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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AVG §45 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des V, vertreten durch Mag. Peterpaul Suntinger, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Pfarrplatz 17, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für Kärnten vom 22. August 2007, Zl. KUVS-1277/6/2007, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Republik Moldau, wurde am 5. August 2007 gemeinsam mit fünf anderen moldawischen Staatsangehörigen bei einer Zugskontrolle aufgegriffen. Er gab an, den Namen S.C. zu führen, nicht im Besitz eines Reisepasses zu sein und nach Italien zum Arbeiten fahren zu wollen.
Mit Bescheid vom 5. August 2007 ordnete die Bundespolizeidirektion Villach gegen den Beschwerdeführer, unter dem Geburtsdatum "02.11.1990", gemäß § 76 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung sowie zur Sicherung der Abschiebung oder Zurückschiebung an. Die Behörde sei gezwungen, Maßnahmen zu setzen, die den unrechtmäßigen Aufenthalt des Beschwerdeführers beendeten. "Darüber hinaus" habe er keinen festen Wohnsitz in Österreich und verfüge auch nicht über ausreichende Barmittel zur Bestreitung seines Unterhaltes. Im Hinblick darauf sei davon auszugehen, dass er sich, würde nicht die Schubhaft verhängt werden, den fremdenpolizeilichen Maßnahmen entziehen könnte. Die Anordnung des gelinderen Mittels komme nicht in Betracht, da die Behörde keinen Grund zur Annahme habe, dass der Zweck der Schubhaft durch die Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden könne.
Zur Erlangung eines Heimreisezertifikates wurde dem Beschwerdeführer ein Antragsformular vorgelegt, in dem er am 7. August 2007 sein Geburtsdatum mit 11. Februar 1990 ausfüllte. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vom 8. August 2007 gab der Beschwerdeführer auf die Frage, ob er mit seinem Freund zusammen bleiben möchte, an, dass er die Schubhaft bis zu seiner Abschiebung nach Moldawien mit seinem Freund verbringen wolle. In einem Aktenvermerk vom 9. August 2007 wurde daraufhin festgehalten, der minderjährige Schubhäftling (Beschwerdeführer) sei befragt worden, ob er weiterhin bei seinem Bekannten in Schubhaft bleiben wolle. Da er dies befürwortet habe, werde das gelindere Mittel nicht angeordnet. In einem internen Bericht vom 10. August 2007 heißt es ua. weiter, "alleine schon aus humanitären Gründen" sei die Erlassung der Schubhaft geboten gewesen, zumal der Beschwerdeführer bei der Anwendung von gelinderen Mitteln zur Gänze "von der Gruppe und insbesondere von seinem Freund" getrennt gewesen wäre. Im Übrigen seien in Ermangelung eines Identifizierungsdokuments Zweifel vorhanden gewesen, "ob der Beschuldigte tatsächlich das von ihm angegebene Alter von 16 Jahren aufweist. Vom Augenschein her sah der Beschuldigte jedenfalls aus wie ein 18-jähriger junger Mann".
Einlangend bei der belangten Behörde am 16. August 2007 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde gemäß § 82 FPG. Er machte insbesondere geltend, dass in Anbetracht seiner Minderjährigkeit die Anordnung des gelinderen Mittels - durch Unterbringung in einer Jugendwohlfahrtseinrichtung oder in einer Einrichtung der Grundversorgung des Bundeslandes Kärnten - zu erfolgen gehabt hätte. In einer Gegenäußerung vertrat die Bundespolizeidirektion Villach die Auffassung, dass "der minderjährige Fremde auch ausweislos war und von seinem äußeren Erscheinungsbild durchaus auch schon als Volljähriger einzustufen" gewesen wäre, weshalb das gelindere Mittel nicht angewendet worden sei. Im Folgenden wies sie darauf hin, dass lt. Schreiben der Botschaft der Republik Moldau die Identitätsdaten des Beschwerdeführers unrichtig seien, weshalb die Ausstellung eines Heimreisezertifikates unterblieben sei. Bei einer weiteren niederschriftlichen Einvernahme "berichtigte" der Beschwerdeführer daraufhin sein Geburtsdatum auf den 11. Februar 1990. Am 22. August 2007 gab er schließlich bekannt, den Namen V.P. zu führen. Die Ausstellung eines Heimreisezertifikates erfolgte daraufhin ohne weitere Beanstandung.
Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid wies die belangte Behörde die Schubhaftbeschwerde des Beschwerdeführers gemäß §§ 82 und 83 FPG als unbegründet ab und stellte gemäß § 83 Abs. 4 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Der Beschwerdeführer habe bei seiner Festnahme keine Dokumente hinsichtlich seiner Identität vorlegen können, die Botschaft der Republik Moldau habe mitgeteilt, dass seine Identität - auf Grund des von ihm ausgefüllten Formulars zur Erlangung eines Heimreisezertifikates - nicht habe festgestellt werden können. Auf Grund dessen ergebe sich, dass die Identität des Beschwerdeführers noch nicht geklärt sei; er habe es unterlassen, an der raschen Feststellung seiner Identität mitzuwirken. Daher könne "zum derzeitigen Verfahrensstand" auch noch nicht festgestellt werden, ob es sich beim Beschwerdeführer überhaupt um einen Minderjährigen handle, da "möglicherweise auch seine Angaben hinsichtlich des Geburtsdatums unrichtig sein könnten". Weiters sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer über keinen Wohnsitz in Österreich verfüge und gar nicht behaupte, dass Familienangehörige in Österreich lebten. Die Schubhaft sei daher zu Recht verhängt worden und es sei deren Fortsetzung jedenfalls so lange gerechtfertigt, bis die Identität des Beschwerdeführers endgültig geklärt sei.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:
1. Der nach den Verwaltungsakten am 3. Oktober 2007 zum Zwecke seiner für diesen Tag geplanten Abschiebung aus dem Polizeianhaltezentrum Villach entlassene Beschwerdeführer hatte zunächst angegeben, den Namen "S.C." zu führen. Am 22. August 2007 stellte er diesen Namen auf "V.P." richtig, was dann in der Folge - ohne weitere Hinweise darauf, dass es sich abermals um eine falsche Identität handle - zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates führte. Es kann jedenfalls kein Zweifel bestehen, dass es sich bei "S.C." und bei "V.P." um ein und dieselbe Person handelt, weshalb sich der Einwand der belangten Behörde in der Gegenschrift, ihr Verfahren habe sich auf "S.C."
und daher nicht auf den nunmehrigen Beschwerdeführer bezogen, weshalb die vorliegende Beschwerde zurückzuweisen sein werde, als verfehlt erweist (vgl. sinngemäß auch das hg. Erkenntnis vom 18. Juli 1997, Zl. 96/02/0276).
2. In der Sache selbst geht es im Beschwerdefall darum, ob anstelle der Verhängung von Schubhaft mit der Anordnung eines gelinderen Mittels das Auslangen hätte gefunden werden müssen. Diesbezüglich normiert § 77 Abs. 1 FPG Folgendes:
"Gelinderes Mittel
§ 77. (1) Die Behörde kann von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann. Gegen Minderjährige hat die Behörde gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn, sie hätte Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann."
Wie der erste Satz der eben zitierten Bestimmung klar erkennen lässt, kommt ein gelinderes Mittel bei volljährigen Fremden dann in Betracht, wenn - bei Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses - Umstände gegeben sind, die erwarten lassen, der Sicherungszweck könne auch durch die Anordnung eines gelinderen Mittels erreicht werden. Bei Minderjährigen ist die Ausgangsposition gegenläufig. Gegen sie ist das gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn, es bestünde die berechtigte Befürchtung, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann. Im Sinn dieser bedingten gesetzlichen Verpflichtung führen die ErläutRV aus, dass bei Jugendlichen die Anwendung des gelinderen Mittels die Regel und die Vollstreckung der Schubhaft in Schubhafträumlichkeiten die Ausnahme darstelle (952 BlgNR XXII. GP, 104).
Der Klarheit halber sei festgehalten, dass nicht schon das Bestehen eines Sicherungsbedürfnisses an sich die Anordnung des gelinderen Mittels ausschließt. Das ergibt sich unzweifelhaft daraus, dass das gelindere Mittel an die Stelle der Schubhaft treten kann bzw. soll, was bedingt, dass grundsätzlich auch im Fall seiner Anordnung die Voraussetzungen der Schubhaft erfüllt sein müssen. Die Anordnung des gelinderen Mittels ist daher nur dann ausgeschlossen, wenn dem Sicherungsbedürfnis auf diese Art nicht entsprochen werden kann, was bei Minderjährigen gemäß § 77 Abs. 1 zweiter Satz FPG das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte in diese Richtung voraussetzt.
Im Schubhaftbescheid der Bundespolizeidirektion Villach finden sich keine Überlegungen zu dieser Frage. Es wird dort lediglich im Sinn des § 77 Abs. 1 erster Satz FPG ausgeführt, die Behörde habe keinen Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft durch die Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden könne. Dieser Schubhaftbescheid lässt allerdings auch nicht ansatzweise erkennen, dass die Behörde von einer Volljährigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen wäre oder auch nur Zweifel hinsichtlich seiner Minderjährigkeit gehabt hätte. Diese Zweifel sind erst in weiterer Folge, insbesondere auf Grund der erhobenen Schubhaftbeschwerde, artikuliert worden und finden sich schließlich auch im nunmehr bekämpften Bescheid, der auf die Möglichkeit verweist, dass die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich seines Geburtsdatums "unrichtig sein könnten". Den Versuch, die Schubhaft auf § 77 Abs. 1 zweiter Satz FPG zu stützen bzw. zu begründen, warum Grund zur Annahme bestehe, dass der Zweck der Schubhaft durch die Anordnung des gelinderen Mittels nicht erreicht werden könne (siehe zum Erfordernis einer entsprechenden Begründung schon das zu § 66 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 ergangene hg. Erkenntnis vom 18. Mai 2001, Zl. 2001/02/0048), hat auch die belangte Behörde nicht unternommen. Mit dem Verweis auf die bloße Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer bereits volljährig sein könne, durfte sich die belangte Behörde - in Anbetracht der Abweisung der Schubhaftbeschwerde - dieser Aufgabe allerdings nicht entziehen. Zweifel an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers - die fallbezogen allerdings nur sehr vage auszumachen sind - hätten sie vielmehr zur Aufnahme entsprechender Ermittlungen veranlassen müssen (vgl. § 12 Abs. 4 FPG), die letztlich, nach Darlegung der dafür maßgeblichen Erwägungen im Rahmen der Beweiswürdigung, in eindeutige Feststellungen zum präsumtiven Alter des Beschwerdeführers zu münden gehabt hätten (siehe auch Riel/Schrefler-König/Szymanski/Wollner, FPG § 12 Anm. 9).
Es ist einzuräumen, dass auch nach Vornahme von Ermittlungen nicht immer ausreichend Klarheit über die Frage zu gewinnen sein wird, ob ein Fremder noch minderjährig oder ob er - regelmäßig entgegen seinen Behauptungen - schon volljährig ist, zumal die dem unabhängigen Verwaltungssenat im Fall der fortdauernden Anhaltung des Fremden zur Entscheidung offen stehende einwöchige Frist (§ 83 Abs. 2 Z 2 FPG) allenfalls nicht die Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Erkenntnisquellen erlaubt. Bleiben Zweifel und sind sie innerhalb der Entscheidungsfrist nicht auszuräumen, so muss freilich gelten, was der Verwaltungsgerichtshof in seinem auch in der Beschwerde erwähnten Erkenntnis vom 16. April 2007, Zl. 2005/01/0463, betreffend die Altersfeststellung im Asylverfahren ausgesprochen hat und es wäre demgemäß von dem vom Fremden angegebenen Geburtsdatum (Alter) auszugehen. Warum die Überlegungen des genannten Erkenntnisses, wie die belangte Behörde meint, im Schubhaftverfahren nicht anwendbar sein sollen, ist nicht ersichtlich.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die belangte Behörde die Rechtslage verkannte. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 24. Oktober 2007
Schlagworte
Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher VerfahrensmangelBesondere RechtsgebieteAuslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2Beweiswürdigung Wertung der BeweismittelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2007210370.X00Im RIS seit
29.11.2007Zuletzt aktualisiert am
30.09.2011