TE Vwgh Erkenntnis 2007/9/19 2006/08/0157

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Veröffentlicht am 19.09.2007
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
62 Arbeitsmarktverwaltung;
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze;

Norm

AlVG 1977 §10;
AlVG 1977 §11 idF 2004/I/077;
AlVG 1977 §9 Abs2 idF 2004/I/077;
B-VG Art7;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Köller, Dr. Moritz und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Marzi, über die Beschwerde der B H in Manhartsbrunn, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Favoritenstraße 108/3, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom 23. Februar 2006, Zl. LGS NÖ/RAG/05661/2006, betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Am 22. November 2005 wurde mit der Beschwerdeführerin beim Arbeitsmarktservice Mistelbach eine Niederschrift wegen der Beendigung eines Dienstverhältnisses in der Probezeit bei der Firma I. am 13. September 2005 aufgenommen, in der die Beschwerdeführerin als Nachsichtsgrund angab (Schreibfehler wie im Original):

"Ich habe oben angeführted DVH selbst in der Probezeit gelöst, weil ich 1,5 Stunden Fahrtzeit pro Strecke in Kauf nehmen mußte - für eine Teilzeitarbeitszeit von 4 Stunden täglich - was sich für mich nicht gerechnet hätte. Durch die Teilzeitbeschäftigung habe ich auch keinen Anspruch auf Pendlerpauschale durch das FA gehabt."

Mit Bescheid vom 23. November 2005 hat das Arbeitsmarktservice Mistelbach festgestellt, dass die Beschwerdeführerin für die Zeit vom 14. September bis zum 11. Oktober 2005 keine Notstandshilfe erhalte und keine Nachsicht erteilt werde. Das Ermittlungsverfahren habe ergeben, dass die Beschwerdeführerin ihr Dienstverhältnis bei der Firma I. während der Probezeit freiwillig gelöst habe und dass Gründe für eine Nachsicht der Rechtsfolgen nicht vorlägen.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, sie habe an den beiden Tagen, an denen sie für die Firma I. tätig gewesen sei, mögliche Fahrtrouten mit dem eigenen Pkw ausprobiert, wobei sie jeweils für eine Fahrtstrecke mindestens 1,25 bis 1,5 Stunden gebraucht habe. Es habe sich um eine Teilzeitarbeit mit einer Arbeitszeit von vier Stunden täglich gehandelt, bei der sie ca. 3 Stunden täglich unterwegs gewesen sei. Dies sei weder zeitlich noch finanziell in einem Verhältnis zueinander gestanden.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde der Berufung keine Folge gegeben und festgestellt,

"1. Der Tatbestand des § 11 iVm § 38 AlVG wurde erfüllt.

2. Berücksichtungswürdige Umstände gemäß § 11. Satz 2 iVm § 38 AlVG liegen nicht vor."

In der Begründung gab die belangte Behörde die Bestimmung des § 11 AlVG und den Inhalt des erstinstanzlichen Bescheides sowie der Berufung wieder und stellte folgenden Sachverhalt fest:

"Die (Beschwerdeführerin) war am 16.09.2003 bis 08.06.2004 als kfm. Angestellte bei der Fa. P. GmbH in 2320 Schwechat beschäftigt: Das Dienstverhältnis wurde einvernehmlich gelöst. Am 15.06.2004 stellte sie einen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld, welches ihr gemäß den gesetzlichen Bestimmungen auch 140 Tage ausbezahlt wurde. Seit 21.11.2004 bezieht sie laufend Notstandshilfe. Sie ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Die (Beschwerdeführerin) hat den Führerschein B. jedoch keinen eigenen Pkw laut telefonischer Auskunft bei der BH Mistelbach vom 10.01.2006.

Die (Beschwerdeführerin) war vom 12.09.2005 bis 13.09.2005 bei der Fa. I in 1040 Wien als Angestellte beschäftigt. Das Dienstverhältnis wurde im Probemonat gelöst. Niederschriftlich erklärte die (Beschwerdeführerin) am 22.11.2005, dass sie keine Klage gegen die Lösung in der Probezeit eingebracht hat. Sie hat ihr Dienstverhältnis selbst gelöst, da sie 1 1/2 Stunden Fahrzeit pro Strecke in Kauf nehmen musste und für eine Teilzeitarbeit von vier Stunden täglich, es sich für sie nicht gerechnet hätte. Durch die Teilzeitbeschäftigung hatte sie auch keinen Anspruch auf Pendlerpauschale durch das Finanzamt. Telefonisch gab der Dienstgeber am 15.11.2005 an, dass die (Beschwerdeführerin) ihr Dienstverhältnis per SMS in der Probezeit gelöst hat. Die (Beschwerdeführerin) bestätigte diese Angabe.

Im ergänzenden Ermittlungsverfahren wurde festgestellt, dass die Strecke vom Wohnort der Berufungswerberin in 2203 Manhartsbrunn bis zum Arbeitsort in 1040 Wien, Wiedner Hauptstraße ca. 31 km beträgt und die Fahrzeit mit dem Pkw laut Routenplaner 42 Minuten. Weiters wurde eruiert, dass öffentliche Verkehrsmittel und zwar die Autobuslinie Dr. Richard Nr. 228 von Manhartsbrunn nach Floridsdorf verkehrt und die Fahrzeit mit dem Autobus ca. 30 Minuten beträgt. Die Fahrzeit von Wien Floridsdorf nach Wien Karlsplatz mit einmal umsteigen beträgt ca. 15 Minuten.

Laut Pendleranalyse der Arbeiterkammer Niederösterreich von 2005 beträgt der Auspendleranteil im Bezirk Mistelbach 51,8 % insgesamt und davon pendeln 66 % nach Wien.

Die (Beschwerdeführerin) hat laut Abfrage des Hauptverbandes der Österreichischen Sozialversicherung vom 03.01.2006 bis dato keine Beschäftigung aufgenommen."

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 AlVG aus, die Wegzeit vom Wohnort zum Arbeitsplatz der Beschwerdeführerin betrage nach dem Routenplaner 40 Minuten, was bei einer Teilzeitbeschäftigung jedenfalls zumutbar sei. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln betrage der Zeitbedarf für den Hin- und Rückweg ca. 2 Stunden, auch dies sei zumutbar. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten seien dann zumutbar, wenn unter anderem am Wohnort lebende Personen üblicherweise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen hätten. Nach den Feststellungen aus der Pendleranalyse seien längere Anfahrtszeiten zum Arbeitsplatz nach Wien ortsüblich und daher im Sinne der Bestimmung des § 9 Abs. 2 AlVG auch zumutbar. Die Zumutbarkeit der Beschäftigung gemäß § 9 Abs. 2 AlVG sei daher sowohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln als auch mit einem Privat-Pkw gegeben. Es liege der Tatbestand des § 11 AlVG vor, Nachsichtsgründe seien keine gegeben. Die Beschwerdeführerin habe bis dato keine Beschäftigung aufgenommen und es lägen auch keine gesundheitlichen Einschränkungen vor. Die in der Berufung geltend gemachten Gründe (langer Anfahrtsweg zum Arbeitsort, Lösung in der Probezeit) seien, im Gesamtzusammenhang betrachtet, keine berücksichtigungswürdigen Umstände und hätten daher nicht zur Nachsicht führen können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde hat die Sperre des Bezuges von Notstandshilfe durch die Beschwerdeführerin damit begründet, dass diese ihr Dienstverhältnis freiwillig gelöst habe; es liege kein Nachsichtsgrund vor.

§ 11 AlVG in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 77/2004 (vgl. § 79 Abs. 78 AlVG) lautet:

"§ 11. Arbeitslose, deren Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet worden ist oder die ihr Dienstverhältnis freiwillig gelöst haben, erhalten für die Dauer von vier Wochen, gerechnet vom Tage der Beendigung des Dienstverhältnisses an, kein Arbeitslosengeld. Der Ausschluss vom Bezug des Arbeitslosengeldes ist in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie zB bei freiwilliger Beendigung eines Dienstverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Aufnahme einer anderen Beschäftigung, nach Anhörung des Regionalbeirates ganz oder teilweise nachzusehen."

Strittig ist vorliegend, ob wegen der von der Beschwerdeführerin benötigten Zeit für den Weg zur Arbeitsstelle ein berücksichtigungswürdiger Fall für eine Nachsicht gegeben ist. Zur Beantwortung dieser - von ihr verneinten - Frage hat die belangte Behörde die Bestimmung des § 9 Abs. 2 AlVG über die zumutbare Wegzeit für Hin- und Rückweg zur und von der Arbeitsstelle herangezogen.

§ 9 Abs. 1 und 2 in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 77/2004 (vgl. § 79 Abs. 78 AlVG) lautet:

"§ 9. (1) Arbeitswillig ist, wer bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen, sich zum Zwecke beruflicher Ausbildung nach- oder umschulen zu lassen, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen, von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen und von sich aus alle gebotenen Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung zu unternehmen, soweit dies entsprechend den persönlichen Fähigkeiten zumutbar ist.

(2) Eine Beschäftigung ist zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten der arbeitslosen Person angemessen ist, ihre Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist, in einem nicht von Streik oder Aussperrung betroffenen Betrieb erfolgen soll, in angemessener Zeit erreichbar ist oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung steht sowie gesetzliche Betreuungsverpflichtungen eingehalten werden können. Als angemessene Entlohnung gilt grundsätzlich eine zumindest den jeweils anzuwendenden Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechende Entlohnung. Die zumutbare Wegzeit für Hin- und Rückweg soll tunlich nicht mehr als ein Viertel der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit betragen. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten sind nur unter besonderen Umständen, wie zB wenn am Wohnort lebende Personen üblicher Weise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen haben oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten werden, zumutbar. Bei einer Vollzeitbeschäftigung ist aber jedenfalls eine tägliche Wegzeit von zwei Stunden und bei einer Teilzeitbeschäftigung mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens 20 Stunden eine tägliche Wegzeit von eineinhalb Stunden zumutbar."

Die für den Beschwerdefall wesentlichen Passagen des besonderen Teiles der Erläuterungen zur RV, 464 BlgNR XXII. GP, lauten:

"§ 9 Abs. 1 AlVG ist inhaltlich unverändert und wurde lediglich formal an die Legistischen Richtlinien 1990 angepasst.

§ 9 Abs. 2 AlVG enthält neben den bisherigen, im Abs. 2 erster Satz und im Abs. 4 gesetzlich festgelegten Voraussetzungen und der der ständigen Rechtsprechung entsprechenden Auslegung des Begriffes 'angemessen entlohnt' die bisher im Abs. 3 geregelten Komponenten der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes und der Vereinbarkeit mit Betreuungspflichten. Die bisher vorgesehene unterschiedliche Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung in Abhängigkeit von der Lage des Arbeitsplatzes innerhalb oder außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes führt vielfach zu unbilligen Ergebnissen und soll daher entfallen. Stattdessen soll die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes innerhalb einer angemessenen Zeit geprüft werden. Im Hinblick auf die unterschiedlichen regionalen und persönlichen Umstände soll von der starren Festlegung einer Grenze im Gesetz abgesehen werden. Die Beurteilung der Angemessenheit der Wegzeit soll unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen der Wegzeit und der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit erfolgen. Als durchschnittliche tägliche Wegzeit soll die in der Regel täglich zurück zu legende Wegzeit gelten. Die Wegzeit (von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück) soll im Allgemeinen ein Viertel der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit nicht wesentlich überschreiten. Bei unterschiedlicher Verteilung der Wochenarbeitszeit ist auf die durchschnittliche Arbeitszeit an den Beschäftigungstagen abzustellen. Wenn die Wegzeit, etwa auf Grund der Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel, geringfügig (zB eine Viertelstunde) über der Richtwertzeit liegt, wird die Angemessenheit noch nicht in Frage zu stellen sein. Da die Kollektivverträge zum Teil unterschiedliche, von der gesetzlichen Normalarbeitszeit abweichende, Normalarbeitszeiten vorsehen (zB 37,5 oder 38,5 Stunden) wird, um aufwändige Nachforschungen und Streitigkeiten zu vermeiden, im Sinne einer praktikablen Lösung klar gestellt, dass zwei Stunden Wegzeit täglich bei einer Vollzeitbeschäftigung immer zumutbar sind. Eine wesentlich längere Wegzeit, also zB drei Stunden bei einer täglichen Arbeitszeit von acht Stunden, soll nur bei Vorliegen besonderer Umstände zumutbar sein. Solche Umstände werden jedenfalls vorliegen, wenn bei Einhaltung der Richtwegzeit eine längere Arbeitslosigkeit unvermeidlich wäre. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die arbeitslose Person einen besonders entlegenen Wohnsitz hat, von dem aus ein geeigneter Arbeitsplatz nicht in kürzerer Zeit erreichbar ist, aber auch wenn auf Grund der regionalen Arbeitsmarktsituation kein näherer Arbeitsplatz gefunden werden kann. Einen Anhaltspunkt für die Angemessenheit einer Wegzeit bietet die von am Wohn- oder Aufenthaltsort lebenden Tagespendlern üblicher Weise zurück gelegte Fahrzeit. Eine längere Wegzeit ist auch zumutbar, wenn die größere Entfernung durch besonders günstige Arbeitsbedingungen aufgewogen wird. Bei Teilzeitarbeit ist jedenfalls eine Wegzeit von eineinhalb Stunden (hin und zurück) zumutbar, wenn die Wochenarbeitszeit mindestens 20 Stunden beträgt.

Die Arbeitszeit einschließlich der Wegzeit darf jedenfalls die Wahrnehmung der sich aus gesetzlichen Vorschriften, zB auch den jeweiligen Jugendwohlfahrtsgesetzen der Länder, ergebenden Betreuungsverpflichtungen nicht gefährden. Ausgehend von der grundsätzlichen Verfügbarkeit zumindest für eine übliche, Arbeitslosigkeit ausschließende Teilzeitbeschäftigung, die gemäß § 7 AlVG jedenfalls Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld ist, besteht bei Betreuungspflichten, insbesondere für Kinder im Vor- und Grundschulalter, bei Fehlen entsprechender anderer Betreuungsmöglichkeiten nur eine zeitlich und örtlich eingeschränkte Arbeitsmöglichkeit.

...

Die Nachsichtsregelungen im § 10 Abs. 3 und im neuen § 11 Abs. 2 (gemeint kann nur Satz 2 sein, weil § 11 AlVG in dieser Fassung nur einen Absatz hat) sehen weiterhin eine Befassung des Regionalbeirates vor, wenn Umstände vorliegen, deren Berücksichtigungswürdigkeit zu beurteilen ist. Im Wege der Nachsicht ist eine flexible Handhabung der Mindestdauer der Sanktionen möglich. Die berücksichtigungswürdigen Gründe müssen, wie die im Gesetz angeführten Beispiele zeigen, im Zusammenhang mit der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme der Beschäftigung stehen und können nicht nachteilige finanzielle Folgen betreffen, weil andernfalls die Sanktionsdrohung letztlich ins Leere ginge. An der Unterschiedlichkeit der Sanktionen, nämlich einem mit einer Verkürzung der Bezugsdauer verbundenen Anspruchsverlust im Fall des § 10 und einem nur vorübergehenden Ausschluss vom Bezug ohne Verkürzung der Bezugsdauer im Fall des § 11, soll sich nichts ändern."

Der belangten Behörde ist beizupflichten, wenn sie in der Dauer des Arbeitsweges, so diese eine gewisse Zeit überschreitet, einen berücksichtigungswürdigen Fall im Sinne des § 11 Satz 2 AlVG sieht. Es ist ihr nicht entgegenzutreten, wenn sie zur Beantwortung der Frage, ob die Länge des Arbeitsweges ein Nachsichtsgrund ist, die Zumutbarkeitsbestimmung des § 9 Abs. 2 AlVG herangezogen hat. Ist nämlich die Beschäftigung wegen eines zu langen Arbeitsweges nicht zumutbar, kann darin auch ein berücksichtigungswürdiger Grund, das Dienstverhältnis freiwillig zu lösen, liegen.

Zu der zuletzt genannten Bestimmung des § 9 Abs. 2 AlVG hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde Bedenken in verfassungsrechtlicher Hinsicht geäußert; im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Zweifel an der Konformität dieser Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht entstanden (vgl. in dieser Hinsicht auch Pfeil, DRdA 2006, 100f). Der Beschwerdeführerin und der belangten Behörde wurde Gelegenheit gegeben, unter anderem zu diesen Überlegungen Stellung zu nehmen.

Beide Parteien haben zunächst übereinstimmend ausgeführt, dass die Beschäftigung der Beschwerdeführerin am 12. und 13. September 2005 voll- und arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen sei (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Spiegelstrich ASVG), sodass die belangte Behörde zu Recht § 11 AlVG (und nicht § 10 Abs. 1 AlVG - vgl. das Erkenntnis vom 15. März 2002, Zl. 2002/08/0040) angewendet hat.

Zu der im Hinblick auf eine allfällige mittelbare Diskriminierung von Frauen aufgeworfenen Frage, in welchem Verhältnis der letzte Satz des § 9 Abs. 2 AlVG, der bei einer Teilzeitbeschäftigung eine Wegzeit von mindestens eineinhalb Stunden als zumutbar erachtet, zum dritten Satz, wonach für die Voll- und die Teilzeitbeschäftigung eine Wegzeit von einem Viertel der täglichen Arbeitszeit als zumutbar erachtet wird, steht, hat die Beschwerdeführerin ihre verfassungsrechtlichen und auch gemeinschaftsrechtlichen Bedenken bekräftigt. Die belangte Behörde sieht hingegen eine eineinhalbstündige Wegzeit bei 20-stündiger Teilzeitarbeit zusammengefasst deshalb als sozialpolitisch gerechtfertigt an, weil Arbeitsplätze insbesondere in Pendlerregionen in entsprechend großer Entfernung vom Wohnort lägen und daher die Anreise zum und die Abreise vom Arbeitsplatz bei einer Teilzeitbeschäftigung im Verhältnis zu einer Vollzeitbeschäftigung jedenfalls zeitintensiver sei, andernfalls Teilzeitbeschäftigungen für Bewohner solcher Regionen gar nicht vermittelt werden könnten.

Die im Verfahren erörterten verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Bedenken erweisen sich bei näherer Betrachtung als unbegründet:

Die Bestimmungen der §§ 9 und 10 AlVG sind Ausdruck des dem gesamten Arbeitslosenversicherungsrecht zu Grunde liegenden Gesetzeszweckes, den arbeitslos gewordenen Versicherten, der trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keinerlei Beschäftigung gefunden hat, möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten. Wer eine Leistung der Versichertengemeinschaft der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nimmt, muss sich daher darauf einstellen, eine ihm angebotene zumutbare Beschäftigung anzunehmen, d.h. bezogen auf eben diesen Arbeitsplatz arbeitswillig zu sein (vgl. in diesem Sinn schon das Erkenntnis vom 16. Oktober 1990, Zl. 89/08/0141, Slg. Nr. 13.286/A, und die dort angeführte Vorjudikatur).

Der Arbeitslose ist nach der dargestellten Rechtslage zur Annahme einer zugewiesenen zumutbaren Beschäftigung verpflichtet, wobei ein von den Kriterien des § 9 AlVG unabhängiges Recht des Arbeitslosen zur sanktionslosen Ablehnung einer Beschäftigung wegen ihres Ausmaßes dem Gesetz nicht entnehmbar ist. Ein Arbeitsloser muss daher zur Annahme einer (die Geringfügigkeitsgrenze überschreitenden und Arbeitslosigkeit daher ausschließenden) Teilzeitbeschäftigung bereit sein, um das Erfordernis der Arbeitswilligkeit zu erfüllen (vgl. das Erkenntnis vom 17. März 2004, Zl. 2001/08/0035, mwN).

Angesichts dessen kann die Regelung des letzten Satzes des § 9 Abs. 2 AlVG nicht als diskriminierend gewertet werden: Durch sie ist eine Untergrenze für die zumutbare Wegzeit sowohl für eine Teilzeit- als auch für eine Vollzeitbeschäftigung festgelegt worden; demnach müssen alle Vollzeitbeschäftigten eine - in absoluter Dauer gerechnete - längere Wegzeit als Teilzeitbeschäftigte in Kauf nehmen.

Die für eine Teilzeitbeschäftigung vorgesehene Untergrenze der Wegzeit von eineinhalb Stunden ist auch in sozialpolitischer Hinsicht als gerechtfertigt anzusehen, weil die Arbeitslosenversicherung - wie oben dargestellt - den Zweck verfolgt, Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt - als Teil- oder Vollzeitbeschäftigte - zu integrieren. Dies gelingt bei der Teilzeitbeschäftigung nur dann, wenn im Vergleich zur Vollzeitbeschäftigung der Arbeitslose auch eine im Vergleich zur Arbeitszeit relativ längere Mindestwegzeit auf sich nehmen muss. Die belangte Behörde hebt nämlich der Sache nach mit Recht hervor, dass Teilzeitarbeitsplätze im Allgemeinen nicht näher zum Wohnort liegen als Vollzeitarbeitsplätze, sodass andernfalls die Arbeitslosigkeit nicht (oder nur erschwert) durch Annahme einer Teilzeitarbeit beendet werden könnte.

Während also der dritte Satz des § 9 Abs. 2 AlVG in der hier anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 77/2004 ganz allgemein normiert, dass die zumutbare Wegzeit für Hin- und Rückweg "tunlich" (d.h. nach Möglichkeit, aber ohne strikte Grenze) nicht mehr als ein Viertel der durchschnittlichen Normalarbeitszeit betragen soll, normiert der fünfte Satz eine jedenfalls zumutbare Untergrenze für Vollzeitarbeit und eine zweite Untergrenze für Teilzeitarbeit mit mindestens 20 Wochenstunden. Als Richtwert für die Zumutbarkeit bei Teilzeitarbeit unter einem Ausmaß von mindestens 20 Stunden gilt (soweit das zustehende Entgelt die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet und die Beschäftigung damit überhaupt geeignet ist, die Arbeitslosigkeit zu beenden) zunächst nur der dritte Satz des § 9 Abs. 2 AlVG, nicht aber der fünfte Satz.

Der vierte Satz des § 9 Abs. 2 AlVG bezieht sich sprachlich auf den dritten Satz und lässt "wesentlich darüber liegende Wegzeiten" zu. Daraus ergibt sich zweierlei: Es ergibt sich zunächst für den dritten Satz, dass "tunlichst ein Viertel der Normalarbeitszeit" ohne das Vorliegen der Voraussetzungen des vierten Satzes nur unwesentlich überschritten werden darf. Für das Verhältnis zum hier strittigen fünften Satz ist aus dem vierten Satz abzuleiten, dass für Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 20 Wochenstunden ein Teil der nach dem vierten Satz zulässigen Überschreitung eines Viertels der Normalarbeitszeit (das wäre im Schnitt nur eine Stunde) durch die Festlegung der Untergrenze von eineinhalb Stunden in einer typisierenden Weise vom Gesetzgeber selbst im fünften Satz bereits ausgeschöpft wurde.

Der Verwaltungsgerichtshof versteht diese beiden Bestimmungen in ihrem Zusammenhalt in der Weise, dass zwar auch bei einer Teilzeitbeschäftigung mit 20 Wochenstunden die nach dem fünften Satz jedenfalls zulässige Zeit von eineinhalb Stunden Wegzeit aufgrund des vierten Satzes - bei Vorliegen von dessen Voraussetzungen - überschritten werden darf, jedoch höchstens bis zu einer Wegzeit von zwei Stunden. Bei Erreichung des Doppelten des nach dem dritten Satz "Tunlichen" erscheint nämlich der Begriff "wesentliche Überschreitung" im vierten Satz des § 9 Abs. 2 AlVG ausgeschöpft: Bei einer Wegzeit von mehr als dem Doppelten eines "Viertels der Normalarbeitszeit" bei Teilzeitarbeit im Ausmaß von 20 Stunden könnte nicht mehr bloß von einer "Überschreitung" der genannten - wenn auch nach dem vorstehend Gesagten nicht streng zu verstehenden - Grenze gesprochen werden.

In welchem Ausmaß Überschreitungen des Viertels der Normalarbeitszeit bei Teilzeitbeschäftigung von mehr als 20 Wochenstunden bis hin zur Vollarbeitszeit zulässig sind, insbesondere die in diesem Zusammenhang zu beantwortende Frage, ob diese zulässigen Überschreitungen linear oder nur degressiv ansteigen, kann aus dem Blickwinkel des vorliegenden Falles offen gelassen werden.

Vor dem dargestellten rechtlichen Hintergrund ist im Beschwerdefall zunächst von dem von der Beschwerdeführerin in der Berufung zugestandenen Umstand, dass ihr für die Fahrten zum und vom Arbeitsplatz ein eigener Pkw zur Verfügung steht, auszugehen. Legt man die darauf bezogenen Feststellungen der belangten Behörde zu Grunde, wonach die Fahrzeit mit dem Pkw für die in Rede stehende Strecke - ohne Berücksichtigung der für die Parkplatzsuche erforderlichen Zeit - insgesamt 84 Minuten betragen habe, also eine Stunde und 24 Minuten, erweist sich der angefochtene Bescheid schon insofern als inhaltlich rechtswidrig, als die belangte Behörde bei der Berechnung der Wegzeit ausschließlich die reine Fahrzeit berücksichtigt hat, ohne die Zeit für die schon erwähnte Parkplatzsuche und für den jedenfalls erforderlichen Fußweg in ihre Kalkulation mit einzubeziehen. Dies gilt auch für die in der Begründung des angefochtenen Bescheides von der Behörde erörterte Wegzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln unter Außerachtlassung des Weges bis zum und vom öffentlichen Verkehrsmittel.

Der belangten Behörde sind aber auch Verfahrensfehler unterlaufen, die den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit belasten:

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) bedeutet nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht, dass der in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass - sofern in den besonderen Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist -

die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind. Schlüssig sind solche Erwägungen dann, wenn sie unter anderem den Denkgesetzen, somit auch dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut entsprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob die Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 7. September 2005, Zl. 2003/08/0010, mwN).

Die belangte Behörde hat sich mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Berufung, ihre tägliche Wegzeit zur und von der Arbeit betrage bis zu drei Stunden, nicht auseinander gesetzt und der Beschwerdeführerin auch keine Möglichkeit gegeben, zu den von der belangten Behörde zur Wegzeit ermittelten Verfahrensergebnissen Stellung zu nehmen. Unklar und daher nicht vergleichbar blieb auch, auf welche Strecken sich die behaupteten und auf welche sich die festgestellten Zeiten beziehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass für den Fall der Feststellung der von der Beschwerdeführerin behaupteten Zeiten die Wegzeit unzumutbar wäre und damit ein Nachsichtsgrund im Sinne des § 11 zweiter Satz AlVG vorläge. Die belangte Behörde geht jedoch mit keinem Wort auf den Unterschied zwischen der von der Beschwerdeführerin behaupteten Wegzeit und der von der belangten Behörde ermittelten - erheblich geringeren - Wegzeit ein.

Die belangte Behörde hat demnach Verfahrensvorschriften außer Acht gelassen, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Bei Zusammentreffen mit anderen Aufhebungsgründen prävaliert jener der inhaltlichen Rechtswidrigkeit; daher war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ergänzende Feststellungen über die mit dem Pkw und über die mit öffentlichen Verkehrsmitteln tatsächlich erforderliche Wegzeit zu treffen und diese anhand des Maßstabes des § 9 Abs. 2 dritter bis fünfter Satz AlVG, wie es sich aus der oben dargelegten Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes ergibt, zu beurteilen haben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da es in den Pauschalsätzen der genannten Verordnung keine Deckung findet und da die Umsatzsteuer in diesen Pauschalsätzen bereits berücksichtigt ist.

Wien, am 19. September 2007

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006080157.X00

Im RIS seit

14.01.2008

Zuletzt aktualisiert am

31.03.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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