TE OGH 2008/7/17 Bsw513/05

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Veröffentlicht am 17.07.2008
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Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Schmidt gegen Österreich, Urteil vom 17.7.2008, Bsw. 513/05.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch eins, Beschwerdesache Schmidt gegen Österreich, Urteil vom 17.7.2008, Bsw. 513/05.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 10 EMRK - Disziplinarrechtliche Ahndung von Kritik eines Anwalts.Artikel 6, EMRK, Artikel 10, EMRK - Disziplinarrechtliche Ahndung von Kritik eines Anwalts.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (4:3 Stimmen).Keine Verletzung von Artikel 10, EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 3.568,32 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 3.568,32 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist als Rechtsanwalt tätig. In einem Verwaltungsstrafverfahren vor dem Magistrat Eisenstadt wegen seinem Mandanten angelasteter Übertretungen der Tiefkühlkostkennzeichnungsverordnung (TKKV) führte er am 13.3.1996 in einer Stellungnahme zu den von der Lebensmitteluntersuchungsanstalt Wien erhobenen Vorwürfen unter anderem Folgendes aus: „Die TKKV ist nicht anwendbar, weil die Probe (entgegen dem ‚Schummel-Versuch' der Anzeigegutachten) mit keinem Hinweis auf ihre Tiefkühleigenschaft abgegeben wird und daher nicht unter die Definition des § 1 Abs. 1 Z. 1 TKKV fällt."Der Bf. ist als Rechtsanwalt tätig. In einem Verwaltungsstrafverfahren vor dem Magistrat Eisenstadt wegen seinem Mandanten angelasteter Übertretungen der Tiefkühlkostkennzeichnungsverordnung (TKKV) führte er am 13.3.1996 in einer Stellungnahme zu den von der Lebensmitteluntersuchungsanstalt Wien erhobenen Vorwürfen unter anderem Folgendes aus: „Die TKKV ist nicht anwendbar, weil die Probe (entgegen dem ‚Schummel-Versuch' der Anzeigegutachten) mit keinem Hinweis auf ihre Tiefkühleigenschaft abgegeben wird und daher nicht unter die Definition des Paragraph eins, Absatz eins, Ziffer eins, TKKV fällt."

Aufgrund einer Anzeige des Magistrats der Stadt Wien leitete die Rechtsanwaltskammer Wien am 26.6.1997 wegen des Wortes „Schummel-Versuch" ein Disziplinarverfahren gegen den Bf. ein. Am 24.3.1999 stellte der Disziplinarrat der Wiener Rechtsanwaltskammer das Verfahren ein, da das Verschulden des Bf. gering gewesen sei und nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen habe. Über Beschwerde des Kammeranwalts hob die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission den Einstellungsbeschluss auf und verwies die Sache an den Disziplinarrat zurück.

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung verurteilte der Disziplinarrat den Bf. am 6.9.2000 nach § 9 Rechtsanwaltsordnung wegen der Disziplinarvergehen der Berufspflichtverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes zur Strafe des schriftlichen Verweises. Der Bf. habe eine herabsetzende und diffamierende Formulierung verwendet und damit die Grenzen des standesrechtlich Zulässigen überschritten.Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung verurteilte der Disziplinarrat den Bf. am 6.9.2000 nach Paragraph 9, Rechtsanwaltsordnung wegen der Disziplinarvergehen der Berufspflichtverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes zur Strafe des schriftlichen Verweises. Der Bf. habe eine herabsetzende und diffamierende Formulierung verwendet und damit die Grenzen des standesrechtlich Zulässigen überschritten.

Die dagegen vom Bf. erhobene Berufung wurde von der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission am 7.5.2001 als unbegründet abgewiesen.

Die vom Bf. erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom VfGH am 21.6.2004 abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Artikel 10, EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet ist, noch ein

anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt, ist sie für zulässig zu

erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Dauer des Verfahrens sei unvereinbar mit den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen.Der Bf. bringt vor, die Dauer des Verfahrens sei unvereinbar mit den Anforderungen des Artikel 6, Absatz eins, EMRK gewesen.

Der GH hat in Fällen, die ähnliche Fragen aufwerfen wie der vorliegende, häufig Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt.Der GH hat in Fällen, die ähnliche Fragen aufwerfen wie der vorliegende, häufig Verletzungen von Artikel 6, Absatz eins, EMRK festgestellt.

Die Regierung hat keine Tatsachen oder Argumente vorgebracht, die den GH dazu bringen könnten, im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Da die Dauer des Verfahrens unangemessen war, liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:Die Regierung hat keine Tatsachen oder Argumente vorgebracht, die den GH dazu bringen könnten, im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Da die Dauer des Verfahrens unangemessen war, liegt eine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK vor (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Artikel 10, EMRK:

Der Bf. bringt vor, der schriftliche Verweis begründe eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Es steht außer Streit, dass das in einen schriftlichen Verweis mündende Disziplinarverfahren einen Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung begründete. Unbestritten ist auch, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und mit dem Schutz des guten Rufes anderer einem legitimen Zweck diente.

Der Bf. vertrat einen Mandanten in einem Verwaltungsstrafverfahren. Im Zuge dieses Verfahrens warf er der Lebensmitteluntersuchungsanstalt Wien in einer schriftlichen Stellungnahme vor, einen „Schummel-Versuch" gegen seinen Mandanten unternommen zu haben. Das Erfordernis, den guten Ruf der Lebensmitteluntersuchungsanstalt zu schützen, ist daher im vorliegenden Fall nicht gegen die Pressefreiheit oder das Interesse an einer offenen Diskussion über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse abzuwägen.

In Verwaltungsstrafverfahren wie jenem im vorliegenden Fall übernimmt die Lebensmitteluntersuchungsanstalt eine Funktion, die mit jener vergleichbar ist, die in gewöhnlichen Strafverfahren der Staatsanwaltschaft zukommt. Sie erstattet Anzeigen auf der Grundlage ihrer Gutachten. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an seine Rechtsprechung, wonach Aussagen, mit denen ein Angeklagter die Anklagebehörde kritisiert, im Vergleich zu verbalen Angriffen gegen einen Richter oder das gesamte Gericht erhöhten Schutz genießen. Die umstrittene Aussage enthielt keine persönliche Beleidigung, sondern richtete sich eher gegen das Verhalten der Lebensmitteluntersuchungsanstalt im Verfahren.

Die innerstaatlichen Instanzen maßen der Tatsache Bedeutung bei, dass der Bf. es verabsäumte, Tatsachen oder Umstände aufzuzeigen, welche die Verwendung des umstrittenen Ausdrucks gerechtfertigt hätten. Dies ist nach Ansicht des GH ein entscheidender Faktor: die Behauptungen des Bf. wurden tatsächlich nicht durch irgendwelche Tatsachen unterstützt. Seine Stellungnahme enthielt keine Details, die erklärt hätten, warum der Bf. der Ansicht war, dass sich die Lebensmitteluntersuchungsanstalt unangemessen verhalten hatte, als sie Anzeige gegen seinen Mandanten erstattete.

Schließlich stellt der GH fest, dass keine strafrechtliche Verurteilung auf dem Spiel stand, sondern nur eine disziplinarrechtliche Sanktion. Die besondere Stellung von Anwälten als Mittler zwischen der Öffentlichkeit und den Gerichten erklärt die üblichen Verhaltensregeln für Mitglieder der Anwaltschaft. Angesichts der Schlüsselrolle von Anwälten ist es legitim, von ihnen zu erwarten, einen Beitrag zu einer ordentlichen Rechtspflege und damit zur Aufrechterhaltung des Vertrauens der Öffentlichkeit in diese zu leisten.

Was die Verhältnismäßigkeit der Strafe betrifft, stellt der GH fest, dass die mildeste der im Gesetz vorgesehenen Sanktionen, nämlich ein schriftlicher Verweis, verhängt wurde.

Der GH ist der Ansicht, dass die innerstaatlichen Behörden ihre Entscheidung ausreichend und nachvollziehbar begründet haben. Daher liegt keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis, Richterin Vajic und Richter Spielmann).Der GH ist der Ansicht, dass die innerstaatlichen Behörden ihre Entscheidung ausreichend und nachvollziehbar begründet haben. Daher liegt keine Verletzung von Artikel 10, EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis, Richterin Vajic und Richter Spielmann).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:

€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 3.568,32 für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis,

Richterin Vajic und Richter Spielmann).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schöpfer/CH v. 20.5.1998, NL 1998, 102; ÖJZ 1999, 237.

W. R./A v. 21.12.1999, ÖJZ 2000, 729.

Nikula/FIN v. 21.3.2002, NL 2002, 60; ÖJZ 2003, 430.

Malek/A v. 12.6.2003, ÖJZ 2003, 855.

Kyprianou/CYP v. 15.12.2005 (GK).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.7.2008, Bsw. 513/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 219) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_4/Schmidt.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00820Bsw513.05-U

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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