TE OGH 2008/9/19 Bsw9174/02

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Veröffentlicht am 19.09.2008
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Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Korbely gegen Ungarn, Urteil vom 19.9.2008, Bsw. 9174/02.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EMRK - Verurteilung wegen Tötung eines Aufständischen 1956.Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Artikel 7, EMRK - Verurteilung wegen Tötung eines Aufständischen 1956.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK und Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Unfairness des Verfahrens (einstimmig).Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Artikel 7, EMRK und Artikel 6, Absatz eins, EMRK durch die Unfairness des Verfahrens (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Dauer des Verfahrens (einstimmig). Verletzung von Art. 7 EMRK (11:6 Stimmen).Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK durch die Dauer des Verfahrens (einstimmig). Verletzung von Artikel 7, EMRK (11:6 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (12:5 Stimmen).Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (12:5 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Der Bf. stellte keinen Antrag auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung.Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: Der Bf. stellte keinen Antrag auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1929 geborene Bf. war als Ausbildungsoffizier an der Militärakademie Tata beschäftigt, als am 23.10.1956 in Budapest der Ungarnaufstand ausbrach. Am 26.10.1956 erhielt er den Befehl, ein von Aufständischen besetztes Gebäude der Polizei wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Aufständischen hatten unter dem Kommando eines gewissen Tamás Kaszás die Polizeikräfte überwältigt und sich ihrer Waffen bemächtigt. Der von rund 15 Männern begleitete Bf. traf im Hof des Polizeigebäudes auf vier oder fünf entwaffnete Polizisten und fünf aufständische Zivilisten. Einer von ihnen behauptete, dass sie unbewaffnet seien. Nachdem ein Polizist entgegnet hatte, Tamás Kaszás habe eine Pistole, brach ein hitziger Streit zwischen diesem und dem Bf. aus. Als Tamás Kaszás schließlich in seine Manteltasche griff und eine Faustfeuerwaffe zog, befahl der Bf., das Feuer zu eröffnen. Zugleich schoss er selbst auf Tamás Kaszás, der tödlich getroffen wurde und sofort starb. Auch ein weiterer Aufständischer wurde getroffen und erlag später seinen Verletzungen.

Im Februar 1993 erließ das ungarische Parlament ein Gesetz, das bestimmte während des Ungarnaufstands von 1956 begangene Straftaten von den gesetzlichen Verjährungsfristen ausnahm. Der vom Staatspräsidenten zur Überprüfung dieses Gesetzes aufgeforderte Verfassungsgerichtshof erklärte am 13.10.1993, dass die Verjährung nur in Bezug auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeschlossen werden könne. Daraufhin wurde das Gesetz entsprechend geändert.

Im Dezember 1993 wurde aufgrund seiner Beteiligung an den Ereignissen in Tata am 26.10.1956 ein Strafverfahren gegen den Bf. eingeleitet. Am 20.4.1994 wurde er erstmals als Beschuldigter einvernommen, im Dezember 1994 wurde Anklage wegen der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Das Hauptstädtische Gericht Budapest stellte das Verfahren am 29.5.1995 ein, da die dem Bf. vorgeworfene Straftat als Mord zu qualifizieren und daher bereits verjährt sei. Am 4.9.1996 wurde das Gesetz vom Februar 1993 vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben, da es ein Hindernis für die Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtung Ungarns darstelle, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen.

Aufgrund einer Berufung des Staatsanwalts behob der Oberste Gerichtshof die Entscheidung vom 29.5.1995 und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung zurück an die erste Instanz. Das Hauptstädtische Gericht Budapest stellte am 7.5.1998 das Verfahren neuerlich wegen Verjährung ein, da die Straftat des Bf. als Mord und nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren wäre. Aufgrund eines Rechtsmittels des Staatsanwalts wurde auch diese Entscheidung vom Obersten Gerichtshof behoben und die Sache am 6.9.2000 zur neuerlichen Entscheidung an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen.

Das Hauptstädtische Gericht Budapest verurteilte den Bf. am 18.1.2001 wegen mehrfachen Mordes als Haupt- bzw. als Beitragstäter, der nach Art. 3 Abs. 1 des Genfer Abkommens vom 12.8.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründe, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren. Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 8.11.2001, erhöhte aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Strafe auf fünf Jahre Haft.Das Hauptstädtische Gericht Budapest verurteilte den Bf. am 18.1.2001 wegen mehrfachen Mordes als Haupt- bzw. als Beitragstäter, der nach Artikel 3, Absatz eins, des Genfer Abkommens vom 12.8.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründe, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren. Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 8.11.2001, erhöhte aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Strafe auf fünf Jahre Haft.

Ein Antrag des Bf. auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens wurde im Juli 2002 vom Hauptstädtischen Gericht Budapest abgewiesen. Nachdem auch eine Reihe weiterer Rechtsbehelfe erfolglos geblieben war, trat der Bf. am 24.3.2003 seine Freiheitsstrafe an. Am 31.5.2005 wurde er bedingt aus der Haft entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 7, EMRK (Nulla poena sine lege) und von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 7, EMRK:

Der Bf. bringt vor, er sei wegen einer Handlung strafrechtlich verfolgt worden, die zur Zeit ihrer Begehung keine Straftat begründet habe.

1. Zur Zulässigkeit:

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht iSv. Artikel 35, Absatz 3, EMRK offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. Allgemeine Grundsätze des Art. 7 EMRK:2. Allgemeine Grundsätze des Artikel 7, EMRK:

Art. 7 EMRK verbietet nicht nur die rückwirkende Anwendung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil eines Angeklagten. Er enthält auch den Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und eine Strafe vorschreiben kann. Daraus folgt, dass eine Straftat im Gesetz eindeutig definiert sein muss. Diese Anforderung ist erfüllt, wenn der Einzelne aus dem Wortlaut der relevanten Bestimmung und falls nötig unter Zuhilfenahme der gerichtlichen Auslegung derselben vorhersehen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.Artikel 7, EMRK verbietet nicht nur die rückwirkende Anwendung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil eines Angeklagten. Er enthält auch den Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und eine Strafe vorschreiben kann. Daraus folgt, dass eine Straftat im Gesetz eindeutig definiert sein muss. Diese Anforderung ist erfüllt, wenn der Einzelne aus dem Wortlaut der relevanten Bestimmung und falls nötig unter Zuhilfenahme der gerichtlichen Auslegung derselben vorhersehen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.

3. Anwendung im vorliegenden Fall:

Es ist nicht Aufgabe des GH, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bf. zu klären. Seine Funktion besteht vielmehr darin, aus Sicht des Art. 7 Abs. 1 EMRK zu beurteilen, ob die Handlung des Bf. zur Zeit ihrer Begehung eine Straftat darstellte, die vom innerstaatlichen Recht oder vom Völkerrecht mit ausreichender Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit definiert war.Es ist nicht Aufgabe des GH, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bf. zu klären. Seine Funktion besteht vielmehr darin, aus Sicht des Artikel 7, Absatz eins, EMRK zu beurteilen, ob die Handlung des Bf. zur Zeit ihrer Begehung eine Straftat darstellte, die vom innerstaatlichen Recht oder vom Völkerrecht mit ausreichender Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit definiert war.

a) Zugänglichkeit:

Der Bf. wurde wegen mehrfachen Mordes verurteilt, einer Straftat, die nach Ansicht der ungarischen Gerichte „ein nach Art. 3 Abs. 1 des Genfer Abkommens strafbares Verbrechen" begründete. Die Verurteilung des Bf. beruhte somit ausschließlich auf Völkerrecht. Die Aufgabe des GH besteht daher zunächst darin zu prüfen, ob die Genfer Abkommen für den Bf. zugänglich waren.Der Bf. wurde wegen mehrfachen Mordes verurteilt, einer Straftat, die nach Ansicht der ungarischen Gerichte „ein nach Artikel 3, Absatz eins, des Genfer Abkommens strafbares Verbrechen" begründete. Die Verurteilung des Bf. beruhte somit ausschließlich auf Völkerrecht. Die Aufgabe des GH besteht daher zunächst darin zu prüfen, ob die Genfer Abkommen für den Bf. zugänglich waren.

Die Genfer Abkommen wurden in Ungarn 1952 per Dekret kundgemacht, das allerdings den Text der Abkommen nicht enthielt. 1955 veranlasste das Außenministerium die amtliche Veröffentlichung einer Broschüre mit dem Text der Abkommen. Am 5.6.1956 wurde ein Befehl des Generalstabschefs über den Unterricht der Genfer Abkommen im Amtsblatt der Armee kundgemacht, der auch eine Zusammenfassung der Abkommen enthielt. Unter diesen Umständen gelangt der GH zur Ansicht, dass die Genfer Abkommen für den Bf. ausreichend zugänglich waren.

b) Vorhersehbarkeit:

Um zu prüfen, ob Art. 7 EMRK im vorliegenden Fall entsprochen wurde, muss der GH feststellen, ob vorhersehbar war, dass die Tat, für die der Bf. verurteilt wurde, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden würde. Die Gerichte stützten die Verurteilung des Bf. im Wesentlichen auf den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen, der – nach Ansicht des ungarischen Verfassungsgerichtshofs – das umschriebene Verhalten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit charakterisiere. In den Augen der ungarischen Gerichte wären solche Verbrechen strafbar, unabhängig davon, ob ihre Begehung gegen innerstaatliches Recht verstieß. Daher wäre es irrelevant, ob die Genfer Abkommen ordnungsgemäß kundgemacht worden wären oder nicht. Die Verantwortlichkeit der Täter ergebe sich aus dem Völkerrecht. Daher wurde die fragliche Straftat als nicht verjährbar angesehen. Der GH wird daher prüfen, ob die Tat geeignet war, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Sinn zu begründen, in dem dieses Konzept 1956 verstanden wurde, und ob Tamás Kaszás zur gegenständlichen Zeit als Person angesehen werden konnte, die im Sinne des gemeinsamen Art. 3 „nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnimmt".Um zu prüfen, ob Artikel 7, EMRK im vorliegenden Fall entsprochen wurde, muss der GH feststellen, ob vorhersehbar war, dass die Tat, für die der Bf. verurteilt wurde, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden würde. Die Gerichte stützten die Verurteilung des Bf. im Wesentlichen auf den gemeinsamen Artikel 3, der Genfer Abkommen, der – nach Ansicht des ungarischen Verfassungsgerichtshofs – das umschriebene Verhalten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit charakterisiere. In den Augen der ungarischen Gerichte wären solche Verbrechen strafbar, unabhängig davon, ob ihre Begehung gegen innerstaatliches Recht verstieß. Daher wäre es irrelevant, ob die Genfer Abkommen ordnungsgemäß kundgemacht worden wären oder nicht. Die Verantwortlichkeit der Täter ergebe sich aus dem Völkerrecht. Daher wurde die fragliche Straftat als nicht verjährbar angesehen. Der GH wird daher prüfen, ob die Tat geeignet war, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Sinn zu begründen, in dem dieses Konzept 1956 verstanden wurde, und ob Tamás Kaszás zur gegenständlichen Zeit als Person angesehen werden konnte, die im Sinne des gemeinsamen Artikel 3, „nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnimmt".

Die Bedeutung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" 1956:

Der GH muss sich vergewissern, ob die Tat, für die der Bf. verurteilt wurde, geeignet war, zur Zeit ihrer Begehung nach dem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen. Der Verfassungsgerichtshof vertrat die Ansicht, die im gemeinsamen Art. 3 umschriebenen Taten würden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründen. Er bezog sich außerdem auf weitere Dokumente, die jedoch jüngeren Datums sind als die verfolgten Handlungen. Die innerstaatlichen Gerichte führten keine weiteren rechtlichen Argumente zur Untermauerung ihrer Schlussfolgerung an, die umstrittene Tat wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Keine der vom Verfassungsgerichtshof angeführten Quellen bezeichnet irgendeine der im gemeinsamen Art. 3 aufgezählten Handlungen als solche als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Selbst wenn behauptet werden könnte, dass sie Andeutungen in diese Richtung enthalten würden, haben weder der Verfassungsgerichtshof noch die den Bf. verurteilenden Gerichte ihre Relevanz hinsichtlich der Rechtslage im Jahr 1956 untersucht. Die Strafgerichte haben sich stattdessen auf die Frage konzentriert, welche Personen von Art. 3 geschützt werden und ob das Opfer des Schusswaffengebrauchs des Bf. darunter fällt. Dies hat jedoch keine Bedeutung für die Frage, ob die in Art. 3 genannten verbotenen Handlungen als solche als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen sind.Der GH muss sich vergewissern, ob die Tat, für die der Bf. verurteilt wurde, geeignet war, zur Zeit ihrer Begehung nach dem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen. Der Verfassungsgerichtshof vertrat die Ansicht, die im gemeinsamen Artikel 3, umschriebenen Taten würden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründen. Er bezog sich außerdem auf weitere Dokumente, die jedoch jüngeren Datums sind als die verfolgten Handlungen. Die innerstaatlichen Gerichte führten keine weiteren rechtlichen Argumente zur Untermauerung ihrer Schlussfolgerung an, die umstrittene Tat wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Keine der vom Verfassungsgerichtshof angeführten Quellen bezeichnet irgendeine der im gemeinsamen Artikel 3, aufgezählten Handlungen als solche als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Selbst wenn behauptet werden könnte, dass sie Andeutungen in diese Richtung enthalten würden, haben weder der Verfassungsgerichtshof noch die den Bf. verurteilenden Gerichte ihre Relevanz hinsichtlich der Rechtslage im Jahr 1956 untersucht. Die Strafgerichte haben sich stattdessen auf die Frage konzentriert, welche Personen von Artikel 3, geschützt werden und ob das Opfer des Schusswaffengebrauchs des Bf. darunter fällt. Dies hat jedoch keine Bedeutung für die Frage, ob die in Artikel 3, genannten verbotenen Handlungen als solche als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen sind.

Dazu stellt der GH fest, dass die vier zentralen Definitionen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 6 lit. c des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs (8.8.1945), Art. 5 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (1993), Art. 3 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (1994) und Art. 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) zu finden sind. Nach allen diesen Bestimmungen ist Mord eine jener Straftaten, die geeignet sind, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen. Mord iSv. Art. 3 Abs. 1 lit. a der Genfer Abkommen konnte daher eine Grundlage für eine Verurteilung wegen eines 1956 begangenen Verbrechens gegen die Menschlichkeit bieten. Es müssen jedoch noch weitere Elemente vorliegen.Dazu stellt der GH fest, dass die vier zentralen Definitionen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Artikel 6, Litera c, des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs (8.8.1945), Artikel 5, des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (1993), Artikel 3, des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (1994) und Artikel 7, des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) zu finden sind. Nach allen diesen Bestimmungen ist Mord eine jener Straftaten, die geeignet sind, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen. Mord iSv. Artikel 3, Absatz eins, Litera a, der Genfer Abkommen konnte daher eine Grundlage für eine Verurteilung wegen eines 1956 begangenen Verbrechens gegen die Menschlichkeit bieten. Es müssen jedoch noch weitere Elemente vorliegen.

Diese zusätzlichen, in Art. 3 nicht enthaltenen Erfordernisse, stehen im Zusammenhang mit den völkerrechtlichen Elementen, die dem Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zur gegenständlichen Zeit eigen waren. Nach Art. 6 lit. c des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit Krieg behandelt. Nach Ansicht mancher Wissenschaftler erforderte dieser Tatbestand überdies ein Element der Benachteiligung und der Verfolgung einer bestimmten Gruppe von Personen. Nach Ansicht des GH mag eines dieser Kriterien – ein Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt – 1956 nicht länger relevant gewesen sein. Andere hingegen, wie das Erfordernis, dass das Verbrechen kein isolierter oder spontaner Akt sein darf, sondern Teil einer staatlichen Politik oder eines ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung sein muss, scheinen weiterhin von Bedeutung gewesen zu sein.Diese zusätzlichen, in Artikel 3, nicht enthaltenen Erfordernisse, stehen im Zusammenhang mit den völkerrechtlichen Elementen, die dem Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zur gegenständlichen Zeit eigen waren. Nach Artikel 6, Litera c, des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit Krieg behandelt. Nach Ansicht mancher Wissenschaftler erforderte dieser Tatbestand überdies ein Element der Benachteiligung und der Verfolgung einer bestimmten Gruppe von Personen. Nach Ansicht des GH mag eines dieser Kriterien – ein Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt – 1956 nicht länger relevant gewesen sein. Andere hingegen, wie das Erfordernis, dass das Verbrechen kein isolierter oder spontaner Akt sein darf, sondern Teil einer staatlichen Politik oder eines ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung sein muss, scheinen weiterhin von Bedeutung gewesen zu sein.

Die innerstaatlichen Gerichte beschränkten ihre Prüfung auf die Frage, ob Tamás Kaszás und ein weiterer getöteter Aufständischer unter den Schutz des gemeinsamen Art. 3 fielen und untersuchten nicht, ob die Tötung der beiden Aufständischen die zur Begründung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erforderlichen zusätzlichen Kriterien erfüllte und ob sie insbesondere als Teil eines ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung anzusehen war.Die innerstaatlichen Gerichte beschränkten ihre Prüfung auf die Frage, ob Tamás Kaszás und ein weiterer getöteter Aufständischer unter den Schutz des gemeinsamen Artikel 3, fielen und untersuchten nicht, ob die Tötung der beiden Aufständischen die zur Begründung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erforderlichen zusätzlichen Kriterien erfüllte und ob sie insbesondere als Teil eines ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung anzusehen war.

Es ist daher nach Ansicht des GH fraglich, ob die konstituierenden Elemente eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im vorliegenden Fall erfüllt waren.

War Tamás Kaszás „eine Person, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnimmt"?

Die Verurteilung des Bf. beruhte auf der Annahme, dass Tamás Kaszás im Sinne des gemeinsamen Art. 3 kein Kombattant war. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs, auf der die nachfolgenden Urteile der innerstaatlichen Gerichte beruhten, kam jede Zivilperson, die an einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt teilnahm, unabhängig von der Intensität des Konflikts und der Art der Organisation der Aufständischen, in den Genuss des Schutzes des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen. Der GH wird anhand der Annahme fortfahren, dass diese Interpretation des Obersten Gerichtshofs aus Sicht des Völkerrechts korrekt ist. Wie der GH feststellt, war Tamás Kaszás der Anführer einer bewaffneten Gruppe Aufständischer, die – nach der Begehung anderer Gewalttaten – die Kontrolle über ein Polizeigebäude übernommen und die Waffen der Polizisten an sich genommen hatten. Er hat sich somit unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligt.Die Verurteilung des Bf. beruhte auf der Annahme, dass Tamás Kaszás im Sinne des gemeinsamen Artikel 3, kein Kombattant war. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs, auf der die nachfolgenden Urteile der innerstaatlichen Gerichte beruhten, kam jede Zivilperson, die an einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt teilnahm, unabhängig von der Intensität des Konflikts und der Art der Organisation der Aufständischen, in den Genuss des Schutzes des gemeinsamen Artikel 3, der Genfer Abkommen. Der GH wird anhand der Annahme fortfahren, dass diese Interpretation des Obersten Gerichtshofs aus Sicht des Völkerrechts korrekt ist. Wie der GH feststellt, war Tamás Kaszás der Anführer einer bewaffneten Gruppe Aufständischer, die – nach der Begehung anderer Gewalttaten – die Kontrolle über ein Polizeigebäude übernommen und die Waffen der Polizisten an sich genommen hatten. Er hat sich somit unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligt.

Es stellt sich daher die Frage, ob Tamás Kaszás ein Mitglied der aufständischen Kräfte war, das die Waffen gestreckt hatte. Der GH hält es für entscheidend, dass er nach der Feststellung der innerstaatlichen Gerichte eine Handfeuerwaffe verdeckt trug und er diese Tatsache verschwieg, als er dem Bf. gegenüberstand. Als dieser Umstand bekannt wurde, unternahm er keinen Versuch, sich in unmissverständlicher Weise zu ergeben. Um Rechtswirkungen wie den Schutz des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen herbeizuführen, muss jede Absicht, sich zu ergeben, in deutlicher und unmissverständlicher Weise signalisiert werden, nämlich indem die Waffen niedergelegt bzw. jedenfalls die Hände erhoben werden. Die Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte lassen nicht den Schluss zu, dass Tamás Kaszás in einer solchen Weise eine Absicht, sich zu ergeben, signalisiert hätte. Stattdessen fing er einen lebhaften Streit mit dem Bf. an, an dessen Ende er mit unklaren Absichten seine Waffe zog. Während dieser Handlung wurde er erschossen. Unter diesen Umständen ist der GH nicht davon überzeugt, dass im Lichte der allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts, die zur gegenständlichen Zeit anwendbar waren, gesagt werden könne, Tamás Kaszás hätte im Sinne von Art. 3 der Genfer Abkommen seine Waffen gestreckt.Es stellt sich daher die Frage, ob Tamás Kaszás ein Mitglied der aufständischen Kräfte war, das die Waffen gestreckt hatte. Der GH hält es für entscheidend, dass er nach der Feststellung der innerstaatlichen Gerichte eine Handfeuerwaffe verdeckt trug und er diese Tatsache verschwieg, als er dem Bf. gegenüberstand. Als dieser Umstand bekannt wurde, unternahm er keinen Versuch, sich in unmissverständlicher Weise zu ergeben. Um Rechtswirkungen wie den Schutz des gemeinsamen Artikel 3, der Genfer Abkommen herbeizuführen, muss jede Absicht, sich zu ergeben, in deutlicher und unmissverständlicher Weise signalisiert werden, nämlich indem die Waffen niedergelegt bzw. jedenfalls die Hände erhoben werden. Die Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte lassen nicht den Schluss zu, dass Tamás Kaszás in einer solchen Weise eine Absicht, sich zu ergeben, signalisiert hätte. Stattdessen fing er einen lebhaften Streit mit dem Bf. an, an dessen Ende er mit unklaren Absichten seine Waffe zog. Während dieser Handlung wurde er erschossen. Unter diesen Umständen ist der GH nicht davon überzeugt, dass im Lichte der allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts, die zur gegenständlichen Zeit anwendbar waren, gesagt werden könne, Tamás Kaszás hätte im Sinne von Artikel 3, der Genfer Abkommen seine Waffen gestreckt.

Der GH ist daher der Ansicht, dass Tamás Kaszás nicht in eine der durch den gemeinsamen Art. 3 geschützten Kategorien von Nichtkombattanten fiel. Im vorliegenden Fall konnte sich im Lichte der damals einschlägigen internationalen Standards eine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht auf diese Bestimmung stützen.Der GH ist daher der Ansicht, dass Tamás Kaszás nicht in eine der durch den gemeinsamen Artikel 3, geschützten Kategorien von Nichtkombattanten fiel. Im vorliegenden Fall konnte sich im Lichte der damals einschlägigen internationalen Standards eine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht auf diese Bestimmung stützen.

4. Ergebnis:

Der GH gelangt zu dem Schluss, dass nicht vorhersehbar war, dass die Handlungen des Bf. nach dem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründeten. Daher liegt eine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (11:6 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Lorenzen, Tulkens, Zagrebelsky, Fura-Sandström und Popovic, Sondervotum von Richter Loucaides).Der GH gelangt zu dem Schluss, dass nicht vorhersehbar war, dass die Handlungen des Bf. nach dem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründeten. Daher liegt eine Verletzung von Artikel 7, EMRK vor (11:6 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Lorenzen, Tulkens, Zagrebelsky, Fura-Sandström und Popovic, Sondervotum von Richter Loucaides).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Unfairness des Verfahrens:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK hinsichtlich der Unfairness des Verfahrens:

Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung wäre politisch motiviert und daher unfair gewesen.

Der GH erklärt auch diesen Teil der Beschwere für zulässig (einstimmig). Angesichts seiner Feststellungen unter Art. 7 EMRK erachtet er eine gesonderte Prüfung der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch nicht für notwendig (12:5 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Lorenzen, Tulkens, Zagrebelsky, Fura-Sandström und Popovic).Der GH erklärt auch diesen Teil der Beschwere für zulässig (einstimmig). Angesichts seiner Feststellungen unter Artikel 7, EMRK erachtet er eine gesonderte Prüfung der Beschwerde unter Artikel 6, Absatz eins, EMRK jedoch nicht für notwendig (12:5 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Lorenzen, Tulkens, Zagrebelsky, Fura-Sandström und Popovic).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens:

Das Verfahren begann am 20.4.1994 und endete am 22.9.2003. Die zu berücksichtigende Zeitspanne betrug somit rund neun Jahre und fünf Monate. Davon sind ein Jahr und zehn Monate ausschließlich dem Bf. zuzurechnen, da sein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aussichtslos war.

Die Tatsache, dass der Fall wiederholt auf verschiedenen Ebenen der Gerichtsbarkeit behandelt werden musste, ist im Wesentlichen auf die Komplexität der betroffenen Rechtsfragen und die unvermeidbaren Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die innerstaatlichen Gerichte konfrontiert waren, als sie Tatsachen feststellen mussten, die sich mehr als 40 Jahre zuvor ereignet hatten. Angesichts des Fehlens einer besonderen, den Gerichten zuzurechnenden Phase der Inaktivität ist der GH der Ansicht, dass die Gesamtdauer des Verfahrens nicht die angemessene Dauer iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten hat.Die Tatsache, dass der Fall wiederholt auf verschiedenen Ebenen der Gerichtsbarkeit behandelt werden musste, ist im Wesentlichen auf die Komplexität der betroffenen Rechtsfragen und die unvermeidbaren Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die innerstaatlichen Gerichte konfrontiert waren, als sie Tatsachen feststellen mussten, die sich mehr als 40 Jahre zuvor ereignet hatten. Angesichts des Fehlens einer besonderen, den Gerichten zuzurechnenden Phase der Inaktivität ist der GH der Ansicht, dass die Gesamtdauer des Verfahrens nicht die angemessene Dauer iSv. Artikel 6, Absatz eins, EMRK überschritten hat.

Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss nach Artikel 35, Absatz 3 und Absatz 4, EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:

Da der Bf. keinen Anspruch auf Schadenersatz geltend gemacht hat, spricht ihm der GH einen solchen nicht zu. Die Kosten und Auslagen wurden von der Verfahrenskostenhilfe des Europarats gedeckt.

Vom GH zitierte Judikatur:

S. W./GB v. 22.11.1995, A/335-B, NL 1995, 223; ÖJZ 1996, 356. Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.Sitzung W./GB v. 22.11.1995, A/335-B, NL 1995, 223; ÖJZ 1996, 356. Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.

Jorgic/D v. 12.7.2007, NL 2007, 184.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.9.2008, Bsw. 9174/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 262) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_5/Korbely.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00828Bsw9174.02-U

Zuletzt aktualisiert am

28.01.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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