Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Maslov gegen Österreich, Urteil vom 22.3.2007, Bsw. 1638/03.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch eins, Beschwerdesache Maslov gegen Österreich, Urteil vom 22.3.2007, Bsw. 1638/03.
Spruch
Art. 8 EMRK - Verlängerung eines Aufenthaltsverbots über einen Einwanderer der zweiten Generation.Artikel 8, EMRK - Verlängerung eines Aufenthaltsverbots über einen Einwanderer der zweiten Generation.
Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).Verletzung von Artikel 8, EMRK (4:3 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.759,96 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: € 5.759,96 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1984 geborene Bf. ist bulgarischer Staatsbürger. 1990 kam er zusammen mit seinen Eltern und zwei Geschwistern nach Österreich, wo er auch die Schule besuchte.
Am 7.9.1999 wurde er vom Jugendgerichtshof Wien wegen der teils vollendeten und teils versuchten Verbrechen des gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstahls als Mitglied einer Bande, der Erpressung, der Körperverletzung und des unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt, von denen 13 Monate bedingt nachgesehen wurden. Außerdem wurde ihm die Weisung erteilt, sich einer Drogentherapie zu unterziehen. Nach seiner erneuten Festnahme am 11.2.2000 wurde der Bf. am 25.5.2000 vom Jugendgerichtshof Wien wegen der Beteiligung an einer Serie von Einbrüchen in Geschäftslokale und Gastronomiebetriebe zu 15 Monaten Haft verurteilt. Da es der Bf. verabsäumt hatte, sich einer Drogentherapie zu unterziehen, widerrief der Gerichtshof die bedingte Nachsicht der am 7.9.1999 verhängten Freiheitsstrafe. Während der Bf. seine Haftstrafe verbüßte, aus der er am 24.5.2002 entlassen wurde, verhängte die Bundespolizeidirektion Wien am 3.1.2001 nach § 36 Abs. 1 FrG 1997 ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot über ihn, da sein weiterer Aufenthalt in Österreich angesichts seiner Verurteilungen dem öffentlichen Interesse widersprechen würde.Am 7.9.1999 wurde er vom Jugendgerichtshof Wien wegen der teils vollendeten und teils versuchten Verbrechen des gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstahls als Mitglied einer Bande, der Erpressung, der Körperverletzung und des unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt, von denen 13 Monate bedingt nachgesehen wurden. Außerdem wurde ihm die Weisung erteilt, sich einer Drogentherapie zu unterziehen. Nach seiner erneuten Festnahme am 11.2.2000 wurde der Bf. am 25.5.2000 vom Jugendgerichtshof Wien wegen der Beteiligung an einer Serie von Einbrüchen in Geschäftslokale und Gastronomiebetriebe zu 15 Monaten Haft verurteilt. Da es der Bf. verabsäumt hatte, sich einer Drogentherapie zu unterziehen, widerrief der Gerichtshof die bedingte Nachsicht der am 7.9.1999 verhängten Freiheitsstrafe. Während der Bf. seine Haftstrafe verbüßte, aus der er am 24.5.2002 entlassen wurde, verhängte die Bundespolizeidirektion Wien am 3.1.2001 nach Paragraph 36, Absatz eins, FrG 1997 ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot über ihn, da sein weiterer Aufenthalt in Österreich angesichts seiner Verurteilungen dem öffentlichen Interesse widersprechen würde.
Die dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 19.7.2001 von der Sicherheitsdirektion Wien abgewiesen. Der VwGH wies die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde am 18.9.2001 als unbegründet ab. Angesichts der Schwere und der Vielzahl der vom Bf. begangenen Straftaten, seines raschen Rückfalls und der Schwere der verhängten Strafen erachtete der VwGH den durch das Aufenthaltsverbot begründeten Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Bf. als verhältnismäßig. Da er erst im Alter von sechs Jahren nach Österreich gekommen sei, stand nach Ansicht des VwGH auch § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG 1997 dem Aufenthaltsverbot nicht entgegen. (Anm.: Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG 1997 durfte ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn "der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist".)Die dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 19.7.2001 von der Sicherheitsdirektion Wien abgewiesen. Der VwGH wies die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde am 18.9.2001 als unbegründet ab. Angesichts der Schwere und der Vielzahl der vom Bf. begangenen Straftaten, seines raschen Rückfalls und der Schwere der verhängten Strafen erachtete der VwGH den durch das Aufenthaltsverbot begründeten Eingriff in die durch Artikel 8, EMRK geschützten Rechte des Bf. als verhältnismäßig. Da er erst im Alter von sechs Jahren nach Österreich gekommen sei, stand nach Ansicht des VwGH auch Paragraph 38, Absatz eins, Ziffer 4, FrG 1997 dem Aufenthaltsverbot nicht entgegen. Anmerkung, Gemäß Paragraph 38, Absatz eins, Ziffer 4, FrG 1997 durfte ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn "der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist".)
Der VfGH lehnte die Behandlung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Sicherheitsdirektion wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab. Am 22.12.2003 wurde der inzwischen volljährig gewordene Bf. nach Sofia abgeschoben.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 8, EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 8, EMRK:
Der Bf. bringt vor, das Aufenthaltsverbot sei unverhältnismäßig, da er als Einwanderer der zweiten Generation keine Beziehungen zu Bulgarien habe. Er sei in Österreich aufgewachsen, wo seine gesamte Familie lebe, und habe hier die Schule besucht, weshalb er die bulgarische Sprache nicht beherrsche.
Es ist unbestritten, dass das Aufenthaltsverbot und die darauf beruhende Abschiebung des Bf. einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen. Das Aufenthaltsverbot hatte mit § 36 Abs. 1 FrG 1997 eine Grundlage im innerstaatlichen Recht. Wie der GH feststellt, galt die Unzulässigkeit eines Aufenthaltsverbots nach § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG 1997 nach ständiger Rechtsprechung des VwGH nur im Hinblick auf Fremde, die sich mindestens seit dem dritten Lebensjahr rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben. Da der Bf. erst im Alter von sechs Jahren nach Österreich kam, kann nicht behauptet werden, die Behörden hätten die Anwendung dieser Bestimmung in seinem Fall willkürlich verweigert. Unbestritten ist auch, dass das Aufenthaltsverbot einem legitimen Ziel diente, nämlich der Verhütung von Straftaten. Umstritten zwischen den Parteien ist in erster Linie, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Wie der GH bereits festgestellt hat, können selbst langjährig niedergelassene Fremde, die im Gastland geboren wurden oder aufgewachsen sind, aus Art. 8 EMRK kein Recht ableiten, nicht wegen ihrer Straffälligkeit abgeschoben zu werden. Der GH muss daher prüfen, ob die österreichischen Behörden bei der Verhängung des Aufenthaltsverbots einen fairen Ausgleich zwischen dem Recht des Bf. auf Achtung seines Privat- und Familienlebens auf der einen und dem öffentlichen Interesse an der Verhütung von Straftaten auf der anderen Seite getroffen haben.Es ist unbestritten, dass das Aufenthaltsverbot und die darauf beruhende Abschiebung des Bf. einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen. Das Aufenthaltsverbot hatte mit Paragraph 36, Absatz eins, FrG 1997 eine Grundlage im innerstaatlichen Recht. Wie der GH feststellt, galt die Unzulässigkeit eines Aufenthaltsverbots nach Paragraph 38, Absatz eins, Ziffer 4, FrG 1997 nach ständiger Rechtsprechung des VwGH nur im Hinblick auf Fremde, die sich mindestens seit dem dritten Lebensjahr rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben. Da der Bf. erst im Alter von sechs Jahren nach Österreich kam, kann nicht behauptet werden, die Behörden hätten die Anwendung dieser Bestimmung in seinem Fall willkürlich verweigert. Unbestritten ist auch, dass das Aufenthaltsverbot einem legitimen Ziel diente, nämlich der Verhütung von Straftaten. Umstritten zwischen den Parteien ist in erster Linie, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Wie der GH bereits festgestellt hat, können selbst langjährig niedergelassene Fremde, die im Gastland geboren wurden oder aufgewachsen sind, aus Artikel 8, EMRK kein Recht ableiten, nicht wegen ihrer Straffälligkeit abgeschoben zu werden. Der GH muss daher prüfen, ob die österreichischen Behörden bei der Verhängung des Aufenthaltsverbots einen fairen Ausgleich zwischen dem Recht des Bf. auf Achtung seines Privat- und Familienlebens auf der einen und dem öffentlichen Interesse an der Verhütung von Straftaten auf der anderen Seite getroffen haben.
Der GH wird dies anhand der folgenden Kriterien beurteilen: der Art und Schwere der vom Bf. begangenen Straftaten; der Dauer seines Aufenthalts in Österreich; der Zeit, die zwischen der Begehung der Straftaten und der Verhängung des Aufenthaltsverbots vergangen ist und das Verhalten des Bf. in dieser Zeit und schließlich seine sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen zu Österreich und zu seinem Herkunftsland Bulgarien.
Der Bf. kam im Alter von sechs Jahren nach Österreich und lebte hier zwölf Jahre lang mit seinen Eltern und seinen Geschwistern. Er spricht Deutsch und erhielt hier seine gesamte Schulbildung. Was die vom Bf. begangenen Straftaten betrifft, stellt der GH fest, dass er im September 1999 unter anderem wegen zahlreicher Fälle von schwerem Einbruchsdiebstahl, Erpressung und Körperverletzung verurteilt wurde. Schon im Mai 2000 erfolgte eine weitere Verurteilung. Der GH stellt nicht in Abrede, dass die vom Bf. begangenen Straftaten von einer gewissen Schwere waren. Er sieht auch nicht über die schweren Strafen hinweg, die über den Bf. verhängt wurden und insgesamt zwei Jahre und neun Monate unbedingte Haft betrugen. Der GH hält es jedoch für beachtlich, dass der Bf. diese Straftaten im Alter von 14 bzw. 15 Jahren und damit in der schwierigen Phase der Pubertät begangen hat. Bei den Delikten handelt es sich um typische Beispiele von Jugenddelinquenz, die mit einer Ausnahme keine Gewalttätigkeiten umfassten. Auch hat der Bf. keine Suchtgiftdelikte begangen.
Der GH misst auch der Phase des Wohlverhaltens des Bf. nach seiner Haftentlassung Bedeutung zu. Nach der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe von Februar 2000 bis Mai 2002 blieb er weitere eineinhalb Jahre in Österreich, während denen er keine Straftaten beging. Die Tatsache, dass es ihm gelang, wieder ein Leben in Freiheit aufzunehmen, ohne erneut straffällig zu werden, mildert die Befürchtung, der Bf. könne eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen.
Was die Festigkeit seiner sozialen, kulturellen und familiären Bindungen in Österreich betrifft, stellt der GH fest, dass der Bf. die entscheidenden Jahre seiner Kindheit und Jugend hier verbrachte und alle engen Familienmitglieder hier leben.
Hinsichtlich der Bindungen an sein Herkunftsland erachtet es der GH als wahrscheinlich, dass der Bf. zumindest ein wenig Bulgarisch spricht. Sein Vorbringen, nicht Kyrillisch lesen oder schreiben zu können, erscheint jedoch glaubwürdig, da er nie in Bulgarien die Schule besuchte. Er scheint auch keine engen Verwandten in Bulgarien oder sonstige Bindungen zu diesem Land zu haben.
Angesichts der Umstände des vorliegenden Falles, insbesondere der Art und Schwere der Straftaten, die als nicht gewalttätige Jugenddelinquenz betrachtet werden müssen, dem Wohlverhalten des Bf. nach seiner Haftentlassung und dem Fehlen von Bindungen zu seinem Herkunftsland, erscheint ein zehn Jahre lang gültiges Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (4:3 Stimmen, Sondervoten von Richter Loucaides, Richterin Steiner und Richterin Vajic).Angesichts der Umstände des vorliegenden Falles, insbesondere der Art und Schwere der Straftaten, die als nicht gewalttätige Jugenddelinquenz betrachtet werden müssen, dem Wohlverhalten des Bf. nach seiner Haftentlassung und dem Fehlen von Bindungen zu seinem Herkunftsland, erscheint ein zehn Jahre lang gültiges Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Es liegt daher eine Verletzung von Artikel 8, EMRK vor (4:3 Stimmen, Sondervoten von Richter Loucaides, Richterin Steiner und Richterin Vajic).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:
€ 5.759,96 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen, Sondervoten von Richter Loucaides, Richterin Steiner und Richterin Vajic).
Vom GH zitierte Judikatur:
Boultif/CH v. 2.8.2001, NL 2001, 159.
Yildiz/A v. 31.10.2002, NL 2002, 251.
Jakupovic/A v. 6.2.2003, NL 2003, 25; ÖJZ 2003, 567.
Benhebba/F v. 10.7.2003, NL 2003, 201.
Radovanovic/A v. 22.4.2004, NL 2004, 87; ÖJZ 2005, 76.
Üner/NL v. 18.10.2006 (GK), NL 2006, 251.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.3.2007, Bsw. 1638/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 86) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/07_2/Maslov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Anmerkung
EGM00718 Bsw1638.03-UDokumentnummer
JJT_20070322_AUSL000_000BSW01638_0300000_000