TE OGH 2007/1/16 10ObS197/06b

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.01.2007
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Canan Aytekin-Yildirim (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Angelika H*****, vertreten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Bundespensionsamt, 1031 Wien, Barichgasse 38, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. September 2006, GZ 11 Rs 78/06d-15, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. April 2006, GZ 17 Cgs 35/06k-11, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 333,12 EUR (davon 55,52 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin bezog zuletzt von der beklagten Partei Pflegegeld der Stufe 2. Mit Bescheid vom 1. 12. 2005 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 1. 8. 2005 auf Erhöhung des Pflegegeldes ab. Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei zur Zahlung von Pflegegeld der Stufe 3 ab 1. 8. 2005 an die im Jahr 1915 geborene Klägerin. Es stellte - soweit im Revisionsverfahren von Interesse - fest, dass die Klägerin Betreuung beim Aus- und Ankleiden ihrer unteren Körperhälfte und Hilfe beim Schließen eines Büstenhalters oder kleiner Knöpfe benötigt. Der konkrete Zeitaufwand beträgt monatlich 10 Stunden für das An- und Auskleiden der unteren Körperhälfte und 5 Stunden für die zusätzlich notwendigen Handgriffe. In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht von einem Pflegebedarf der Klägerin von 123 Stunden aus, wobei es für das An- und Auskleiden den „gesetzlich vorgesehenen" Richtwert von 20 Stunden monatlich zugrundelegte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten insofern Folge, als es das Urteil des Erstgerichtes im Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 3 für den Monat August 2005 im klageabweisenden Sinn abänderte. Die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 ab 1. 9. 2005 bestätigte es mit der Begründung, dass der von der Klägerin für das An- und Auskleiden benötigte Betreuungsaufwand von 15 Stunden im Monat eine Abweichung von dem im § 1 Abs 3 EinstV für diese Betreuungsleistung normierten Richtwert nicht rechtfertige. Eine Unterschreitung dieses Richtwertes käme erst dann in Betracht, wenn der tatsächliche Pflegebedarf annähernd die Hälfte des Pauschalwertes betrage. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil oberstgerichtliche Judikatur zur Frage fehle, ab welchem Ausmaß ein erhebliches und daher zu berücksichtigendes Abweichen von Richtwerten nach § 1 Abs 3 EinstV vorliege. Gegen den klagestattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, jenen im klageabweisenden Sinn abzuändern.Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten insofern Folge, als es das Urteil des Erstgerichtes im Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 3 für den Monat August 2005 im klageabweisenden Sinn abänderte. Die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 ab 1. 9. 2005 bestätigte es mit der Begründung, dass der von der Klägerin für das An- und Auskleiden benötigte Betreuungsaufwand von 15 Stunden im Monat eine Abweichung von dem im Paragraph eins, Absatz 3, EinstV für diese Betreuungsleistung normierten Richtwert nicht rechtfertige. Eine Unterschreitung dieses Richtwertes käme erst dann in Betracht, wenn der tatsächliche Pflegebedarf annähernd die Hälfte des Pauschalwertes betrage. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil oberstgerichtliche Judikatur zur Frage fehle, ab welchem Ausmaß ein erhebliches und daher zu berücksichtigendes Abweichen von Richtwerten nach Paragraph eins, Absatz 3, EinstV vorliege. Gegen den klagestattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, jenen im klageabweisenden Sinn abzuändern.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin macht im Wesentlichen geltend, ein Abweichen vom verordneten Richtwert sei gerechtfertigt, weil der konkrete Zeitaufwand für das An- und Ausziehen der unteren Körperregion der Klägerin nur 10 Stunden monatlich betrage und für die sonstigen Handgriffe weitere 5 Stunden monatlich zu berücksichtigen seien. Insgesamt ergebe sich ein Pflegebedarf der Klägerin von 118 Stunden monatlich, sodass ihr Pflegegeld der Stufe 2 zustehe. Für die analoge Anwendung der Rechtsprechung zur Erheblichkeitsschwelle im Fall der Überschreitung eines Mindestwertes bleibe damit kein Raum.

Hiezu wurde erwogen:

Zunächst ist festzuhalten, dass die Verrichtungen des Schließens eines Büstenhalters und kleiner Knöpfe dem Betreuungsaufwand „An- und Auskleiden" zuzuordnen sind.

Der Gesetzgeber ermächtigt den Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in § 4 Abs 4 BPGG ua (Z 2), Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand festzulegen, wobei verbindliche Mindestwerte für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind. Dementsprechend erging die Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV), BGBl II 1999/37, in der in § 1 Abs 3 für bestimmte Verrichtungen, darunter für das An- und Auskleiden, auf einen Tag bezogene Richtwerte festgelegt wurden. Nach ständiger Rechtsprechung sollen diese Richtwerte im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen; sie können daher im Einzelfall überschritten, aber auch unterschritten werden (10 ObS 85/03b; SSV-NF 13/7; RIS-Justiz RS0053147). Wie der erkennende Senat bereits ausgesprochen hat, hat die Normierung von Richtwerten notwendig zur Folge, dass nicht in jedem Fall der konkrete (möglicherweise etwas unterschiedliche) Aufwand zu prüfen ist, sondern grundsätzlich vom Pauschalwert auszugehen ist (10 ObS 85/03b) und nur wesentliche Abweichungen von diesem zu berücksichtigen sind (SSV-NF 13/7). So wurde in den Entscheidungen 10 ObS 2313/96m (= SSV-NF 10/97) und 10 ObS 400/98s erkannt, dass für das An- und Auskleiden der unteren Gliedmaßen ein Pflegeaufwand von 2 x 10 Minuten täglich (anstelle des Richtwertes für das gesamte An- und Auskleiden von 2 x 20 Minuten täglich) ausreichend ist. Daraus ist abzuleiten, dass eine wesentliche Abweichung vom Pauschalwert jedenfalls dann vorliegt, wenn der tatsächlich für das An- und Auskleiden notwendige Zeitaufwand die Hälfte (oder weniger) des Richtwertes beträgt. Im vorliegenden Fall weicht der für das An- und Auskleiden notwendige zeitliche Betreuungsaufwand jedoch nur um ein Viertel vom Richtwert ab.Der Gesetzgeber ermächtigt den Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Paragraph 4, Absatz 4, BPGG ua (Ziffer 2,), Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand festzulegen, wobei verbindliche Mindestwerte für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind. Dementsprechend erging die Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV), BGBl römisch II 1999/37, in der in Paragraph eins, Absatz 3, für bestimmte Verrichtungen, darunter für das An- und Auskleiden, auf einen Tag bezogene Richtwerte festgelegt wurden. Nach ständiger Rechtsprechung sollen diese Richtwerte im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen; sie können daher im Einzelfall überschritten, aber auch unterschritten werden (10 ObS 85/03b; SSV-NF 13/7; RIS-Justiz RS0053147). Wie der erkennende Senat bereits ausgesprochen hat, hat die Normierung von Richtwerten notwendig zur Folge, dass nicht in jedem Fall der konkrete (möglicherweise etwas unterschiedliche) Aufwand zu prüfen ist, sondern grundsätzlich vom Pauschalwert auszugehen ist (10 ObS 85/03b) und nur wesentliche Abweichungen von diesem zu berücksichtigen sind (SSV-NF 13/7). So wurde in den Entscheidungen 10 ObS 2313/96m (= SSV-NF 10/97) und 10 ObS 400/98s erkannt, dass für das An- und Auskleiden der unteren Gliedmaßen ein Pflegeaufwand von 2 x 10 Minuten täglich (anstelle des Richtwertes für das gesamte An- und Auskleiden von 2 x 20 Minuten täglich) ausreichend ist. Daraus ist abzuleiten, dass eine wesentliche Abweichung vom Pauschalwert jedenfalls dann vorliegt, wenn der tatsächlich für das An- und Auskleiden notwendige Zeitaufwand die Hälfte (oder weniger) des Richtwertes beträgt. Im vorliegenden Fall weicht der für das An- und Auskleiden notwendige zeitliche Betreuungsaufwand jedoch nur um ein Viertel vom Richtwert ab.

Bei den in § 1 Abs 4 EinstV normierten - im Sinne des § 4 Abs 4 Z 2 BPGG verbindlichen - Mindestwerten ist eine Unterschreitung des Mindestwertes ausgeschlossen (10 ObS 148/98g ua). Überschreitet jedoch der tatsächliche Betreuungsaufwand den Mindestwert erheblich, so ist die Abweichung vom Mindestwert zu berücksichtigen (§ 1 Abs 4 letzter Satz EinstV). Eine Überschreitung ist erheblich, wenn der normierte Mindestwert annähernd um die Hälfte überschritten wird (10 ObS 89/03s uva; RIS-Justiz RS0058292). Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates ist aber der jeweilige Mindestwert nur dann zu berücksichtigen, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der in § 1 Abs 4 EinstV angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht: Bei einer erheblichen Unterschreitung des betreffenden Mindestwertes, etwa dann, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwertes liegt (10 ObS 148/98g mwN; SSV-NF 8/74 ua).Bei den in Paragraph eins, Absatz 4, EinstV normierten - im Sinne des Paragraph 4, Absatz 4, Ziffer 2, BPGG verbindlichen - Mindestwerten ist eine Unterschreitung des Mindestwertes ausgeschlossen (10 ObS 148/98g ua). Überschreitet jedoch der tatsächliche Betreuungsaufwand den Mindestwert erheblich, so ist die Abweichung vom Mindestwert zu berücksichtigen (Paragraph eins, Absatz 4, letzter Satz EinstV). Eine Überschreitung ist erheblich, wenn der normierte Mindestwert annähernd um die Hälfte überschritten wird (10 ObS 89/03s uva; RIS-Justiz RS0058292). Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates ist aber der jeweilige Mindestwert nur dann zu berücksichtigen, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der in Paragraph eins, Absatz 4, EinstV angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht: Bei einer erheblichen Unterschreitung des betreffenden Mindestwertes, etwa dann, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwertes liegt (10 ObS 148/98g mwN; SSV-NF 8/74 ua).

Das Berufungsgericht hat sich der Ansicht von Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld Rz 139, angeschlossen, wonach von einem erheblichen (wesentlichen) Abweichen des Betreuungsbedarfs vom pauschalierten Richtwert im Hinblick auf die zur Überschreitung von Mindestwerten bestehende herrschende Rechtsprechung nur dann gesprochen werden könne, wenn der tatsächliche Pflegebedarf vom Pauschalwert um annähernd die Hälfte des Pauschalwertes abweicht. Der Oberste Gerichtshof billigt diese Auffassung (§ 510 Abs 3 ZPO), haben doch die in § 1 Abs 3 und 4 normierten „Richtwerte" gemein, dass sie auf Expertenmeinung beruhende „Durchschnittswerte" für den Regelfall darstellen, und unterscheiden sie sich - wie dargelegt - darin, dass bei den Mindestwerten eine Unterschreitung (grundsätzlich) ausgeschlossen ist. Die Revisionswerberin bringt dagegen auch keine stichhaltigen Argumente vor. Sie sieht nämlich die wesentliche Abweichung des tatsächlichen Betreuungsaufwands für das An- und Auskleiden der Klägerin vom Durchschnittsaufwand darin begründet, dass die Hilfestellungen nur für die untere Körperregion notwendig sei und hiefür ein monatlicher Zeitaufwand von 10 Stunden erforderlich sei. Sie übersieht jedoch, dass auch der Aufwand für das Schließen des Büstenhalters oder kleiner Knöpfe dem Betreuungsaufwand für An- und Auskleiden zuzuzählen ist. Die festgestellte Unterschreitung des Richtwertes um ein Viertel ist keine wesentliche Abweichung, sodass die Vorinstanzen für das An- und Auskleiden zutreffend den Richtwert berücksichtigt haben.Das Berufungsgericht hat sich der Ansicht von Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld Rz 139, angeschlossen, wonach von einem erheblichen (wesentlichen) Abweichen des Betreuungsbedarfs vom pauschalierten Richtwert im Hinblick auf die zur Überschreitung von Mindestwerten bestehende herrschende Rechtsprechung nur dann gesprochen werden könne, wenn der tatsächliche Pflegebedarf vom Pauschalwert um annähernd die Hälfte des Pauschalwertes abweicht. Der Oberste Gerichtshof billigt diese Auffassung (Paragraph 510, Absatz 3, ZPO), haben doch die in Paragraph eins, Absatz 3 und 4 normierten „Richtwerte" gemein, dass sie auf Expertenmeinung beruhende „Durchschnittswerte" für den Regelfall darstellen, und unterscheiden sie sich - wie dargelegt - darin, dass bei den Mindestwerten eine Unterschreitung (grundsätzlich) ausgeschlossen ist. Die Revisionswerberin bringt dagegen auch keine stichhaltigen Argumente vor. Sie sieht nämlich die wesentliche Abweichung des tatsächlichen Betreuungsaufwands für das An- und Auskleiden der Klägerin vom Durchschnittsaufwand darin begründet, dass die Hilfestellungen nur für die untere Körperregion notwendig sei und hiefür ein monatlicher Zeitaufwand von 10 Stunden erforderlich sei. Sie übersieht jedoch, dass auch der Aufwand für das Schließen des Büstenhalters oder kleiner Knöpfe dem Betreuungsaufwand für An- und Auskleiden zuzuzählen ist. Die festgestellte Unterschreitung des Richtwertes um ein Viertel ist keine wesentliche Abweichung, sodass die Vorinstanzen für das An- und Auskleiden zutreffend den Richtwert berücksichtigt haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm § 77 Abs 2 ASGG.Die Kostenentscheidung beruht auf Paragraph 77, Absatz eins, Ziffer 2, Litera a, in Verbindung mit Paragraph 77, Absatz 2, ASGG.

Anmerkung

E8308010ObS197.06b

Schlagworte

Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inARD 5760/3/2007 = Jus-Extra OGH-Z 4337 = RdW 2007/511 S 487 - RdW2007,487 = zuvo 2007/76 S 110 - zuvo 2007,110 = SSV-NF 21/2XPUBLEND

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2007:010OBS00197.06B.0116.000

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten