Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §10;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des I, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/II/23, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 2. Mai 2006, Zl. Senat-FR-06-1052, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Am 10. Februar 2006 reiste er gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 18. April 2006 einen Asylantrag. Bei seiner am selben Tag durchgeführten Ersteinvernahme führte er aus, er sei in Polen zwar von den Behörden angehalten und in einem Lager untergebracht worden. Auch seien ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden. Er habe jedoch nicht um Asyl angesucht. In Österreich (wo in der Folge das Kind des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau zur Welt kam) habe er bei seinem Bruder gelebt.
Mit Bescheid vom 18. April 2006 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Baden gemäß § 76 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft an, um das Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 und seine Abschiebung zu sichern.
Der dagegen erhobenen Schubhaftbeschwerde gab die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid vom 2. Mai 2006 gemäß § 83 FPG iVm § 67c Abs. 3 AVG keine Folge. Überdies stellte sie gemäß § 83 Abs. 4 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.
Diesen Bescheid begründete sie im Wesentlichen damit, dass Österreich zur Prüfung des Antrages des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz nicht zuständig sei, sich mittlerweile Polen zur Durchführung des Verfahrens bereit erklärt habe und insgesamt ein Anwendungsfall des § 76 Abs. 2 Z. 4 FPG vorliege. Die Anhaltung des Beschwerdeführers sei gerechtfertigt, weil seine Angaben, in Polen nicht um Asyl angesucht zu haben, unglaubwürdig seien, könne doch nicht angenommen werden, dass die polnischen Behörden eine - tatsächlich nicht erfolgte - Antragstellung vermerkt hätten. Dazu komme, dass der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben bereits am 10. Februar 2006 in das Bundesgebiet eingereist sei und erst am 18. April 2006 einen Asylantrag gestellt habe. Er habe sich somit mehr als zwei Monate lang illegal im Bundesgebiet aufgehalten und besitze "keine Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts für sich und seine hochschwangere Gattin". Auch der in Österreich befindliche Bruder des Beschwerdeführers habe keine Verpflichtungserklärung "hinsichtlich der Übernahme der Kosten der Verpflegung vorgelegt, wozu der Beschwerdeführer im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens in Anbetracht der kurzen Entscheidungsfrist zum Nachweis seines Unterhaltes verpflichtet gewesen wäre". Die Anwendung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG komme nicht in Betracht, weil auf Grund des dargestellten Verhaltens des Beschwerdeführers die Annahme, er werde sich behördlichen Maßnahmen entziehen und dadurch den Zweck der Schubhaft vereiteln, "nicht lebensfremd" sei.
Schließlich habe der Beschwerdeführer ins Treffen geführt, an einer höhergradigen posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden und daher haftunfähig zu sein, wie durch einen psychotherapeutischen Kurzbericht des Vereines H. vom 30. März 2006 festgestellt worden sei. Er trüge hiernach ein hohes Risiko, was das Wiederaufflammen seiner Erkrankung anlange. Diesem Vorbringen sei zu entgegnen, dass die Frage, "wie weit der Beschwerdeführer durch eine psychische Krankheit haftfähig" sei, "im Rahmen der Untersuchung durch den Amtsarzt während der Schubhaft zu beurteilen" wäre. Im Übrigen handle es sich bei den vorgelegten Unterlagen um kein Gutachten eines gerichtlich beeideten Sachverständigen.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Sämtliche Schubhafttatbestände des § 76 Abs. 2 FPG sind final determiniert. Sie rechtfertigen die Verhängung von Schubhaft nur "zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung". Der Verfassungsgerichtshof hat darüber hinaus in seinem Erkenntnis vom 15. Juni 2007, B 1330/06 und B 1331/06, klargestellt, dass die Behörden in allen Fällen des § 76 Abs. 2 FPG unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Im Ergebnis bedeutet das, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG gestützt werden soll, stets nur ultima ratio sein darf. Sie darf auch in "Dublin-Fällen" nicht zu einer "Standardmaßnahme" gegen Asylwerber werden (vgl. zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Februar 2008, Zl. 2007/21/0391, mwN).
Wenn der Beschwerdeführer bei seiner Ersteinvernahme am 18. April 2006 - nunmehr unstrittig - auch unrichtige Angaben über das Unterbleiben eines Asylantrages in Polen gemacht und den Asylantrag in Österreich nicht unverzüglich nach der Einreise gestellt hat, lassen die Erwägungen der belangten Behörde doch wesentliche, den vorliegenden Fall kennzeichnende Gesichtspunkte seiner familiären Situation außer Betracht, die im Sinn der gebotenen Einzelfallprüfung auch zu berücksichtigen gewesen wären. So hat der Beschwerdeführer nach seinem Vorbringen - gegenteilige Feststellungen wurden nicht getroffen - nach der Einreise in Österreich gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau bei seinem Bruder gelebt. Die Ehefrau wurde nach der Aktenlage gemeinsam mit dem neu geborenen Kind, nach dem auch sie einen Asylantrag gestellt hatte, in Bundesbetreuung untergebracht. Auch der Beschwerdeführer hätte als Asylwerber im Zulassungsverfahren gemäß § 2 Abs. 1 Grundversorgungsgesetz - Bund 2005 grundsätzlich Anspruch auf Versorgung in einer Betreuungseinrichtung des Bundes gehabt, weshalb seine Mittellosigkeit - entgegen der Argumentation des angefochtenen Bescheides - keine taugliche Begründung für die Verhängung von Schubhaft abzugeben vermag (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. Februar 2008, Zl. 2007/21/0402). Ebenso stellt sich die Frage, weshalb er in seiner konkreten Situation - wäre er nicht in Schubhaft genommen und wäre ihm diese Versorgung gewährt worden - diese Unterstützung, zumal in Anbetracht seiner familiären Situation, aufgeben und in diesem (frühen) Verfahrensstadium in die "Anonymität" untertauchen hätte sollen (vgl. das die neuerliche Beantragung von Asyl in Österreich nach der Zurückziehung eines in Polen gestellten Asylantrages betreffende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. September 2004, VfSlg. 17.288, sowie das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, mwN). Die bloße (rechtswidriges Verhalten im Ergebnis als Regelfall ansehende) Unterstellung, es wäre "nicht lebensfremd", dass sich der Beschwerdeführer behördlichen Maßnahmen entziehen könnte, wird im Übrigen dem geforderten Wahrscheinlichkeitsmaßstab für den Sicherungsbedarf nicht gerecht.
Ebenso lässt der angefochtene Bescheid die familiären Bindungen des Beschwerdeführers bei der Prüfung der Frage unberücksichtigt, aus welchen Überlegungen nicht die Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 1 FPG ausreichend gewesen wäre.
Schließlich wäre es auch geboten gewesen, eine allfällige Haftunfähigkeit des Beschwerdeführers, die dazu führt, dass er nicht angehalten werden dürfte, und die damit eine Frage der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung betrifft, einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 18. Juni 2001, B 1443/00 u.a. = VfSlg. 16.197). Diese Frage wurde von der belangten Behörde jedoch ausdrücklich offen gelassen.
Dies fällt umso mehr ins Gewicht, weil eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers - selbst wenn daraus keine Haftunfähigkeit resultieren sollte - im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ergebnis führen kann, dass an Stelle der Anordnung der Schubhaft die Anwendung gelinderer Mittel ausreichend gewesen wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. Dezember 2000, Zl. 98/02/0155).
Nach dem Gesagten ist der bekämpfte Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er schon deshalb - ohne dass auf das weitere Vorbringen, etwa zu der bei der Vernehmung geäußerten Absicht des Beschwerdeführers, im Fall der Unzuständigkeit Österreichs zur Führung seines Asylverfahrens freiwillig auszureisen, und die Dauer der Schubhaft näher eingegangen werden musste - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Die Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG unterbleiben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 29. April 2008
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2008:2006210127.X00Im RIS seit
28.05.2008Zuletzt aktualisiert am
04.04.2014