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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AVG §1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des K, vertreten durch Solicitor Edward W. Daigneault in 1070 Wien, Hernalser Gürtel 47/4, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 28. Dezember 2007, Zl. E1/303.433/2007, betreffend Anordnung gelinderer Mittel gemäß §§ 77 FPG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der im Jahr 2002 eingereiste Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 5. Juli 2002 einen Asylantrag, der mit dem im Februar 2005 im Instanzenzug ergangenen Berufungsbescheid des unabhängigen Bundesasylsenates abgewiesen wurde; unter einem wurde die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria festgestellt.
Bereits davor war gegen den Beschwerdeführer mit rechtskräftigem Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 17. November 2004 im Hinblick auf eine strafgerichtliche Verurteilung ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden.
Am 10. Mai 2005 heiratete der Beschwerdeführer eine österreichische Staatsangehörige; der gemeinsame Sohn, der auch im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft ist, wurde am 23. Juni 2005 geboren. In der Folge wurde dem Beschwerdeführer von der Bundespolizeidirektion Wien antragsgemäß eine vom 13. Juli 2005 bis 13. Juli 2006 befristete Niederlassungsbewilligung mit dem Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Österreicher" ("begünstiger Drittsta. - Ö, § 49 FrG") erteilt. Am 26. Mai 2006 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, die Niederlassungsbewilligung zu verlängern.
Mit Bescheid des (seit dem Inkrafttreten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG zuständigen) Landeshauptmannes von Wien vom 11. Oktober 2006 wurde (u.a. auch) dieser Antrag abgewiesen. Der (auch) dagegen erhobenen Berufung, über die insoweit mit dem davor ergangenem Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 26. März 2007 noch nicht abgesprochen worden war, wurde mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 20. Juli 2007 stattgegeben und der erstinstanzliche Bescheid ersatzlos behoben. Dem liegt die Auffassung zugrunde, bei dem Antrag vom 26. Mai 2006 handle es sich um einen Verlängerungsantrag, den die Erstbehörde nicht wegen Vorliegens eines Aufenthaltsverbotes hätte abweisen dürfen; sie hätte vielmehr im Sinne der §§ 24 und 25 NAG vorgehen müssen.
Mit Bescheid vom 28. Juni 2007 sprach die Bundespolizeidirektion Wien - unter Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Berufung - aus, gemäß § 77 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG werde von der Anordnung der Schubhaft gegen den Beschwerdeführer Abstand genommen, zur Sicherung seiner Abschiebung aber das gelindere Mittel angeordnet, dass sich der Beschwerdeführer beginnend mit 30. Juni 2007 jeden Montag, Donnerstag und Samstag bei einer näher genannten Polizeidienststelle zu melden und an der bisherigen Wohnadresse weiter Unterkunft zu nehmen habe.
Der dagegen erhobenen Berufung gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (die belangte Behörde) mit dem angefochtenen Bescheid vom 28. Dezember 2007 keine Folge und bestätigte gemäß § 66 Abs. 4 AVG den erstinstanzlichen Bescheid.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:
Zunächst ist klarzustellen, dass die belangte Behörde im vorliegenden Fall ihre Zuständigkeit als Berufungsbehörde vor dem Hintergrund der Bestimmungen des § 9 Abs. 1 und 2 FPG und des § 82 Abs. 1 FPG zu Recht in Anspruch genommen hat. Die im § 9 Abs. 2 zweiter Satz FPG normierte Unzulässigkeit einer Berufung und die Zuständigkeit des unabhängigen Verwaltungssenates zur Entscheidung über eine Beschwerde nach § 82 Abs. 1 FPG beziehen sich nämlich nur auf die Schubhaft, nicht jedoch auf die Anordnung gelinderer Mittel (siehe dazu das zur insoweit inhaltsgleichen Rechtslage nach dem FrG 1997 ergangene hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2002, Zl. 2001/02/0268; idS auch Muzak, Die Schubhaft nach dem FPG 2005, migralex 2007, 81 ff, Punkt III.). Es bestehen aber auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers von ihrem (gemeinschaftsrechtlich begründeten) Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte und deshalb die Zuständigkeit des unabhängigen Verwaltungssenates nach § 9 Abs. 1 Z 1 FPG zur Entscheidung über die Berufung gegeben gewesen wäre (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2006/21/0179, mit weiteren Hinweisen). Im vorliegenden Fall einer Berufung gegen die Anordnung gelinderer Mittel gegen einen Angehörigen einer nicht die Freizügigkeit in Anspruch genommen habenden Österreicherin war daher nach § 9 Abs. 1 Z 2 FPG die Zuständigkeit der Sicherheitsdirektion gegeben.
§ 76 Abs. 1 und § 77 Abs. 1, 2 und 3 FPG lauten samt
Überschriften:
"Schubhaft und gelinderes Mittel
Schubhaft
§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern. Über Fremde, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, darf Schubhaft verhängt werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen.
Gelinderes Mittel
§ 77. (1) Die Behörde kann von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann. Gegen Minderjährige hat die Behörde gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn, sie hätte Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann.
(2) Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel ist, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 99 Abs. 1 Z 1 von Amts wegen erfolgt.
(3) Als gelinderes Mittel kommt insbesondere die Anordnung in Betracht, in von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen oder sich in periodischen Abständen bei dem dem Fremden bekannt gegebenen Polizeikommando zu melden."
Die belangte Behörde begründete die Anordnung gelinderer Mittel gegen den Beschwerdeführer damit, dass er seiner Ausreiseverpflichtung seit mehr als drei Jahren nicht nachgekommen sei. Es sei nämlich davon auszugehen, dass gegen ihn "unter seiner ursprünglichen Identität" (gemeint: entsprechend seinen Angaben im Asylverfahren als "I O, geboren am 8. Oktober 1986") ein rechtskräftiges und durchsetzbares Aufenthaltsverbot erlassen worden sei. Das Aufenthaltsverbot sei auch nicht - wie der Beschwerdeführer meine - durch die nachträgliche Erteilung eines Aufenthaltstitels weggefallen, weil der Beschwerdeführer anlässlich seines Antrages auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung "bewusst andere Angaben über seinen Namen und sein Geburtsdatum" (gemeint: "K I O, geboren am 10. Oktober 1982") getätigt habe, um die Behörde über das bestehende Aufenthaltsverbot zu täuschen.
Diesem Vorwurf wird in der Beschwerde mit näherer Begründung entgegen getreten und insbesondere darauf hingewiesen, dass die Bundespolizeidirektion Wien vor Erteilung des Aufenthaltstitels in Kenntnis des richtigen "Nationales" des Beschwerdeführers gewesen sei. Wie sich aus einem Vorhalt an den Beschwerdeführer über die Beendigung des Asylverfahrens ergebe, sei sie auch imstande gewesen, diese Person mit seinem Asylverfahren zu verknüpfen. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer im Niederlassungsbewilligungsantrag auch seine strafgerichtliche Verurteilung richtig angegeben.
Die damit angesprochene Frage, ob im Sinne des § 69 Abs. 1 und 3 AVG ein Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens über den am 9. Juni 2005 gestellten Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gegeben wäre, bedarf aber hier keiner weiteren Erörterung. Fest steht nämlich, dass ein diesbezüglicher Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 29. November 2005 über die amtswegige Wiederaufnahme dieses Verfahrens von der Berufungsbehörde mit Bescheid vom 3. Februar 2006 behoben und eine neue, die Wiederaufnahme verfügende Entscheidung bisher nicht erlassen wurde. Für das vorliegende Verfahren ist daher davon auszugehen, dass die dem Beschwerdeführer für die Zeit vom 13. Juli 2005 bis 13. Juli 2006 rechtskräftig erteilte Niederlassungsbewilligung nicht aus dem Rechtsbestand beseitigt wurde.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur insoweit im Wesentlichen inhaltsgleichen Rechtslage nach dem FrG 1997 (siehe zum Ganzen das Erkenntnis vom 25. Februar 2000, Zl. 99/19/0226) war die Erteilung der Niederlassungsbewilligung an den Beschwerdeführer - trotz des in diesem Zeitpunkt bestehenden und einen (zwingenden) Versagungsgrund darstellenden Aufenthaltsverbotes - auch wirksam. Denn die Rechtskraft des über den Beschwerdeführer verhängten Aufenthaltsverbotes bewirkte nicht die Unwirksamkeit der (zu Unrecht) erteilten Niederlassungsbewilligung, sondern die in Rechtskraft erwachsene Niederlassungsbewilligung verdrängte als spätere Norm die Rechtswirksamkeit eines zuvor erteilten Aufenthaltsverbotes für die Zeit ihrer Geltungsdauer. Da der Beschwerdeführer rechtzeitig vor Ablauf der ersten Niederlassungsbewilligung mit Antrag vom 26. Mai 2006 deren Verlängerung begehrte, ist dieser Antrag als "Verlängerungsantrag" im Sinne des § 24 Abs. 1 NAG zu qualifizieren. Demzufolge ist der Beschwerdeführer nach § 24 Abs. 2 letzter Satz NAG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig niedergelassen. Das durch die rechtswirksame Erteilung des Aufenthaltstitels erlangte Niederlassungsrecht ist somit während des Verfahrens über den Verlängerungsantrag perpetuiert und verdrängt auch in diesem Zeitraum das gegen den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 17. November 2004 erlassene Aufenthaltsverbot.
Vor diesem Hintergrund weist der Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit der eingangs wiedergegebenen Aktenlage zu Recht darauf hin, dass das Verfahren über den Antrag vom 26. Mai 2006 auf Verlängerung der Niederlassungsbewilligung weder im Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides noch des angefochtenen Berufungsbescheides rechtskräftig beendet war. Entgegen der Annahme der belangten Behörde lag daher seit 13. Juli 2005 kein durchsetzbares Aufenthaltsverbot gegen den Beschwerdeführer vor, sodass die Anordnung gelinderer Mittel zur - im Hinblick auf die Bestätigung des erstinstanzlichen Bescheides allein gegenständlichen - Sicherung der Abschiebung des Beschwerdeführers rechtswidrig war.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 31. März 2008
Schlagworte
sachliche Zuständigkeit in einzelnen AngelegenheitenInstanzenzugInstanzenzug Zuständigkeit Besondere RechtsgebieteBesondere RechtsgebieteRechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der BehördeIndividuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2008:2008210123.X00Im RIS seit
25.04.2008Zuletzt aktualisiert am
27.06.2012