Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Oktober 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Rechenmacher als Schriftführer, in der Strafsache gegen Martin H***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Satz StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 311 Hr 231/08s des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde der Jasmin H***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 13. August 2008, AZ 21 Bs 327/08d, 21 Bs 328/08a, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Jasmin H***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 700 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Beim Landesgericht für Strafsachen Wien wird zu AZ 311 HR 231/08s ein Ermittlungsverfahren gegen Martin H***** und andere Beschuldigte wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Satz StGB und anderer strafbarer Handlungen geführt.
Über Antrag der Staatsanwaltschaft (S 5 in ON 1) wurde vom Journalrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 13. Juli 2008 über Jasmin H***** die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund des § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO verhängt (ON 11).
Im gerichtlichen Protokoll über die Vernehmung der Beschuldigten vor Verhängung der Untersuchungshaft ist festgehalten, dass
„die Beschuldigte in stark beeinträchtigtem Zustand ist. Sie gibt an gerade erst geweckt worden zu sein, offenbar steht die Beschuldigte unter starken Medikamenten. Sie nickt bereits zu Beginn der Vernehmung ein, sie schläft sofort ein.
Eine Vernehmung zum Sachverhalt erscheint nicht möglich."(S 3 in ON 15).
Erst in der Haftverhandlung vom 28. Juli 2008 wurde die Beschuldigte (zumindest) zum Tatverdacht vernommen, wobei sie sich überwiegend schuldig bekannte (ON 26). Sodann wurde die über sie verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO iVm § 35 Abs 1 zweiter Satz JGG fortgesetzt (ON 27).Erst in der Haftverhandlung vom 28. Juli 2008 wurde die Beschuldigte (zumindest) zum Tatverdacht vernommen, wobei sie sich überwiegend schuldig bekannte (ON 26). Sodann wurde die über sie verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO in Verbindung mit § 35 Abs 1 zweiter Satz JGG fortgesetzt (ON 27).
Mit dem nun angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien den Beschwerden (ON 29, 32) gegen den Beschluss auf Verhängung und gegen den Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus denselben Haftgründen fort (ON 46).
Rechtliche Beurteilung
Dagegen wendet sich die Grundrechtsbeschwerde der Jasmin H*****, die - ohne die Annahme des Vorliegens von dringendem Tatverdacht und Haftgründen zu problematisieren - eine Verletzung des § 174 Abs 1 StPO releviert, weil die Beschuldigte vor Verhängung der Untersuchungshaft nicht zu deren Voraussetzungen vernommen worden ist.
Gemäß § 174 Abs 1 erster Satz StPO, der insoweit das Verfassungsgebot des Art 4 Abs 3 PersFrSchG konkretisiert, ist jeder festgenommene Beschuldigte vom Gericht unverzüglich nach seiner Einlieferung in die Justizanstalt zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu vernehmen.
Eine Regelung für den Fall, dass die Vernehmung aus in der Person des Beschuldigten liegenden Gründen faktisch nicht möglich ist, fehlt. Um diese planwidrige Lücke zu schließen, sind bei einer solchen Konstellation die Vorschriften des § 176 Abs 3 StPO, wonach der Beschuldigte nicht zur Verhandlung vorzuführen ist, wenn dies wegen seiner Krankheit nicht möglich ist, und des § 429 Abs 2 Z 5 StPO, wonach von Vernehmungen des Betroffenen abzusehen ist, soweit sie wegen seines Zustands nicht oder nur unter erheblicher Gefährdung seiner Gesundheit möglich sind, im Wege der Gesetzesanalogie sinngemäß anzuwenden (11 Os 66, 67/04, SSt 2004/57; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 Rz 18). Es kann somit - wie das Oberlandesgericht zutreffend erkannt hat - die Untersuchungshaft auch über einen nicht vernehmungsfähigen Beschuldigten verhängt werden.
Die gegen diesen Schluss gerichtete, auf rein spekulativen Annahmen beruhende Argumentation der Grundrechtsbeschwerde, es „könnte in Zukunft der Beschluss über die Verhängung der Untersuchungshaft regelmäßig ohne Einvernahmen des Beschuldigten zu einem Zeitpunkt verhängt werden, zu dem der Beschuldigte nicht in der Lage ist, diesen zur Kenntnis zu nehmen", etwa „ganz einfach dann nämlich, wenn der Beschuldigte schläft", vermag dem nichts substantielles zu entgegnen und überzeugt solcherart nicht.
Zutreffend weist die Beschwerde aber darauf hin, dass auch im Zeitraum zwischen Verhängung der Untersuchungshaft am 13. Juli 2008 und der Haftverhandlung am 28. Juli 2008 keine Vernehmung der Beschuldigten stattgefunden hat.
Gemäß Art 4 Abs 3 PersFrSchG ist eine dem Gericht übergebene Person ohne Verzug vom Richter zur Sache und zu den Voraussetzungen der Anhaltung zu vernehmen. Dadurch soll dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, zu den Vorwürfen in der Sache und zur Frage des Vorliegens von Haftgründen Stellung zu nehmen, seinen Standpunkt darzulegen und zu seiner Verteidigung Zweckdienliches zu beantragen und anzuregen. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot ist daher in Fällen der Unmöglichkeit der Befragung unmittelbar nach Einlieferung in die Justizanstalt - wie hier - dadurch Rechnung zu tragen, dass der Festgenommene zum ehest möglichen Zeitpunkt nach Wiedereintritt seiner Vernehmungsfähigkeit vernommen wird. Dass dies in den 14 Tagen zwischen Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht möglich gewesen wäre, lässt sich dem Akt aber nicht entnehmen (vgl etwa ON 22, 23 zu Aktivitäten der Beschuldigten in der Justizanstalt).Gemäß Art 4 Abs 3 PersFrSchG ist eine dem Gericht übergebene Person ohne Verzug vom Richter zur Sache und zu den Voraussetzungen der Anhaltung zu vernehmen. Dadurch soll dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, zu den Vorwürfen in der Sache und zur Frage des Vorliegens von Haftgründen Stellung zu nehmen, seinen Standpunkt darzulegen und zu seiner Verteidigung Zweckdienliches zu beantragen und anzuregen. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot ist daher in Fällen der Unmöglichkeit der Befragung unmittelbar nach Einlieferung in die Justizanstalt - wie hier - dadurch Rechnung zu tragen, dass der Festgenommene zum ehest möglichen Zeitpunkt nach Wiedereintritt seiner Vernehmungsfähigkeit vernommen wird. Dass dies in den 14 Tagen zwischen Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht möglich gewesen wäre, lässt sich dem Akt aber nicht entnehmen vergleiche etwa ON 22, 23 zu Aktivitäten der Beschuldigten in der Justizanstalt).
Entgegen der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts handelt es sich hiebei auch nicht um einen bloßen Formfehler, dem „sowohl im Sinne einer Relativitätsprüfung als auch unter Berücksichtigung des gemäß §§ 9 Abs 1 und 2, 177 Abs 1 StPO zu beachtenden Beschleunigungsgebots" kein erheblicher Einfluss zukommt. Vielmehr stellt § 174 Abs 1 erster Satz StPO eine für die Verhängung der Untersuchungshaft grundlegende Verfahrensvorschrift dar (s § 173 Abs 1 erster Satz StPO), deren Verletzung das Grundrecht auf persönliche Freiheit substantiell berührt (vgl Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vorbem zu §§ 173 - 197 Rz 24).Entgegen der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts handelt es sich hiebei auch nicht um einen bloßen Formfehler, dem „sowohl im Sinne einer Relativitätsprüfung als auch unter Berücksichtigung des gemäß §§ 9 Abs 1 und 2, 177 Abs 1 StPO zu beachtenden Beschleunigungsgebots" kein erheblicher Einfluss zukommt. Vielmehr stellt § 174 Abs 1 erster Satz StPO eine für die Verhängung der Untersuchungshaft grundlegende Verfahrensvorschrift dar (s § 173 Abs 1 erster Satz StPO), deren Verletzung das Grundrecht auf persönliche Freiheit substantiell berührt vergleiche Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vorbem zu §§ 173 - 197 Rz 24).
Indem das Oberlandesgericht als Kontrollinstanz in seiner Entscheidung vom 13. August 2008 im Gegenstand einen Verstoß gegen grundrechtliche Vorschriften ausdrücklich verneinte, wurde Jasmin H***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses bedarf es jedoch nicht (§ 7 Abs 1 GRBG).
Da das Erkenntnis im Sinne der Feststellung einer Grundrechtsverletzung stattgebend ausfiel, hatte die Kostenfolge des § 8 GRBG einzutreten.
Textnummer
E88558European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2008:0110OS00140.08K.1001.000Im RIS seit
31.10.2008Zuletzt aktualisiert am
15.04.2011