Nimmt also der Jugendwohlfahrtsträger seine Kompetenz zur Ergreifung vorläufiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB - hier durch Unterbringung eines Kindes in einem Kriseninterventionszentrum, um die gedeihliche Entwicklung des Minderjährigen zu gewährleisten - in Anspruch, so handelt er hoheitlich. Davon ausgehend ist die Passivlegitimation der beklagten Partei zu bejahen.

Ein Widerspruch zu den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen 1 Ob 68/66 und 1 Ob 721/78 (= EvBl 1979/226) besteht nicht:

Der Entscheidung 1 Ob 68/66 lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein vierzehn Monate altes, in ein Kinderheim eingewiesenes Kind durch die Unaufmerksamkeit einer Betreuungsperson beim Baden verbrüht wurde. Bereits damals sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass zwar die Pflege und Betreuung des Kindes in dem Heim (in concreto: das Baden) keinen Akt der Hoheitsverwaltung darstelle, da diese Art der Pflege und Betreuung eine Funktion sei, die auch jeder andere Inhaber eines Heims zu erfüllen habe. Wohl aber sei jene Verfügung, aufgrund derer das Kind in die Anstalt eingewiesen wurde, als Akt der Hoheitsverwaltung zu sehen.

Der Entscheidung 1 Ob 721/78 lag zugrunde, dass sich ein in ein Erziehungsheim eingewiesener „Zögling" dort bei einem Sturz in einen offenen Schacht Verletzungen zuzog. Zur Rechtsnatur der Einweisung des „Zöglings" in das Erziehungsheim bezog der Oberste Gerichtshof in dieser Entscheidung nicht Stellung, da der Schaden aus der gefährlichen Beschaffenheit des (Heim)Gebäudes resultierte und daher nicht in Vollziehung der Gesetze zugefügt worden war.

Die Rechtswidrigkeit der von der beklagten Partei bzw deren Vertretern gesetzten Maßnahmen ab dem 4. 3. 2001 ergibt sich bindend aus der rechtskräftigen Entscheidung des Pflegschaftsgerichts. Zu prüfen bleibt aber, ob den Organen der beklagten Partei in diesem Zusammenhang ein Verschulden anzulasten ist. Die Frage, ob die von den Vertretern der beklagten Partei gesetzten Maßnahmen, insbesondere das Aufrechterhalten des Antrags auf Übertragung der Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger, vertretbar war oder nicht, bildete nicht den Gegenstand der pflegschaftsgerichtlichen Entscheidung, sondern ist erstmals im vorliegenden Amtshaftungsverfahren zu prüfen. Nach der ständigen Rechtsprechung muss nämlich selbst ein rechtswidriges Verhalten noch nicht schuldhaft sein, so zum Beispiel wenn das für den Rechtsträger handelnde Organ eine Entscheidung in einer kritischen oder schwer überschaubaren Situation fassen musste oder eine Zukunftsprognose vorzunehmen war, die immer mit Unsicherheitsfaktoren belastet ist (siehe Schragel, AHG³ Rz 159 mwN). Maßgeblich wird also sein, ob die Organe der beklagten Partei in unvertretbarer Weise gegen ihre Pflicht verstoßen haben, jeweils die zur Wahrung des Wohles erforderlichen, das heißt im Einzelfall möglichst angepassten Verfügungen zu beantragen; weiters ob sie in unvertretbarer Weise den dabei zu beachtenden Grundsatz des geringst möglichen Eingriffs verletzt haben und ob der vorgenommene Eingriff in unvertretbarer Weise über das zur Sicherung des Kindeswohles Notwendige hinausging (Ent-Frischengruber, Jugendwohlfahrtsrecht, Anm 6 zu § 215 ABGB). Bei dieser Beurteilung wird nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Pflegschaftsgerichts, sondern auf jene Situation abzustellen sein, wie sie (damals) zum Zeitpunkt der Entscheidung bzw der Maßnahmen des Jugendwohlfahrtsträger gegeben war.

Ausgehend von seiner durch den Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsansicht unterließ das Gericht zweiter Instanz eine Erledigung der in der Berufung der beklagten Partei im Zusammenhang mit der Frage der Vertretbarkeit des Organverhaltens erstatteten Mängel- und Beweisrüge. Somit ist die Aufhebung des angefochtenen Urteils unvermeidlich. Das Berufungsgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren nach Erledigung der Mängel- und Beweisrüge neuerlich zu entscheiden haben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E78772

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2005:0010OB00058.05V.0927.000

Im RIS seit

27.10.2005

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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