Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Victoria C*****, geboren am 14. April 2000, vertreten durch die Stadt Wien als Jugendwohlfahrtsträger, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. April 2006, GZ 44 R 207/06a-U26, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 31. Jänner 2006, GZ 10 P 16/05k-U12, abgeändert wurde, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.
Text
Begründung:
Bei der am 14. 4. 2000 in Tijuana geborenen Antragstellerin Victoria C*****, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Wien hat, handelt es sich um eine polnisch-mexikanische Doppelstaatsbürgerin. Der Vater, ein polnischer Staatsangehöriger, verbüßt seit Juli 2003 in Österreich eine lebenslange Haftstrafe.
Mit Beschluss vom 31. 1. 2006 (ON U12) hat das Erstgericht der Antragstellerin für die Zeit von 1. 12. 2005 bis 30. 11. 2008 Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 3 UVG zuerkannt.Mit Beschluss vom 31. 1. 2006 (ON U12) hat das Erstgericht der Antragstellerin für die Zeit von 1. 12. 2005 bis 30. 11. 2008 Unterhaltsvorschüsse gemäß Paragraph 4, Ziffer 3, UVG zuerkannt.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, „dass der Antrag der mj. Veronique C*****, geboren 22. 5. 2001, auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 3 UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am 22. 2. 2005, abgewiesen wird" (richtig: „dass der Antrag der mj. Victoria C*****, geboren 14. 4. 2000, auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 3 UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am 16. 12. 2005, abgewiesen wird").Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, „dass der Antrag der mj. Veronique C*****, geboren 22. 5. 2001, auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach Paragraph 4, Ziffer 3, UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am 22. 2. 2005, abgewiesen wird" (richtig: „dass der Antrag der mj. Victoria C*****, geboren 14. 4. 2000, auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach Paragraph 4, Ziffer 3, UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am 16. 12. 2005, abgewiesen wird").
Diese Entscheidung wird folgendermaßen begründet:
„Zufolge der Berichtigung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 mit 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wurde auch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige ersetzt, aktualisiert und vereinfacht. In Punkt 36 der Gründe dafür sind Unterhaltsvorschüsse als familienrechtliche Verpflichtung definiert, die als keine direkten Leistungen aufgrund einer kollektiven Unterstützung angesehen werden. Die Besonderheiten der Koordinierungsregeln sollen daher für solche Unterhaltsvorschüsse nicht gelten. Insbesondere können durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen keine Ansprüche oder Anwartschaften auf Unterhaltsvorschüsse erworben werden. Im Hinblick auf die Geltung dieser Bestimmung unabhängig von einer Durchführungsverordnung ist damit klargestellt, dass Unterhaltsvorschüsse im Sinne des Unterhaltsvorschussgesetzes keine Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sind, sodass diesbezüglich auch nichts durchzuführen ist. Aufgrund dieser Rechtslage können Unterhaltsvorschüsse im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung nicht mehr gewährt werden. Schon aus diesem Grund ist dem Rekurs des Bundes stattzugeben.
Da Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu dieser Frage noch nicht vorliegt, ist der ordentliche Revisionsrekurs zulässig. Die Voraussetzungen für ein Vorabentscheidungsersuchen liegen nach Ansicht des Rekurssenates nicht vor."
Gegen diese Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss des Rekursgerichtes ersatzlos zu beheben.
Der Bund und der Vater der Minderjährigen haben keine Rechtsmittelbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist im Hinblick auf die grundsätzliche Rechtsfrage zulässig und auch im Sinne einer Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung berechtigt.
Vorweg ist klarzustellen, dass sich das Rechtsmittelverfahren auf den am 16. Dezember 2005 überreichten Vorschussantrag der mj. Victoria C*****, geboren 14. 4. 2000, bezieht und nicht auf den am 22. Februar 2005 gestellten Antrag ihrer am 22. 5. 2001 geborenen Schwester Veronique C*****.
Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art 91 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bedarf es keiner näheren Erläuterung, dass die Rechtsansicht des Rekursgerichtes, diese Verordnung sei schon partiell in Kraft getreten, und zwar auch in Bezug auf Unterhaltsvorschussleistungen (weil hier „nichts durchzuführen" sei), unrichtig ist. Da die Durchführungsverordnung bisher noch nicht einmal erlassen ist, ist die VO (EG) 883/2004 nicht anzuwenden (siehe auch Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung, in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU, 9 [16 f]). Aus diesem Grund erübrigt sich auch ein näheres Eingehen auf den Standpunkt des Rekursgerichtes, Unterhaltsvorschüsse seien sowohl von den Koordinierungsregeln der VO (EG) 883/2004 als auch von der Geltung des Diskriminierungsverbotes nach Art 12 EG ausgenommen (dazu Spiegel aaO 24).Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Artikel 91, der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bedarf es keiner näheren Erläuterung, dass die Rechtsansicht des Rekursgerichtes, diese Verordnung sei schon partiell in Kraft getreten, und zwar auch in Bezug auf Unterhaltsvorschussleistungen (weil hier „nichts durchzuführen" sei), unrichtig ist. Da die Durchführungsverordnung bisher noch nicht einmal erlassen ist, ist die VO (EG) 883/2004 nicht anzuwenden (siehe auch Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung, in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU, 9 [16 f]). Aus diesem Grund erübrigt sich auch ein näheres Eingehen auf den Standpunkt des Rekursgerichtes, Unterhaltsvorschüsse seien sowohl von den Koordinierungsregeln der VO (EG) 883/2004 als auch von der Geltung des Diskriminierungsverbotes nach Artikel 12, EG ausgenommen (dazu Spiegel aaO 24).
Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes vom 15. 3. 2001, C-85/99, Offermanns, und vom 5. 2. 2002, C-255/99, Humer, handelt es sich bei den Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG um eine Familienleistung iSd Verordnung (EWG) Nr 1408/71. Auch Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG wurden vom EuGH in seinem Urteil vom 20. 1. 2005, C-302/02, Effing, so qualifiziert.Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes vom 15. 3. 2001, C-85/99, Offermanns, und vom 5. 2. 2002, C-255/99, Humer, handelt es sich bei den Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG um eine Familienleistung iSd Verordnung (EWG) Nr 1408/71. Auch Haftvorschüsse nach Paragraph 4, Ziffer 3, UVG wurden vom EuGH in seinem Urteil vom 20. 1. 2005, C-302/02, Effing, so qualifiziert.
Die „Wanderarbeitnehmer-Verordnung" (EWG) Nr 1408/71 gilt nach ihrem Art 2 Abs 1 unter anderem für Arbeitnehmer, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten, sowie für deren Familienangehörige. Der Begriff des „Arbeitnehmers" ist in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen der sozialen Sicherheit (ua) für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96, Martínez Sala, klargestellt, dass eine Person somit die Arbeitnehmereigenschaft iSd VO 1408/71 besitzt, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der VO genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.Die „Wanderarbeitnehmer-Verordnung" (EWG) Nr 1408/71 gilt nach ihrem Artikel 2, Absatz eins, unter anderem für Arbeitnehmer, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten, sowie für deren Familienangehörige. Der Begriff des „Arbeitnehmers" ist in Artikel eins, Litera a, der VO 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen der sozialen Sicherheit (ua) für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96, Martínez Sala, klargestellt, dass eine Person somit die Arbeitnehmereigenschaft iSd VO 1408/71 besitzt, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel eins, Litera a, der VO genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.
Gemäß Art 13 Abs 1 und 2 lit a der VO 1408/71 unterliegt der Vater der österreichischen Rechtsordnung. Kommt ein in Österreich inhaftierter Strafgefangener seiner Arbeitspflicht (§ 44 StVG) nach, ist er gemäß § 66a AlVG im System der sozialen Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit versichert; er ist als Arbeitnehmer iSd Art 1 lit a der VO 1408/71 anzusehen (ebenso EuGH 20. 1. 2005, C-302/02, Effing) und vermittelt daher gemäß Art 3 der VO 1408/71 seinen Kindern als seinen Familienangehörigen einen Unterhaltsvorschussanspruch nach § 4 Z 3 UVG.Gemäß Artikel 13, Absatz eins und 2 Litera a, der VO 1408/71 unterliegt der Vater der österreichischen Rechtsordnung. Kommt ein in Österreich inhaftierter Strafgefangener seiner Arbeitspflicht (Paragraph 44, StVG) nach, ist er gemäß Paragraph 66 a, AlVG im System der sozialen Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit versichert; er ist als Arbeitnehmer iSd Artikel eins, Litera a, der VO 1408/71 anzusehen (ebenso EuGH 20. 1. 2005, C-302/02, Effing) und vermittelt daher gemäß Artikel 3, der VO 1408/71 seinen Kindern als seinen Familienangehörigen einen Unterhaltsvorschussanspruch nach Paragraph 4, Ziffer 3, UVG.
Hinweise darauf, dass der Vater seiner Arbeitspflicht gemäß § 44 StVG nicht nachkommt, bestehen nicht (laut Bestätigung der Justizanstalt Stein vom 14. 6. 2006 ist er im Jahr 2006 in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig).Hinweise darauf, dass der Vater seiner Arbeitspflicht gemäß Paragraph 44, StVG nicht nachkommt, bestehen nicht (laut Bestätigung der Justizanstalt Stein vom 14. 6. 2006 ist er im Jahr 2006 in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig).
In diesem Sinn ist der den Anspruch auf Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG bejahende Beschluss des Erstgerichtes wieder herzustellen.In diesem Sinn ist der den Anspruch auf Haftvorschüsse nach Paragraph 4, Ziffer 3, UVG bejahende Beschluss des Erstgerichtes wieder herzustellen.
Anmerkung
E8169410Ob53.06aSchlagworte
Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inZak 2006/625 S 370 - Zak 2006,370 = FamZ 2007/7 S 9 - FamZ 2007,9 =ÖA 2006,329 UV253 - ÖA 2006 UV253 = ÖA 2007,111 UV257 - ÖA 2007 UV257= EFSlg 114.499 = EFSlg 114.505 = EFSlg 114.509XPUBLENDEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2006:0100OB00053.06A.0817.000Zuletzt aktualisiert am
26.08.2009