TE OGH 2007/9/28 9Ob129/06w

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Veröffentlicht am 28.09.2007
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Dr. Kuras als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Jonathan W*****, geboren am 29. Mai 1998, wohnhaft bei der Mutter Ursula W*****, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge, Bezirke 17, 18, 19, Gatterburggasse 14, 1190 Wien, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 1. August 2006, GZ 44 R 403/06z-U14, womit infolge Rekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien der Beschluss des Bezirksgerichts Döbling vom 6. April 2006, GZ 2 P 233/01y-U6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird an das Erstgericht zurückverwiesen und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Mit Unterhaltsvereinbarung gemäß § 214 Abs 2 ABGB vom 30. 10. 2003, GZ AJF-R 17, 18, 19/07/1705793, verpflichtete sich der Vater Adam C***** seinem am 29. 5. 1998 geborenen Sohn Jonathan W***** ab 1. 11. 2003 einen monatlichen Unterhaltsbetrag von EUR 124 zu zahlen. Sowohl der Minderjährige als auch seine Eltern sind österreichische Staatsbürger. Der Minderjährige befindet sich in der Obsorge seiner Mutter Ursula W*****. Seit September 2005 haben Mutter und Sohn ihren gemeinsamen Wohnsitz in Finnland. Der Vater hat seinen Wohnsitz in Österreich. Da die Exekution gegen den Vater den Unterhalt des Minderjährigen in den letzten sechs Monaten nicht voll gedeckt hat, beantragte das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge als Vertreter des Minderjährigen am 30. 12. 2005 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Am 10. 3. 2006 gab das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge dem Erstgericht bekannt, dass die Mutter mitgeteilt habe, in Finnland weder eine Unterstützung für den Minderjährigen zu beziehen noch eine solche beantragt zu haben. Das Erstgericht bewilligte dem Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Höhe von monatlich EUR 124 für die Zeit vom 1. 12. 2005 bis 30. 11. 2008.Mit Unterhaltsvereinbarung gemäß Paragraph 214, Absatz 2, ABGB vom 30. 10. 2003, GZ AJF-R 17, 18, 19/07/1705793, verpflichtete sich der Vater Adam C***** seinem am 29. 5. 1998 geborenen Sohn Jonathan W***** ab 1. 11. 2003 einen monatlichen Unterhaltsbetrag von EUR 124 zu zahlen. Sowohl der Minderjährige als auch seine Eltern sind österreichische Staatsbürger. Der Minderjährige befindet sich in der Obsorge seiner Mutter Ursula W*****. Seit September 2005 haben Mutter und Sohn ihren gemeinsamen Wohnsitz in Finnland. Der Vater hat seinen Wohnsitz in Österreich. Da die Exekution gegen den Vater den Unterhalt des Minderjährigen in den letzten sechs Monaten nicht voll gedeckt hat, beantragte das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge als Vertreter des Minderjährigen am 30. 12. 2005 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Am 10. 3. 2006 gab das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge dem Erstgericht bekannt, dass die Mutter mitgeteilt habe, in Finnland weder eine Unterstützung für den Minderjährigen zu beziehen noch eine solche beantragt zu haben. Das Erstgericht bewilligte dem Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse gemäß Paragraphen 3,, 4 Ziffer eins, UVG in der Höhe von monatlich EUR 124 für die Zeit vom 1. 12. 2005 bis 30. 11. 2008.

Das Rekursgericht änderte über Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, den erstgerichtlichen Beschluss iSd Abweisung des Antrags des Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur neuen Rechtslage auf Grund der Verordnung (EG) Nr 883/2004 vorliege. Durch die Neuregelung seien die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 aufgehoben und Unterhaltsvorschüsse ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen worden. Damit entfalle die „Exportpflicht" für Unterhaltsvorschüsse, wenn sich ein österreichisches Kind im Ausland aufhalte. Die Verordnung (EG) Nr 883/2004 sei am 20. 5. 2004 in Kraft getreten. Dass die erforderliche Durchführungsverordnung, bis zu deren Erlassung die Vollziehung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 aufgeschoben sei, noch nicht erlassen worden sei, habe für die bloße Ausscheidung von Tatbeständen aus dem Anwendungsbereich der Verordnung keine Bedeutung. Da der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland, sondern in Finnland habe, sei der Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abzuweisen.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den erstgerichtlichen Beschluss wiederherzustellen.

Da das Erstgericht den Revisionsrekurs zunächst ohne dessen vorherige Zustellung an die anderen Parteien (Bund, Vater, Mutter) zur Entscheidung vorgelegt hatte, wurde der Akt an das Erstgericht zur Nachholung des Versäumten zurückgestellt. Die Zustellungen wurden nun vom Erstgericht veranlasst und der Akt neuerlich vorgelegt. Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien beantragt als Vertreter des Bundes in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs des Minderjährigen nicht Folge zu geben. Der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin erstatteten keine Revisionsrekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch iSd im Abänderungsantrag implizit enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt. Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art 91 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist nicht zweifelhaft, dass diese Verordnung noch nicht anzuwenden ist, weil die darin für ihre Geltung vorgesehene Durchführungsverordnung bisher noch nicht erlassen wurde (10 Ob 53/06a; 6 Ob 214/06y; RIS-Justiz RS0121167 ua). Die Begründung des Rekursgerichts geht daher fehl. Nach § 2 Abs 1 UVG haben Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Dies trifft auf den Minderjährigen nicht zu. Dieser ist zwar österreichischer Staatsbürger, hat aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit September 2005 nicht mehr Inland, sondern in Finnland.Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch iSd im Abänderungsantrag implizit enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt. Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Artikel 91, der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist nicht zweifelhaft, dass diese Verordnung noch nicht anzuwenden ist, weil die darin für ihre Geltung vorgesehene Durchführungsverordnung bisher noch nicht erlassen wurde (10 Ob 53/06a; 6 Ob 214/06y; RIS-Justiz RS0121167 ua). Die Begründung des Rekursgerichts geht daher fehl. Nach Paragraph 2, Absatz eins, UVG haben Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Dies trifft auf den Minderjährigen nicht zu. Dieser ist zwar österreichischer Staatsbürger, hat aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit September 2005 nicht mehr Inland, sondern in Finnland.

In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261), beurteilte der Europäische Gerichtshof Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen UVG als Familienleistung iSd Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Nach Art 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen unter denselben Bedingungen wie Inländer Anspruch auf eine im Recht dieses Mitgliedsstaats vorgesehene Leistung, sofern sie in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Art 2 der Verordnung (EWG) 1408/71 regelt ihren persönlichen Geltungsbereich. Sie gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie ua Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, sowie für deren Familienangehörige. Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers oder Selbständigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fallen, sind in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Art 3 Abs 1 gilt. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Art 1 lit a der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96 - Sala (Slg 1998, I-2691), klargestellt, dass eine Person Arbeitnehmer im Sinn dieser Verordnung ist, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (vgl auch EuGH vom 7. 6. 2005, C-543/03 - Dodl/Oberhollenzer [Slg 2005, I-5049]). Der Oberste Gerichtshof ist dieser Auffassung in einer Reihe von Entscheidungen gefolgt (6 Ob 214/06y ua). Ungeklärt blieb im vorliegenden Fall, ob der Vater jemals von seiner Freizügigkeit nach dem EG-Vertrag Gebrauch gemacht hat. Insoweit ist das Verfahren ergänzungsbedürftig. Normzweck des Art 42 EG und der auf Grund dieser Bestimmung ergangenen Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist nur die Koordinierung, nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Diese Regelungen sollen nicht ein einheitliches gemeinschaftsweit gültiges Sozialversicherungssystem schaffen; sie sollen vielmehr die Freizügigkeit durch eine Koordinierung nationaler Regeln sicherstellen. Grundvoraussetzung für die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist deshalb das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts im EWR (sowie der Schweiz) (10 Ob 60/03a mwN; RIS-Justiz RS0115509 ua). Liegt ein derartiger Sachverhalt nicht vor, bedarf es keiner Anwendung der Verordnung, weil die Freizügigkeit in einem solchen Fall nicht sichergestellt werden muss. Ein derartiger grenzüberschreitender Sachverhalt wird nicht schon allein dadurch verwirklicht, dass sich der Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten im Ausland befindet. Der geforderte grenzüberschreitende Bezug wird dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhält, von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist (Neumayr in Schwimann, ABGB³ I § 1 UVG Rz 20; 10 Ob 60/03a; 8 Ob 100/06y; 6 Ob 214/06y ua). Ist dies nicht der Fall, findet schon aus diesem Grund die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 nicht Anwendung. Dass ein „Export" von Unterhaltsvorschussleistungen nach dem österreichischen UVG in der Rechtssache Humer (EuGH vom 5. 2. 2002 C-255/99, Slg 2002, I-1205) erfolgen konnte, war darauf zurückzuführen, dass die sorgeberechtigte Mutter - sie war ebenso wie das Kind und der unterhaltsverpflichtete Vater österreichische Staatsbürgerin - die Freizügigkeit in Anspruch genommen und gemeinsam mit dem Kind ins EU-Ausland verzogen war. Dass der Vater als Österreicher nur in Österreich erwerbstätig war und von seinem Recht auf Freizügigkeit nie Gebrauch gemacht hatte, schadete daher nicht. Dass die Mutter des Antragstellers in Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit im oben dargestellten Sinn, also etwa zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, mit dem Minderjährigen von Österreich nach Finnland verzogen wäre, wurde bisher allerdings nicht geltend gemacht. Ob der Vater jemals - als Voraussetzung für die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 - von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, blieb ungeklärt. Das Erstgericht wird daher sein Verfahren entsprechend zu ergänzen haben. Der Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen obliegt dem Antragsteller (6 Ob 214/06y ua). Aus Art 75 und Art 76 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 wird abgeleitet, dass im Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgeht und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrags „ausgesetzt" werden (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 39; 9 Ob 157/02g; RIS-Justiz RS0116832 ua). Maßgeblich ist nicht, ob tatsächlich ein Antrag auf eine Familienleistung gestellt wurde, sondern ob ein Anspruch auf eine solche besteht (2 Ob 51/04w ua), wie vom Bund eingewendet wird. Vom Erstgericht wird daher - sofern die Anspruchsvoraussetzungen nach dem österreichischen UVG iSd obigen Ausführungen bestehen - im fortgesetzten Verfahren auch zu klären sein, ob nicht auch ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Wohnsitzstaat des Kindes (Finnland) besteht, der zur „Aussetzung" der Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG führt. In dem Umfang, in dem ein Anspruch des Minderjährigen auf Unterhaltsvorschüsse in Finnland zusteht, besteht ein solcher nicht in Österreich (2 Ob 51/04w ua). Dem Revisionsrekurs des Minderjährigen ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261), beurteilte der Europäische Gerichtshof Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen UVG als Familienleistung iSd Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Nach Artikel 3, der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen unter denselben Bedingungen wie Inländer Anspruch auf eine im Recht dieses Mitgliedsstaats vorgesehene Leistung, sofern sie in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Artikel 2, der Verordnung (EWG) 1408/71 regelt ihren persönlichen Geltungsbereich. Sie gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie ua Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, sowie für deren Familienangehörige. Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers oder Selbständigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fallen, sind in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Artikel 3, Absatz eins, gilt. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Artikel eins, Litera a, der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96 - Sala (Slg 1998, I-2691), klargestellt, dass eine Person Arbeitnehmer im Sinn dieser Verordnung ist, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel eins, Litera a, der Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist vergleiche auch EuGH vom 7. 6. 2005, C-543/03 - Dodl/Oberhollenzer [Slg 2005, I-5049]). Der Oberste Gerichtshof ist dieser Auffassung in einer Reihe von Entscheidungen gefolgt (6 Ob 214/06y ua). Ungeklärt blieb im vorliegenden Fall, ob der Vater jemals von seiner Freizügigkeit nach dem EG-Vertrag Gebrauch gemacht hat. Insoweit ist das Verfahren ergänzungsbedürftig. Normzweck des Artikel 42, EG und der auf Grund dieser Bestimmung ergangenen Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist nur die Koordinierung, nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Diese Regelungen sollen nicht ein einheitliches gemeinschaftsweit gültiges Sozialversicherungssystem schaffen; sie sollen vielmehr die Freizügigkeit durch eine Koordinierung nationaler Regeln sicherstellen. Grundvoraussetzung für die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist deshalb das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts im EWR (sowie der Schweiz) (10 Ob 60/03a mwN; RIS-Justiz RS0115509 ua). Liegt ein derartiger Sachverhalt nicht vor, bedarf es keiner Anwendung der Verordnung, weil die Freizügigkeit in einem solchen Fall nicht sichergestellt werden muss. Ein derartiger grenzüberschreitender Sachverhalt wird nicht schon allein dadurch verwirklicht, dass sich der Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten im Ausland befindet. Der geforderte grenzüberschreitende Bezug wird dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhält, von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist (Neumayr in Schwimann, ABGB³ römisch eins Paragraph eins, UVG Rz 20; 10 Ob 60/03a; 8 Ob 100/06y; 6 Ob 214/06y ua). Ist dies nicht der Fall, findet schon aus diesem Grund die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 nicht Anwendung. Dass ein „Export" von Unterhaltsvorschussleistungen nach dem österreichischen UVG in der Rechtssache Humer (EuGH vom 5. 2. 2002 C-255/99, Slg 2002, I-1205) erfolgen konnte, war darauf zurückzuführen, dass die sorgeberechtigte Mutter - sie war ebenso wie das Kind und der unterhaltsverpflichtete Vater österreichische Staatsbürgerin - die Freizügigkeit in Anspruch genommen und gemeinsam mit dem Kind ins EU-Ausland verzogen war. Dass der Vater als Österreicher nur in Österreich erwerbstätig war und von seinem Recht auf Freizügigkeit nie Gebrauch gemacht hatte, schadete daher nicht. Dass die Mutter des Antragstellers in Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit im oben dargestellten Sinn, also etwa zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, mit dem Minderjährigen von Österreich nach Finnland verzogen wäre, wurde bisher allerdings nicht geltend gemacht. Ob der Vater jemals - als Voraussetzung für die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 - von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, blieb ungeklärt. Das Erstgericht wird daher sein Verfahren entsprechend zu ergänzen haben. Der Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen obliegt dem Antragsteller (6 Ob 214/06y ua). Aus Artikel 75 und Artikel 76, der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 wird abgeleitet, dass im Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgeht und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrags „ausgesetzt" werden (Neumayr aaO Paragraph eins, UVG Rz 39; 9 Ob 157/02g; RIS-Justiz RS0116832 ua). Maßgeblich ist nicht, ob tatsächlich ein Antrag auf eine Familienleistung gestellt wurde, sondern ob ein Anspruch auf eine solche besteht (2 Ob 51/04w ua), wie vom Bund eingewendet wird. Vom Erstgericht wird daher - sofern die Anspruchsvoraussetzungen nach dem österreichischen UVG iSd obigen Ausführungen bestehen - im fortgesetzten Verfahren auch zu klären sein, ob nicht auch ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Wohnsitzstaat des Kindes (Finnland) besteht, der zur „Aussetzung" der Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG führt. In dem Umfang, in dem ein Anspruch des Minderjährigen auf Unterhaltsvorschüsse in Finnland zusteht, besteht ein solcher nicht in Österreich (2 Ob 51/04w ua). Dem Revisionsrekurs des Minderjährigen ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

Anmerkung

E853959Ob129.06w-2

Schlagworte

Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inEvBl 2008/19 S 109 - EvBl 2008,109 = Zak 2007/705 S 414 - Zak2007,414 = iFamZ 2008/6 S 10 - iFamZ 2008,10 = EFSlg 117.652 = EFSlg117.655 = EFSlg 117.658 = EFSlg 117.659XPUBLEND

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2007:0090OB00129.06W.0928.000

Zuletzt aktualisiert am

29.06.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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