TE Vfgh Beschluss 2003/2/27 KI-5/02

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Veröffentlicht am 27.02.2003
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Index

25 Strafprozeß, Strafvollzug
25/04 Sonstiges

Norm

B-VG Art138 Abs1 lita
EMRK 7. ZP Art2
ARHG §19 Z1

Leitsatz

Zurückweisung des Antrags auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes zwischen einem Oberlandesgericht und dem Justizminister betreffend die Auslieferung eines amerikanischen Staatsangehörigen mangels Vorliegen eines negativen Kompetenzkonfliktes; keine Ablehnung der Zuständigkeit durch das OLG infolge Nichtberücksichtigung der Beschränkung des Rechtmittelrechts des Betroffenen im US-amerikanischen Strafverfahren als Kontumazfolge

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1. Der Antragsteller, ein US-amerikanischer und israelischer Staatsangehöriger, wurde in den USA wegen mehrerer Vermögensdelikte zu einer Haftstrafe in der Dauer von 845 Jahren verurteilt. Noch vor Verkündung des Urteils floh der Antragsteller nach Österreich, wo er am 24. Oktober 2000 verhaftet wurde; am 27. Oktober 2000 wurde über ihn die Auslieferungshaft verhängt.

Mit Note der Botschaft der USA vom 18. Dezember 2000 wurde die Auslieferung des Antragstellers zur Vollstreckung der über ihn verhängten Freiheitsstrafe beantragt.

2. Das Oberlandesgericht Wien erklärte die Auslieferung des Antragstellers mit Beschluß vom 11. September 2001, Z22 Ns 2/01, für unzulässig.

Begründend wurde dazu im wesentlichen ausgeführt, die Auslieferung des Antragstellers ohne Zusicherung, daß seine Verurteilung von einem übergeordneten Gericht überprüft werde (vgl. Art9 des Auslieferungsvertrages Österreich-USA, BGBl. III Nr. 216/1999), würde Art2 des 7. ZP-EMRK verletzen. Da eine solche Zusicherung nicht abgegeben worden sei, sei die Auslieferung unzulässig.

3. Nachdem der Generalprokurator dagegen mit Schriftsatz vom 10. Jänner 2002 Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (§33 StPO) erhoben hatte, sprach der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 9. April 2002, Z14 Os 8/02 (= JBl 2002, 670), aus, daß der Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 11. September 2001 das Gesetz in den Bestimmungen des §33 des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes (ARHG), BGBl. Nr. 529/1979, und des Art9 des Auslieferungsvertrages Österreich-USA verletzt habe. Mit diesem Urteil wurde der bekämpfte Beschluß aufgehoben und dem Oberlandesgericht Wien aufgetragen, nach dem Gesetz über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden.

4. Mit - im zweiten Rechtsgang gefaßtem - Beschluß vom 8. Mai 2002, Z22 Ns 8/02, erklärte das Oberlandesgericht Wien die Auslieferung des Antragstellers - ausgenommen hinsichtlich des Anklagepunktes 93 (Meineid) - an die USA nunmehr für zulässig. Diese Entscheidung wird wie folgt begründet:

"Eine Auslieferung zur Vollstreckung in Abwesenheit ergangener Schuldsprüche und verhängter Strafen kann abgelehnt werden, wenn das Abwesenheitsverfahren nicht grundrechtlichen Mindestanforderungen entsprochen hat oder kein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem die Neudurchführung des Verfahrens ohne weitere Gründe bewirkt werden kann. Diese Mindestanforderungen orientieren sich an den Grundsätzen des fairen Verfahrens nach Art6 EMRK. Konnte daher die auszuliefernde Person ihre Verteidigungsrechte auch in Abwesenheit ausreichend wahren, so ist auch die Auslieferung zur Vollstreckung dieses Urteils möglich (ErläutRV 1083 BlgNR 20. GP 19).

Hinsichtlich des Schuldspruches in Abwesenheit bestehen keine Bedenken an der Einhaltung des fair trial-Gebotes, weil der Auszuliefernde nach den Auslieferungsunterlagen (..., zu AZ 22 Ns 2/01 des Oberlandesgerichtes Wien ergangene Note des US Department of Justice vom 26. Juni 2001) während der gesamten, sich über einen Zeitraum von rund acht Monaten erstreckenden Verhandlung anwesend war, zahlreiche Zeugen namhaft machte, umfangreiches Urkundenmaterial vorlegte, mehrere Wochen hindurch persönlich aussagte, die (etwa eine Woche in Anspruch nehmenden) Schlussplädoyers verfolgte und erst vor der Urteilsverkündung flüchtete. Bei dieser Sachlage sieht auch die österreichische Rechtsordnung (§269 StPO) eine Verkündung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten vor, ohne von einem Abwesenheitsurteil iSd §427 StPO auszugehen, zumal die Urteilsverkündung nach Schluss der Verhandlung, die Urteilsberatung außerhalb derselben stattfindet (vgl OGH 9.4.2002, 14 Os 8/02).

Die Behauptung des Auszuliefernden, zwischen dem Schluss der Verhandlung sowie der Urteilsverkündung seien (in seiner Abwesenheit) inhaltliche Erörterungen vorgenommen worden, widerspricht - unsubstantiiert - den (ergänzenden) Auslieferungsunterlagen (S 4 f der zu AZ 22 Ns 2/01 des Oberlandesgerichtes Wien ergangenen Note des US-Department of Justice vom 26. Juni 2001) und ist daher unbeachtlich (§35 Abs1 ARHG).

Ein Verfahrensabschnitt, in dem nach vollständiger Durchführung des Beweisverfahrens und abschließender Beurteilung der Schuldfrage (erstinstanzlich) über das Strafausmaß verhandelt wird, ist dem österreichischen Rechtssystem fremd (§256 StPO sieht lediglich die Trennung der Schlussvorträge über die Schuldfrage von denen über die Strafbestimmungen, über die privatrechtlichen Ansprüche und über die Prozesskosten vor). Die EMRK-Konformität des Strafmaßfestsetzungsverfahrens in Abwesenheit des Auszuliefernden kann daher nur anhand der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (im Folgenden EGMR genannt) untersucht werden. Hienach bedingt Art6 Abs1 MRK im Rechtsmittelverfahren - welches als der (die Durchführung des Beweisverfahrens sowie die Klärung der Schuldfrage beinhaltenden) Hauptverhandlung nachgelagerter Verfahrensabschnitt mit dem hier zu prüfenden Prozessteil durchaus vergleichbar ist - nicht immer ein Recht auf persönliche Anwesenheit, sondern ist bei Beurteilung dieser Frage ua auf die Besonderheiten des betroffenen Verfahrens Bedacht zu nehmen. Entscheidend ist hiebei die Frage, ob es zur ordnungsgemäßen Prüfung der Strafsache erforderlich ist, einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten zu gewinnen (vgl EGMR 8.2.2000, ÖJZ 2000/15). Dies war bei der gegenständlichen Strafmaßfestsetzung nicht (neuerlich) nötig, weil die Vorsitzende des Verfahrens vor der Jury (...), welche im Rahmen eines rund achtmonatigen Prozesses, insbesonders auch während der mehrwöchigen persönlichen Aussage des Auszuliefernden (...), einen hinreichenden persönlichen Eindruck von diesem erhielt, auch selbst das Strafmaß festsetzte (...).

Der Einwand, der Verteidiger habe im Strafmaßfestsetzungsverfahren mangels Kontaktaufnahme mit dem Auszuliefernden dessen Rechte nicht uneingeschränkt wahrnehmen können, vermag nicht zu überzeugen, zumal der Auszuliefernde bereits während des gesamten Verfahrens vor der Jury durch den selben (gewählten) Verteidiger vertreten war, also hinreichend Gelegenheit hatte, diesem alle für die Wahrung seiner Recht bedeutsamen Umstände zur Kenntnis zu bringen. Es sei an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber angemerkt, dass die Annahme, dies wäre tatsächlich nicht geschehen, (insbesonders im Hinblick auf Umfang und Gewicht der Strafsache) wenig lebensnah erscheint.

Auch der Hinweis auf den Fall Poitrimol v France ist verfehlt, weil der EGMR bei dieser Entscheidung die Verletzung der Verteidigungsrechte - hier interessierend - darin erblickte, dass die französischen Gerichte die Rechtsansicht vertraten, eine verurteilte Person, die sich einem Haftbefehl entzogen habe, sei nicht berechtigt, einen Verteidiger zu beauftragen, sie zu vertreten (EGMR 23.11.1993 ÖJZ 1994/29). Die Durchführung des Verfahrens - wie hier - in Abwesenheit des Angeklagten, jedoch in Anwesenheit seines (zu Sachvorbringen berechtigten) Verteidigers wäre also nach diesem Judikat gerade die EMRK-konforme Vorgangsweise gewesen. Dies entspricht im Übrigen auch der ratio des §269 StPO, die persönliche Anwesenheit des Angeklagten in einem Verfahrensstadium, in dem diese aus inhaltlichen Gründen nicht (mehr) erforderlich ist, für entbehrlich zu erklären.

Dadurch, dass der Angeklagte im Verfahren vor der Jury persönlich und im Strafmaßfestsetzungsverfahren (selbst gewählten) Verteidiger vertreten war, hatte er somit eine angemessene Möglichkeit, seine Verteidigungsrechte zu wahren, weshalb sich das Eingehen darauf, ob dem Auszuliefernden nach seiner Übergabe angemessene Rechtsmittel oder zusätzliche Verfahren iSd Art9 des Auslieferungsvertrages offen stehen, erübrigt.

Wenngleich der EGMR vereinzelt - und mit massiven Contravoten (vgl EGMR 23.11.1993 ÖJZ 1994/29) - ausgesprochen hat, dass die Verweigerung der inhaltlichen Behandlung eines Rechtsmittels bei bestimmten Fallkonstellationen das fair-trial-Gebot zu verletzen geeignet ist, gewährt das in Art6 Abs1 EMRK normierte Recht auf Zugang zu den Gerichten kein generelles Recht auf einen Instanzenzug oder - wo ein solcher besteht - auf Gerichtsbarkeit in allen Instanzen (Mayerhofer Nebenstrafrecht 14, E 10a, 12a zu [Art] 6 EMRK) . Der Umstand, dass die US-amerikanische Rechtsordnung gewisse Rechtsmittelbeschränkungen vorsieht, kann somit nicht grundsätzlich als Verstoß gegen Art6 Abs1 EMRK gewertet werden. Eine detaillierte(re) Prüfung des Rechtssystems des ersuchenden Staates ist im Rahmen des Auslieferungsverfahrens als eines auf internationalen Verträgen (oder dem Grundsatz der Gegenseitigkeit) beruhenden Formalverfahrens nicht zulässig.

Die spekulativen Erwägungen des Auszuliefernden über mögliche Auswirkungen seiner Flucht auf den Schuldspruch der Geschworenen sowie das Strafausmaß sind der Überprüfung im Verfahren nach §33 ARHG nicht zugänglich.

Das Vorbringen zur angeblichen Widersprüchlichkeit des Jury-Urteils (...) übersieht, dass die den Anklagepunkt 1 unterteilenden Racketeering-Handlungen 1 bis 75B (...) nicht ident sind mit den Anklagepunkten 3 bis 93 (...) und erweist sich deshalb als aktenwidrig.

Entsprechendes gilt für die Behauptung, aus der eidesstattlichen Erklärung zur Glaubhaftmachung des Auslieferung (...) sei nicht ersichtlich, ob die vorsitzende Richterin den Auszuliefernden - dem Ausspruch der Jury folgend - aller Anklagepunkte für schuldig erkannte (...).

Ob sich der Schuldspruch der Vorsitzenden 'bei den Akten' findet (bzw ob dieser nach US-amerikanischem Recht überhaupt auszufertigen ist), kann dahingestellt bleiben, zumal nach Art10 Abs4 lita des Auslieferungsvertrages eine - hier vorliegende (...) - Bestätigung einer Justizbehörde, dass der Auszuliefernde schuldig gesprochen worden ist, die Urteilsausfertigung substituiert.

Art 8 Abs1 des Auslieferungsvertrages ermöglicht dem ersuchten Staat - bezogen auf die Höhe der Sanktion - nur im Fall der Androhung bzw Vollstreckung der Todesstrafe, die Auslieferung abzulehnen; der Ausspruch (sogar) einer lebenslangen Freiheitsstrafe stellt daher nach dem Auslieferungsvertrag - wie im Übrigen auch nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen oder vergleichbaren bilateralen Verträgen - kein Auslieferungshindernis dar, was - arg a maiori ad minus - auch für jede zeitliche Freiheitsstrafe zu gelten hat. Mit dem Einwand, die über ihn verhängte Sanktion stünde außer Verhältnis zu den nach österreichischem Recht geltenden Strafdrohungen für vergleichbare Delikte[,] übersieht der Auszuliefernde, dass die Strafrechtsordnung der USA - im Gegensatz zu dem in Österreich vorherrschenden (§28 Abs1 StGB) Absorptionsprinzip - vom Grundsatz der Strafenkumulation ausgeht, weshalb - der Argumentationslinie des Auszuliefernden folgend - eine Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika in allen Fällen der Faktenvielzahl wegen Unverhältnismäßigkeit der ausgesprochenen (bzw zu verhängenden) Sanktion für unzulässig zu erklären wäre, welche Intention dem Auslieferungsvertrag nicht ernsthaft unterstellt werden kann.

Ein - losgelöst vom Einzelfall - grundsätzliches Verbot der Verhängung bzw des Vollzuges einer lebenslangen (oder einer dieser de facto entsprechenden zeitlichen) Freiheitsstrafe kann der EMRK nicht entnommen werden; Art2 Abs1 EMRK erachtet vielmehr sogar die Vollstreckung eines Todesurteiles als zulässig. Freiheitsstrafen können nur dann in ein Spannungsverhältnis zu Art3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl Rosenmayr in Ermacora-Nowak-Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention 171 f), was aber hier in Anbetracht der umfangreichen, über einen äußerst langen Zeitraum im Rahmen einer professionell organisierten Tätergruppe gesetzten Tathandlungen mit Rücksicht auf die Besonderheiten des US-amerikanischen Rechtssystems nicht der Fall ist.

In seiner Stellungnahme vom 7. Mai 2002 bezieht sich der Auszuliefernde auf mehrere Fälle (Sawoniuk v Großbritannien, Nivette v Frankreich und Einhorn v Frankreich), in denen der EGMR die Ansicht vertreten hat, lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung könne 'zu Fragen nach Art3 EMRK führen', räumt aber gleichzeitig ein, dass der EGMR niemals ausgesprochen hat, dass lebenslange Haft ohne Aussicht auf Freilassung tatsächlich eine Verletzung des Art3 EMRK darstellt. Den vom Auszuliefernden angeführten Fällen ist gemein, dass der EGMR die Verletzung des Art3 EMRK durch den Strafausspruch bzw die Strafdrohung mit der wesentlichen Begründung nicht eingehender prüfte, der tatsächliche Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe sei nicht gewiss. Korrespondierendes gilt für die gegenständliche Auslieferungssache. Nach der zu AZ 22 Ns 2/01 des Oberlandesgerichtes Wien ergangenen Note des US Department of Justice vom 26. Juni 2001 (S 9f) hat der Auszuliefernde die Möglichkeiten, das Urteil gemäß Titel 28, United States Code, Paragraph 2255 wegen bestimmter Gesetzesverletzungen (nachträglich) anzufechten, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu begehren, einen Antrag auf Rechtsschutz bei der vorsitzenden Richterin zu stellen oder - mit der Begründung, er sei bei der Verurteilung nicht anwesend gewesen - einen Antrag auf Neuverurteilung einzubringen. Darüber hinaus gewährt auch die US-amerikanische Rechtsordnung für den Fall, dass (hier auch tatsächlich erhobene) Rechtsmittel von Mitangeklagten zum Erfolg führen, das Rechtsinstitut des beneficium cohaesionis (vgl §290 Abs1 StPO). Dem Auszuliefernden stehen somit nach wie vor mehrere Möglichkeiten offen, das (an sich rechtskräftige) Urteil anzufechten, weshalb der tatsächliche Vollzug der Freiheitsstrafe bis zum Lebensende des Auszuliefernden nicht gewiss ist und sich iSd oa Judikatur des EGMR eine weitere Prüfung der ausgesprochenen Sanktion im Hinblick auf Art3 EMRK erübrigt. In diesem Zusammenhang sei der Vollständigkeit halber darauf verwiesen, dass nach der zu AZ 22 Ns 2/01 des Oberlandesgerichtes Wien ergangenen Note des US Department of Justice vom 6. Juli 2001 (S 3) die US-amerikanischen Behörden zu Gunsten des Auszuliefernden einen Antrag auf Wiedereinstellung der Berufung einbrachten, dem jedoch deshalb nicht Folge gegeben werden konnte, weil sich der Verteidiger inhaltlich gegen den Antrag aussprach (s Beilage der zu AZ 22 Ns 2/01 des Oberlandesgerichtes Wien ergangenen Note des US Department of Justice vom 2. Juli 2001).

Wegen des zu erwartenden Vollzuges einer Freiheitsstrafe steht die Auslieferung nur dann in Widerspruch zu Art3 EMRK, wenn ernste Gründe für die Annahme vorliegen, der Auszuliefernde werde im ersuchenden Staat einer Behandlung ausgesetzt, welche die genannte Konventionsbestimmung verbietet (vgl Linke-Epp-Dokoupil-Felsenstein, Internationales Strafrecht S 19 ARHG Erläut 6). Hiebei ist auch maßgeblich, ob im ersuchenden Staat bislang gehäufte Verstöße gegen Art3 EMRK bekannt geworden sind (vgl VfGH 10.10.1994 JBl 1995, 315), was durch die vom Angeklagten vorgelegten Zeitungsartikel aus dem Jahr 1989 bzw 1995 über angebliche vereinzelte Übergriffe in US-Gefängnissen keinesfalls dokumentiert wird. Da somit weder davon ausgegangen werden kann, dass im US-amerikanischen Strafvollzug eine ständige Praxis grober Menschenrechtsverletzungen herrscht, noch der Auszuliefernde Anhaltspunkte für die Annahme vorbrachte, ihm (konkret) würde ein Art3 EMRK widersprechender Strafvollzug drohen, liegt auch das Auslieferungshindernis des §19 Z2 ARHG nicht vor."

5. Mit Schreiben vom 10. Mai 2002, Z1.47366/106-IV 1/02, teilte das Bundesministerium für Justiz dem Oberlandesgericht Wien folgendes mit:

"Das Bundesministerium für Justiz teilt mit, dass der Bundesminister für Justiz auf Grundlage des Beschlusses des Oberlandesgerichtes Wien vom 8.5.2002 die Auslieferung des amerikanischen Staatsangehörigen S W, geboren am 1.4.1954 in Scranton/Pennsylvania/USA, zur Vollstreckung der auf Grundlage des Urteils des U.S. District Courts for the Middle District of Florida, Orlando Division, vom 1.11.1999, 98-99 CR-ORL-19A, mit Urteil dieses Gerichtes vom 15.2.2000, 6:98-Cr99-ORL-19A, verhängten Freiheitsstrafe in der Dauer von 845 Jahren mit Ausnahme des auf die beeidete Falschaussage als Beschuldigter (Anklagepunkt 93) entfallenden Strafteils bewilligt hat. Hinsichtlich des Anklagepunkts 93 wurde die Auslieferung abgelehnt. Hievon werden die amerikanischen Behörden auf diplomatischem Weg und das Landesgericht für Strafsachen Wien in Kenntnis gesetzt."

6. Mit Schriftsatz vom 16. Mai 2002 erhob der Antragsteller gegen dieses - von ihm als Bescheid gewertete - Schreiben Beschwerde gem. Art144 B-VG. Mit Beschluß vom 23. Mai 2002, B923/02, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung dieser Beschwerde mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (Art144 Abs2, 1. Tatbestand, B-VG) ab.

Der Antragsteller erhob sodann überdies Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Nachdem der Antragsteller am 9. Juni 2002 ausgeliefert worden war, erklärte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 13. Juni 2002, Z2002/06/0073, diese Beschwerde als gegenstandslos und stellte das Verfahren ein.

7. Mit beim Verfassungsgerichtshof am 21. Mai 2002 eingelangtem Schriftsatz begehrt der Antragsteller - gestützt auf Art138 Abs1 lita B-VG sowie §46 Abs1 VfGG -, der Verfassungsgerichtshof möge den zwischen dem Oberlandesgericht Wien und dem Bundesminister für Justiz entstandenen verneinenden Kompetenzkonflikt entscheiden. Beide Behörden hätten nämlich den vom Antragsteller wiederholt ins Treffen geführten Umstand nicht berücksichtigt, daß die beabsichtigte Auslieferung mit Art2 des

7. ZP-EMRK unvereinbar sei, weil dem Antragsteller in den USA jede Rechtsmittelmöglichkeit gegen das verurteilende strafgerichtliche Urteil genommen sei:

"[...] Das Oberlandesgericht Wien hat aufgrund der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 9. April 2002, 14 Os 8/02 in einer Auslieferungsverhandlung am 8. Mai 2002 zu 22 Ns 8/02 den ... Beschluß gefaßt, daß die Auslieferung des Antragstellers zur Strafvollstreckung - mit Ausnahme eines Faktums (Anklagepunkt 93: Beeidete Falschaussage als Beschuldigter) - zulässig sei. Aufgrund der - nach Auffassung des Oberlandesgerichtes Wien - bindenden Rechtsauffassung des Obersten Gerichtshofes[] hat das Oberlandesgericht Wien die gegen die Verfahrensgarantien des Art2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK verstoßende fehlende Rechtsmittelmöglichkeit des Antragstellers vor den U.S.-Gerichten bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung außer Acht gelassen.

[...] Auf Grundlage des Beschlusses des Oberlandesgerichtes Wien vom 8. Mai 2002, 22 Ns 8/02 hat der Bundesminister für Justiz mit der (als Bescheid zu qualifizierenden) Mitteilung vom 10. Mai 2002 1.47366/106-IV 1/02 ... die Auslieferung des Antragstellers mit Ausnahme des auf den Anklagepunkt 93 entfallenden Strafteiles bewilligt. Der Bundesminister für Justiz hat die Bewilligung der Auslieferung nicht begründet; insbesondere ist der Bundesminister für Justiz - trotz eines vom Antragsteller am 29. April 2002 eingebrachten Antrages auf bescheidmäßige Feststellung der Verletzung des Artikels 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK - nicht darauf eingegangen, ob diese Verletzung der Auslieferung des Antragstellers entgegensteht. Der Bundesminister für Justiz hat durch die Verweigerung einer meritorischen Erledigung dieser Frage - implicite - zum Ausdruck gebracht, daß die Einhaltung der im Art2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK gewährleisteten Rechtsmittelgarantien durch die U.S.-Gerichte nicht in seine Prüfungs- und Entscheidungskompetenz fällt.

[...] Demgemäß haben sowohl das Oberlandesgericht Wien als auch der Bundesminister für Justiz ihre Zuständigkeit zur Prüfung des in der Verletzung des Artikels 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK gelegenen Auslieferungshindernisses verneint. Es liegt daher ein negativer Kompetenzkonflikt vor."

Der Antrag enthält die Begehren, den aufgezeigten verneinenden Kompetenzkonflikt zu entscheiden, die dem Erkenntnis entgegenstehenden Entscheidungen aufzuheben und dem Antragsteller Kostenersatz zuzusprechen.

Die am Verfahren beteiligten Behörden - das Oberlandesgericht Wien und der Bundesminister für Justiz - haben schriftliche Äußerungen zum Gegenstand erstattet.

8. Art2 Abs1 des 7. ZP-EMRK bestimmt, daß,

"[w]er von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, ... das Recht [hat], das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Die Ausübung dieses Rechts, einschließlich der Gründe, aus denen es ausgeübt werden kann, richtet sich nach dem Gesetz".

Für strafbare Handlungen "geringfügiger Art" sowie in Fällen, in denen das Verfahren gegen eine Person in erster Instanz vor dem jeweiligen obersten Gericht durchgeführt oder in denen sie nach einem gegen ihren Freispruch erhobenen Rechtsmittel verurteilt worden ist, kann eine Ausnahme von obigem Recht vorgesehen werden (Art2 Abs2 des 7. ZP-EMRK).

Der EGMR hat hiezu ausgesprochen, daß die Vertragsstaaten hinsichtlich der Frage, wie dieses Recht ausgeübt werden kann, über einen weiten Ermessensspielraum ("wide margin of appreciation") verfügen. Dieses Recht darf jedoch gesetzlich nur insoweit beschränkt werden, als dies sachlich gerechtfertigt ist und der Wesensgehalt dieses Rechts ("the very essence of that right") nicht berührt wird (zB EGMR 13. Februar 2001, Nr. 29.731/96 [Krombach/Frankreich], Rz 96 mwN).

9. Der Antrag ist unzulässig:

9.1. Nach Art138 Abs1 lita B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden. Ein solcher (verneinender) Kompetenzkonflikt liegt vor, wenn ein Gericht und eine Verwaltungsbehörde in derselben Sache befaßt wurden und beide Behörden eine Entscheidung in der Sache aus dem Grund der Unzuständigkeit abgelehnt haben. Ein Kompetenzkonflikt liegt allerdings dann nicht vor, wenn beide Behörden ihre Zuständigkeit zu Recht abgelehnt haben (zB VfSlg. 3483/1958, 13.409/1993); dies ergibt sich schon aus §51 VfGG, wonach das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes die in der Sache zuständige Behörde zu bestimmen hat.

9.2. Nach §10 ARHG kann eine Person nur "nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes" ausgeliefert werden. Welche Gründe es im einzelnen sind, die eine Auslieferung unzulässig machen, ergibt sich aus den §§10 ff ARHG; über das Vorliegen dieser Gründe hat das zuständige Oberlandesgericht zu erkennen (§33 ARHG).

        §19 ARHG bestimmt folgendes:

             "Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze; Asyl

        §19. Eine Auslieferung ist unzulässig, wenn zu besorgen ist,

daß

1. das Strafverfahren im ersuchenden Staat den Grundsätzen der Art3 und 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, nicht entsprechen werde oder nicht entsprochen habe,

2. die im ersuchenden Staat verhängte oder zu erwartende Strafe oder vorbeugende Maßnahme in einer den Erfordernissen des Art3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, nicht entsprechenden Weise vollstreckt werden würde, oder

3. die auszuliefernde Person im ersuchenden Staat wegen ihrer Abstammung, Rasse, Religion, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Gesellschaftsgruppe, ihrer Staatsangehörigkeit oder wegen ihrer politischen Anschauungen einer Verfolgung ausgesetzt wäre oder aus einem dieser Gründe andere schwerwiegende Nachteile zu erwarten hätte (Auslieferungsasyl)."

Eine Auslieferung zur Vollstreckung der Todesstrafe ist unzulässig (§20 Abs2 ARHG). Betrifft das Auslieferungsersuchen eine strafbare Handlung, die nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht ist, so darf die Person nur ausgeliefert werden, "wenn gewährleistet ist, daß die Todesstrafe nicht ausgesprochen werden wird" (§20 Abs1 ARHG).

9.3. Nach Ansicht des Antragstellers hätte eine der beteiligten Behörden den Umstand wahrnehmen müssen, daß eine Auslieferung (auch) dann unzulässig sei, wenn das im ersuchenden Staat durchzuführende oder durchgeführte Strafverfahren den Anforderungen des Art2 des 7. ZP-EMRK nicht entsprechen würde bzw. entsprochen hätte. Da dies aber unterblieben sei, liege ein negativer Kompetenzkonflikt vor.

9.4. Es kann auf sich beruhen, ob der Prämisse des Antragstellers, eine Verletzung des Art2 des 7. ZP-EMRK sei ein Auslieferungshindernis, im Hinblick auf die Rechtslage, wie sie sich nach dem ARHG und nach der EMRK (im Lichte der bisherigen, zu Auslieferungsfragen vorliegenden und vom Oberlandesgericht Wien in seinem Beschluß vom 8. Mai 2002 auch zitierten Rechtsprechung des EGMR) darstellt, überhaupt gefolgt werden kann; ebenso kann unerörtert bleiben, ob die weitere Prämisse des Antragstellers zutrifft, daß der Fall des Verlustes eines (gesetzlich an sich vorgesehenen) Rechtsmittels als Kontumazfolge einer Flucht des Angeklagten dem Schutzbereich des Art2 des 7. ZP (und etwa nicht dem des Art6 EMRK) zuzurechnen ist. Das Vorliegen eines verneinenden Kompetenzkonfliktes ist nämlich schon aus anderen Gründen zu verneinen:

Die Zulässigkeit der beantragten Auslieferung (im Sinne der Verwendung des Begriffes der Zulässigkeit im Sprachgebrauch des ARHG) ist, soweit die durch das ARHG eingeräumten subjektiven Rechte des Betroffenen berührt werden könnten - unbeschadet der danach verbleibenden Entscheidungsbefugnis des Bundesministers für Justiz (§34 ARHG) -, vom zuständigen Oberlandesgericht umfassend zu prüfen und als Hauptfrage im Spruch seines Beschlusses zu entscheiden (s. auch das hg. Erkenntnis vom 12. Dezember 2002, G151,152/02, Pkt. III.A.2.2.2.).

Das Oberlandesgericht Wien hat dadurch, daß es in seinem Beschluß vom 8. Mai 2002 die Frage der Wahrung der Verteidigungsrechte des Antragstellers im US-amerikanischen Strafverfahren (damit auch die Frage der Beschränkung seines Rechtsmittelrechtes als Kontumazfolge) ganz im Sinne der von ihm herangezogenen Rechtsprechung des EGMR ausschließlich unter dem Aspekt des Art6 EMRK, nicht aber auch unter dem des Art2 des

7. ZP-EMRK, geprüft hat, jedenfalls keine seine Zuständigkeit ablehnende Entscheidung iS des Art138 Abs1 lita B-VG (iVm §46 VfGG) getroffen.

9.5. Da ein verneinender Kompetenzkonflikt somit (bereits) aus diesem Grund nicht vorliegt, war der Antrag als unzulässig zurückzuweisen.

Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, ob die Erledigung des Bundesministers vom 10. Mai 2002 überhaupt - wie dies für die Zulässigkeit eines Verfahrens gem. Art138 B-VG gefordert ist - dahin verstanden werden kann, daß der Bundesminister damit eine Entscheidungszuständigkeit abgelehnt hätte (vgl. VfSlg. 11.861/1991).

10. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Schlagworte

Auslieferung, Strafrecht, Strafprozeßrecht, VfGH / Kompetenzkonflikt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:KI5.2002

Dokumentnummer

JFT_09969773_02K00I05_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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