Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. KR Michaela Haydter (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gerhard B*****, Kaufmännischer Angestellter, *****, vertreten durch Dr. Gertraude Carli, Rechtsanwältin in Hartberg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Februar 2008, GZ 8 Rs 156/07f-40, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. Mai 2007, GZ 32 Cgs 63/06w-33, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 12. 7. 1984 geborene Kläger hat nach Beendigung der Pflichtschule am 12. 7. 1999 eine Berufsausbildung als Kfz-Mechaniker begonnen. Am 7. 5. 2000 erlitt er bei einem Verkehrsunfall schwere Wirbelsäulenverletzungen mit nachfolgender Stabilisierung der Wirbelsäule. Mit 31. 3. 2001 brach er die Kfz-Mechanikerlehre ab und begann am 1. 10. 2001 eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann, die er am 30. 9. 2004 abschloss. Aufgrund seines eingeschränkten Leistungskalküls, insbesondere aufgrund des geforderten Haltungswechsels, kann der Kläger die zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Rechnungsprüfers oder Sachbearbeiters nicht mehr ausüben. Im Verweisungsfeld der Berufsgruppe der kaufmännischen Angestellten kommen für ihn keine Tätigkeiten mehr in Betracht. Die hochgradige Einschränkung der statischen und dynamischen Belastbarkeit der Wirbelsäule und die daraus resultierende Einschränkung des Leistungskalküls des Klägers lag zum Zeitpunkt des Beginns der Lehre zum Einzelhandelskaufmann am 1. 10. 2001 bereits im selben Ausmaß vor.
Mit dem angefochtenen Urteil erkannte das Berufungsgericht dem Kläger - in Abänderung des gänzlich klagsabweisenden Ersturteils - die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß für den Zeitraum von 1. 8. 2005 bis 31. 5. 2009 zu, trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 500 EUR monatlich auf und ließ die Revision angesichts der gesicherten oberstgerichtlichen Rechtsprechung nicht zu. Es sei zwar richtig, dass ein in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führe. Für den Zeitpunkt des Eintritts in das Versicherungsverhältnis sei allerdings - anders als bei der Frage des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG - auf den Beginn der Lehrzeit (hier: 12. 7. 1999) abzustellen, weshalb die Beeinträchtigungen des Leistungskalküls infolge des Unfalls vom 7. 5. 2000 nicht als in das Erwerbsleben eingebracht anzusehen seien. Da der Kläger innerhalb der Berufsgruppe der zuletzt von ihm ausgeübten Angestelltentätigkeit nicht mehr verweisbar sei, liege Berufsunfähigkeit im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG vor. Die Berufsunfähigkeitspension sei gemäß § 256 iVm § 271 Abs 3 ASVG befristet bis 31. 5. 2009 zuzuerkennen.Mit dem angefochtenen Urteil erkannte das Berufungsgericht dem Kläger - in Abänderung des gänzlich klagsabweisenden Ersturteils - die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß für den Zeitraum von 1. 8. 2005 bis 31. 5. 2009 zu, trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 500 EUR monatlich auf und ließ die Revision angesichts der gesicherten oberstgerichtlichen Rechtsprechung nicht zu. Es sei zwar richtig, dass ein in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führe. Für den Zeitpunkt des Eintritts in das Versicherungsverhältnis sei allerdings - anders als bei der Frage des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG - auf den Beginn der Lehrzeit (hier: 12. 7. 1999) abzustellen, weshalb die Beeinträchtigungen des Leistungskalküls infolge des Unfalls vom 7. 5. 2000 nicht als in das Erwerbsleben eingebracht anzusehen seien. Da der Kläger innerhalb der Berufsgruppe der zuletzt von ihm ausgeübten Angestelltentätigkeit nicht mehr verweisbar sei, liege Berufsunfähigkeit im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG vor. Die Berufsunfähigkeitspension sei gemäß § 256 in Verbindung mit § 271 Abs 3 ASVG befristet bis 31. 5. 2009 zuzuerkennen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die klagende Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig; sie ist auch berechtigt.
Der Revision der beklagten Partei liegt im Wesentlichen die Rechtsansicht zugrunde, dass ein Versicherter keinen Berufsschutz für eine Tätigkeit beanspruchen kann, wenn ihm zufolge seines (unfallbedingt) massiv eingeschränkten Leistungskalküls bereits zum Zeitpunkt des Ausbildungsantritts dazu weder diese konkrete Tätigkeit noch sonst eine der Berufsgruppe zugehörige Verweisungstätigkeit möglich war.
Dazu ist Folgendes zu erwägen:
1. Zutreffend hat das Berufungsgericht die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dargestellt, dass ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen kann (RIS-Justiz RS0084829, RS0085107), von § 255 Abs 7 ASVG abgesehen. Als Beginn der Erwerbstätigkeit ist die Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Tätigkeit anzusehen (zuletzt etwa 10 ObS 59/05g = SSV-NF 19/49; 10 ObS 75/05k = SSV-NF 19/64).
2. Darauf kommt es aber im vorliegenden Fall nicht entscheidend an. Vielmehr ist maßgeblich, ob der Kläger überhaupt den von ihm nun geltend gemachten Berufsschutz als kaufmännischer Angestellter erwerben konnte.
Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der zum Tätigkeitsschutz nach § 253d ASVG ergangenen Entscheidung 10 ObS 32/96 (= SSV-NF 10/21; RIS-Justiz RS0084829 [T8] = RIS-Justiz RS0085107 [T4]) darauf hingewiesen, dass nach seiner Judikatur eine nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers (oder von Arbeitskollegen) mögliche Tätigkeit nicht als eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG angesehen werden kann. Ein Versicherter, der nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beschäftigt war, kann daher durch diese Tätigkeit weder einen Berufsschutz erwerben noch einen bereits bestandenen Berufsschutz erhalten (10 ObS 143/92 = SSV-NF 6/73).
Mit dieser Entscheidung hat der Oberste Gerichtshof die in 10 ObS 44/87 = SSV-NF 1/33 für den Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit allgemein aufgestellten Grundsätze auf den Berufsschutz übertragen. Auch für die Begründung bzw den Erhalt des Berufsschutzes ist es somit erforderlich, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein muss, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten, und dass durch eine nachfolgende Entwicklung nach Aufnahme dieser Tätigkeit die ursprüngliche Leistungsfähigkeit so weit verschlechtert wurde, dass nunmehr eine Tätigkeit in dem durch den Berufsschutz begründeten Verweisungsfeld nicht mehr möglich ist (in diesem Sinn bereits 10 ObS 62/87 = SSV-NF 1/67 für den Berufsschutz eines Schlossers bei von Beginn an bestandener Einäugigkeit).
3. Da der bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme des zuletzt ausgeübten Berufs bestandene Zustand den Kläger von den mit der Ausübung dieses Berufs verbundenen Tätigkeiten ausschloss, kann der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit nicht eintreten.
4. Ein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger die Ausbildung zum Kfz-Mechaniker bereits in der Lehrzeit abbrechen musste (RIS-Justiz RS0084530).
5. Somit ist in Stattgebung der Revision der beklagten Partei das Ersturteil wiederherzustellen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht dargetan und sind auch aus der Aktenlage nicht ersichtlich.
Textnummer
E88336European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2008:010OBS00085.08K.0724.000Im RIS seit
23.08.2008Zuletzt aktualisiert am
25.06.2010