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E2D Assoziierung Türkei;Norm
ARB1/80 Art6;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Eisner, über die Beschwerde des K G in R, geboren 1975, vertreten durch Dr. Heribert Schar, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Leopoldstraße 31a, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom 20. Juni 2006, Zl. uvs-2006/23/0257-4, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1.1. Die Bezirkshauptmannschaft Kufstein hat gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen mit Bescheid vom 25. Mai 2004 gemäß § 36 Abs. 1 Z. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 sowie §§ 37, 38 und 39 Fremdengesetz 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren erlassen.
1.2. Mit Bescheid vom 20. Juni 2006 hat der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (die belangte Behörde) die Berufung des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid abgewiesen.
Der Beschwerdeführer habe seit 4. August 1988 seinen Hauptwohnsitz in Österreich. Während dieses Aufenthalts sei der Beschwerdeführer erwerbstätig gewesen. Aus diesem Grund handle es sich beim Beschwerdeführer um einen nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB) begünstigten türkischen Staatsangehörigen. Gemäß § 9 Abs. 1 des mit 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100, sei die belangte Behörde als Berufungsbehörde zuständig.
Der Beschwerdeführer habe in der Berufung vorgebracht, sich beinahe 16 Jahre durchgehend in Österreich aufgehalten zu haben. Seine Eltern und alle vier Brüder lebten im Bundesgebiet. Er wäre seit der Einreise stets einer geordneten Beschäftigung nachgegangen. Weiters wäre er im Bundesgebiet verheiratet und Vater von vier Kindern im Alter zwischen drei und neun Jahren. Bindungen zu seiner ehemaligen Heimat, die er im 13. Lebensjahr verlassen hätte, bestünden nicht mehr.
Der Beschwerdeführer sei mit Urteil des Bezirksgerichtes Schwaz vom 12. Juni 1996 wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB verurteilt worden. Im Anschluss daran sei ihm die Erlassung fremdenpolizeilicher Maßnahmen für den Fall weiteren Fehlverhaltens angedroht worden.
Mit Urteil desselben Bezirksgerichtes vom 25. September 2002 sei der Beschwerdeführer wegen des teils vollendeten und teils versuchten Vergehens nach § 27 Abs. 1 Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe in der Höhe von EUR 140,-- verurteilt worden. Diesem Urteil liege zu Grunde, dass der Beschwerdeführer im August 2001 wiederholt jeweils 10 Stück Ecstasy-Tabletten erworben, Ende August 2001 100 Stück Ecstasy-Tabletten zu erwerben versucht und am 3. September 2001 eine Ecstasy-Tablette erworben habe. Weiters habe er durch Mitkonsum von Kokain gegen die Bestimmungen des SMG verstoßen.
Trotz dieser rechtskräftigen Verurteilung habe der Beschwerdeführer weitere Vergehen und Verbrechen nach dem SMG begangen. Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 4. Februar 2004 sei er wegen des teils versuchten teils vollendeten Verbrechens gemäß § 28 Abs. 2 und Abs. 3 erster Fall SMG iVm § 15 StGB sowie wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Dieser Verurteilung liege zu Grunde, dass der Beschwerdeführer zwischen Winter 2002/2003 und September 2003 vorwiegend durch gewerbsmäßigen Verkauf bzw. Vermittlung etwa 4.300 Stück Ecstasy-Tabletten, somit Suchtgift in einer "mehrfach großen Menge" in Verkehr gesetzt habe. Weiters habe er im August/September 2003 geringe Mengen an Kokain und Ecstasy-Tabletten für den Eigenbedarf erwoben und besessen sowie zumindest 1 Gramm Kokain an eine andere Person verkauft.
Nach wörtlicher Wiedergabe der §§ 60, 61, 63, 66 und 86 FPG führte die belangte Behörde aus, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet gehabt hätten, nur dann zulässig sei, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch den weiteren Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Im gegenständlichen Fall sei der Behörde erster Instanz nicht entgegen zu treten, wenn sie auf Grund der schwerwiegenden Verurteilungen davon ausgegangen sei, dass die Voraussetzungen für die Verhängung eines Aufenthaltsverbots vorlägen. Hiebei sei insbesondere auf folgende Feststellungen aus dem Urteil vom 4. Februar 2004 zu verweisen:
"Diese insgesamt 4.300 Stück Ectasy-Tabletten wurden vom Angeklagten K G objektiv mit einer am einheitlichen Gefahrenbegriff orientierten Kontinuität in Verkehr gesetzt und sei ein zumindest bedingter Vorsatz umfasste auf der subjektiven Tatseite jeweils auch den an die bewusst kontinuierliche Begehung geknüpften Additionseffekt mit, weshalb Handlungseinheit einzunehmen ist, die einzelnen Tablettenmengen zusammenzuzählen sind. Die zahlreichen einzelnen Übergaben über einen Zeitraum von Nahezu einem Jahr lassen sich nach Ansicht des Gerichtes nicht anders interpretieren.
Der Angeklagte K G hat nach der Überzeugung des Gerichtes von Anfang an die Absicht, sich durch das wiederholte in Verkehr Setzen von jeweils großen Ectasy-Tabletten-Mengen eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen. Auch hier stellen die zahlreichen Weitergaben in Verbindung mit der Tatsache, dass er in finanziellen Schwierigkeiten war, die er durch diese Ectasy-Geschäfte überwinden wollte (eigene Verantwortung anlässlich der Hauptverhandlung) ein entscheidendes Kriterium dar."
Bei Würdigung der vorliegenden Verurteilung sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer über einen länger dauernden Zeitraum aus reiner Gewinnsucht Handel mit größeren Mengen von Suchtgift betrieben habe. Diesen Handel habe er "auch nahezu bandenmäßig organisiert". Es dürfe nicht übersehen werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Strafbemessung des Landesgerichtes Innsbruck "offensichtlich als führender Kopf angesehen worden ist". Insgesamt stelle das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinn des § 86 Abs. 1 FPG dar. Die Erlassung des Aufenthaltsverbot sei daher auch in Anbetracht des "durchaus lang andauernden Aufenthaltes im Bundesgebiet" gerechtfertigt.
Bei der Abwägung der aufgezeigten öffentlichen Interessen gegen das Interesse des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens sei im Hinblick auf die vom organisierten Suchtgifthandel ausgehenden Gefahren auch unter Berücksichtigung des lang dauernden Aufenthalts und der Anwesenheit eines Großteils der Familie des Beschwerdeführers im Bundesgebiet vom Vorrang der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit auszugehen.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Auf dem Boden der unstrittigen Feststellungen im angefochtenen Bescheid ist die Ansicht der belangte Behörde, dass dem Beschwerdeführer die von Art. 6 ARB geschützte Rechtsposition zukommt, unbedenklich. Von daher war die belangte Behörde als Berufungsbehörde zuständig; ein Aufenthaltsverbot gegen den Beschwerdeführer kann nur unter den für freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige geltenden Voraussetzungen gemäß § 86 FPG erlassen werden (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 13. September 2006, Zl. 2006/18/0173).
Die belangte Behörde hat die Berufung gegen den Bescheid der Behörde erster Instanz, mit dem ein Aufenthaltsverbot gemäß § 36 des mit 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen FrG erlassen worden war, abgewiesen und damit spruchgemäß einen mit dem erstinstanzlichen Bescheid übereinstimmenden Bescheid erlassen (vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren I2, E 313 ff zu § 66 AVG zitierte hg. Judikatur). Allein dadurch wurde der Beschwerdeführer jedoch nicht in Rechten verletzt, ergibt sich doch aus der Begründung des angefochtenen Bescheides eindeutig, dass die belangte Behörde das Aufenthaltsverbot auf § 86 FPG gestützt hat.
2. Nach den ersten fünf Sätzen des § 86 Abs. 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafgerichtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Unter der Wendung "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" im fünften Satz dieser Bestimmung ist der Zeitpunkt vor Eintritt des ersten der von der Behörde zulässigerweise zur Begründung des Aufenthaltsverbots herangezogenen Umstände, die in ihrer Gesamtheit die Maßnahme tragen, zu verstehen. Die Heranziehung eines Fehlverhaltens, das unter Berücksichtigung des seither verstrichenen Zeitraumes nicht (mehr) geeignet ist, eine relevante Vergrößerung der vom Fremden ausgehenden Gefährdung der maßgeblichen öffentlichen Interessen herbeizuführen, zur Begründung eines Aufenthaltsverbots ist jedoch nicht zulässig. Ein solches Fehlverhalten gehört daher nicht zum "maßgeblichen Sachverhalt" im Sinn von § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG. (Vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. November 2006, Zl. 2006/18/0314 und das darin verwiesene, zum FrG ergangene hg. Erkenntnis vom 17. September 1998, Zl. 98/18/0170.)
3. Der Beschwerdeführer hat unstrittig seinen Hauptwohnsitz seit 4. August 1988 im Bundesgebiet. Er wurde nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid am 12. Juni 1996 wegen des Vergehens der (vorsätzlichen leichten) Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB (rechtskräftig) verurteilt.
Zur Beurteilung der Frage, ob das dieser Verurteilung zu Grunde liegende Fehlverhalten geeignet ist, eine relevante Vergrößerung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung öffentlicher Interessen herbeizuführen, erforderliche Feststellungen über Zeitpunkt, Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten fehlen.
Hinzugefügt sei, dass auf Grund des Fehlens einschlägiger Folgeverurteilungen ohne Hinzutreten besonderer Umstände (z.B. enger Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit) eine relevante Vergrößerung der vom Beschwerdeführer auf Grund seiner Suchtgiftdelikte ausgehenden Gefährdung öffentlicher Interessen durch die jedenfalls mehr als zehn Jahre zurückliegende Körperverletzung nicht anzunehmen ist.
Das erste Vergehen nach dem SMG wurde vom Beschwerdeführer im August 2002, somit zu einem Zeitpunkt, in dem er seinen Hauptwohnsitz bereits mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet hatte, begangen. Von daher hätte die belangte Behörde den fünften Satz des § 86 Abs. 1 FPG nur dann nicht anzuwenden gehabt, wenn die der Verurteilung vom 12. Juni 1996 zu Grunde liegende Körperverletzung - auf Grund besonderer Umstände - noch zum für das Aufenthaltsverbot maßgeblichen Sachverhalt gehörte.
4. Die belangte Behörde hat zwar eingangs ihrer Ausführungen zur Zulässigkeit des Aufenthaltsverbots im Grund des § 86 FPG den fünften Satz dieser Bestimmung zitiert, jedoch danach im Anschluss an die Darstellung der Straftaten lediglich ausgeführt, dass das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinn des § 86 Abs. 1 FPG darstelle. Mit der nach § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG maßgeblichen Frage, ob durch den Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet darüber hinaus die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde, hat sich die belangte Behörde hingegen nicht auseinander gesetzt.
Überdies ist es nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde auf Grund der von ihr wiedergegebenen Passagen aus dem Strafurteil zu dem Schluss gekommen ist, der Beschwerdeführer habe den Suchtgifthandel "nahezu bandenmäßig organisiert". Weiter kann entgegen der Ansicht der belangten Behörde nicht allein aus der gerichtlichen Strafzumessung darauf geschlossen werden, der Beschwerdeführer sei vom Gericht "offensichtlich als führender Kopf" angesehen worden.
5. Auf Grund der aufgezeigten Verfahrensmängel war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 11. Dezember 2007
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7InstanzenzugBegründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebietesachliche ZuständigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2006180278.X00Im RIS seit
07.02.2008Zuletzt aktualisiert am
23.02.2010