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66 SozialversicherungNorm
B-VG Art20 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch unrichtige Zusammensetzung einer Kollegialbehörde bei Entscheidung über die Auszahlung von der Krankenkasse einbehaltener Honorarforderungen von Ärzten; ASVG-Novelle betreffend die Beisitzer der Landesberufungskommission zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits in Kraft; Missachtung der auf Grund der geänderten Rechtslage bestehenden Verpflichtung zur Neudurchführung des Berufungsverfahrens unter Beachtung der neuen BesetzungsvorschriftenSpruch
Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Gesundheit und Frauen) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit € 2746,80 bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführer sind Vertrags-Fachärzte der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse mit Sitz in Niederösterreich.
2. Mit undatiertem, bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse am 13. Juni 1995 eingelangtem Schriftsatz stellten die Beschwerdeführer den Antrag, die paritätische Schiedskommission für Niederösterreich möge die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse schuldig erkennen, bei den Honorarabrechnungen der Quartale II bis IV/1994 in Abzug gebrachte, näher bezeichnete Beträge samt 4 % Zinsen seit dem 1. April 1995 auszuzahlen.
Begründend wurde zu diesem Begehren ausgeführt, die diesen Honorarabzügen zugrunde liegende "Zusatzvereinbarung 1993/94" vom 9. Juni 1994 (idF der Vereinbarung vom 17. Mai 1995) - abgeschlossen zwischen der Ärztekammer für Niederösterreich und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger - sei unsachlich und den Beschwerdeführern gegenüber unwirksam.
3. Die - nach Stellung eines Devolutionsantrages gemäß §344 Abs3 iVm §345 Abs2 Z2 ASVG zuständige - Landesberufungskommission für Niederösterreich wies das Begehren der Beschwerdeführer auf Auszahlung des einbehaltenen Honorars mit Hinweis auf die "Zusatzvereinbarung 1993/94" idF vom 17. Mai 1995 mit Bescheid vom 23. April 1997 als unbegründet ab.
Mit Erkenntnis vom 17. Dezember 1999, B2250/97, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, daß die Beschwerdeführer durch diesen - letztinstanzlichen - Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden seien; der Bescheid wurde kostenpflichtig aufgehoben.
4. Mit - im zweiten Rechtsgang erlassenem - Bescheid vom 19. September 2001 wies die Landesberufungskommission für Niederösterreich das Begehren der Beschwerdeführer von neuem als unbegründet ab.
Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, worin die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
5. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, aber keine Gegenschrift erstattet. Die dem Verfahren als beteiligte Partei beigezogene Niederösterreichische Gebietskrankenkasse hat eine schriftliche Äußerung zum Gegenstand erstattet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Gemäß §341 Abs1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955 idgF, sind die Beziehungen zwischen den Krankenversicherungsträgern und den freiberuflich tätigen Ärzten durch Gesamtverträge zu regeln, die vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind.
Der Inhalt des Gesamtvertrages ist auch Inhalt des zwischen dem Krankenversicherungsträger und dem Arzt abgeschlossenen Einzelvertrages; vom Gesamtvertrag abweichende Vereinbarungen sind rechtsunwirksam (§341 Abs2 ASVG).
1.2. Gemäß §344 Abs1 ASVG ist zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Die paritätische Schiedskommission setzt sich aus vier Mitgliedern zusammen, von denen zwei von der zuständigen Ärztekammer und zwei vom Krankenversicherungsträger, der Partei des Einzelvertrages ist, bestellt werden. Kann wegen Stimmengleichheit in der paritätischen Schiedskommission keine Entscheidung ergehen, so geht - auf schriftliches Verlangen einer Partei - die Zuständigkeit zur Entscheidung an die Landesberufungskommission über (§344 Abs3, §345 Abs2 Z2 ASVG).
§345 ASVG - in der Fassung vor Inkrafttreten der 60. Novelle zum ASVG, BGBl. I Nr. 140/2002 - hatte über die Landesberufungskommission folgendes bestimmt:
"Landesberufungskommission
§345. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesberufungskommission zu errichten. Diese besteht aus einem Richter des Dienststandes als Vorsitzenden und aus vier Beisitzern. Der Vorsitzende ist vom Bundesminister für Justiz zu bestellen; der Vorsitzende muß ein Richter sein, der im Zeitpunkt seiner Bestellung bei einem Gerichtshof in Arbeits- und Sozialrechtssachen tätig ist. Je zwei Beisitzer werden von der zuständigen Ärztekammer und dem Hauptverband entsendet.
(2)-(3) ..."
Die Mitglieder der Landesberufungskommission sind in Ausübung ihres Amtes unabhängig und an keine Weisungen gebunden (§345 Abs3 iVm §346 Abs6 ASVG).
Mit der 60. Novelle zum ASVG, Z44, wurde §345 Abs1 ASVG zur Gänze neu erlassen; dabei wurde insbesondere folgender Satz angefügt:
"(1) ... Versicherungsvertreter(innen) und Arbeitnehmer(innen) jenes Versicherungsträgers sowie Angehörige und Arbeitnehmer(innen) jener Ärztekammer, die Vertragsparteien des Gesamtvertrages sind, auf dem der streitgegenständliche Einzelvertrag beruht, dürfen im jeweiligen Verfahren nicht Beisitzer sein."
Die Erläuterungen der entsprechenden Regierungsvorlage (1183 BlgNR XXI. GP, zu Z44) begründen diese Änderung im wesentlichen wie folgt:
"Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes stellen die in den einzelnen Bundesländern bestehenden Landesberufungskommissionen Behörden dar, die - ungeachtet des Berichts der Europäischen Kommission für Menschenrechte und der einschlägigen Entscheidung des Ministerkomitees - den Anforderungen des Art6 Abs1 MRK prinzipiell entsprechen. Danach könnte sich angesichts der Weisungsfreiheit der Mitglieder der Landesberufungskommissionen - ein Verstoß gegen Art6 Abs1 MRK nur aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben, so etwa daraus, dass ein Mitglied am Zustandekommen des Gesamt- oder Einzelvertrags, dessen Gültigkeit oder Interpretation im jeweiligen Verfahren strittig ist, mitgewirkt hat (vgl. VfSlg 13.553/1993; VfGH 11. 10. 2000, B224/00), oder sonst 'besondere Umstände' vorliegen, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Mitglieds zur Entscheidung in bestimmten Rechtssachen mit Recht in Zweifel ziehen ließen (vgl. VfSlg 15.698/1999 unter Hinweis auf die Entscheidung des Ministerkomitees im Fall Hortolomei; zuletzt VfGH 2. 3. 2002, B1538/01).
Durch die vorgeschlagene Änderung des §345 Abs1 ASVG soll die bislang in Einzelfällen festgestellte Verletzung des Art6 MRK künftig vermieden werden[.]"
Wie sich aus §600 Abs1 Z1 ASVG ergibt, ist §345 Abs1 ASVG idF 60. Novelle am 1. September 2002, somit noch vor Zustellung des angefochtenen Bescheides, in Kraft getreten.
2. Der Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt das durch Art83 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter ua. dann, wenn der Bescheid durch eine zwar an sich zuständige, aber unrichtig zusammengesetzte Kollegialbehörde erlassen wird (zB VfSlg. 2679/1954, 3406/1958, 3752/1960, 4567/1963, 4664/1964, 5296/1966, 7293/1974, 8731/1980, 9116/1981, 10.022/1984, 11.108/1986, 11.336/1987, 11.350/1987, 13.946/1993). Kollegialbehörden iS des Art20 Abs2 B-VG bzw. des Art133 Z4 B-VG unterliegen auf Grund ihrer einem ordentlichen Gericht nahekommenden Stellung in der Frage der Zusammensetzung zur Durchführung fortgesetzter Verhandlungen denselben strengen Regeln wie kollegial besetzte Gerichte (VfSlg. 4664/1964, 4728/1964). Ihre Mitglieder dürfen demnach jedenfalls in diesem Verfahrensstadium nicht mehr ausgewechselt werden (VfSlg. 11.108/1986).
3.1. Die Beschwerdeführer erachten sich zunächst dadurch in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, daß beim Verhandlungstermin vom 20. Juni 2001 maßgebliche Beweise aufgenommen und Zeugen befragt worden seien, obwohl die belangte Behörde - wegen Abwesenheit eines vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger nominierten Beisitzers - nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt gewesen sei.
Es trifft zwar zu, daß die letzte - der (nichtöffentlichen) Beschlußfassung über den Bescheid unmittelbar vorangehende - mündliche Verhandlung vom 19. September 2001 in anderer Besetzung stattgefunden hat als die Verhandlungen vom 8. November 2000 bzw. vom 20. Juni 2001. Die Verhandlungsschrift vom 19. September 2001 lautet allerdings auszugsweise wie folgt:
"Neudurchführung der Verhandlung wegen Änderung der Kommission. Verlesen wird der gesamte Akteninhalt.
...
Formell verlesen wird der gesamte Akteninhalt, insbesondere die Zeugenaussagen in der Tagsatzung vom 20.6.01. Auf eine Neudurchführung dieser Beweisaufnahme wird einverständlich verzichtet."
Da die mündliche Verhandlung in dieser letzten Sitzung somit formell neu durchgeführt worden ist, liegt eine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter unter dem von den Beschwerdeführern geltend gemachten Gesichtspunkt nicht vor (s. auch VfSlg. 4728/1964, 11.108/1986).
3.2. Die Beschwerde ist dennoch insofern im Ergebnis begründet, als die belangte Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides unrichtig zusammengesetzt war:
3.2.1. Die belangte Behörde hat schon am 19. September 2001 - im Anschluß an den letzten Verhandlungstermin - über den Bescheid Beschluß gefaßt. Zu diesem Zeitpunkt war §345 Abs1 ASVG noch in der Fassung vor der 60. Novelle zum ASVG anzuwenden. Der Bescheid ist den Beschwerdeführern allerdings erst mehr als ein Jahr später, nämlich am 30. Oktober 2002, zugestellt worden.
3.2.2. Die rechtlichen Grundlagen eines Bescheides, auch was die Zuständigkeit und die dem Gesetz entsprechende Zusammensetzung der Behörde betrifft, sind, wie der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, auch bei Kollegialbehörden stets nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides, nicht nach jener im Zeitpunkt der kollegialen Beschlußfassung, zu beurteilen (zB VfSlg. 5363/1966, 7317/1974, 9428/1982, 12.825/1991, 13.111/1992; VfGH 26. November 2001, B2158/00; vgl. auch VfSlg. 16.199/2001, S 987; zum Teil abweichend die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes: wie hier VwSlg. 6693 A/1965, 7227 A/1967 [verstärkter Senat] sowie VwGH 19. Dezember 2000, 2000/12/0045;
anders zB VwSlg. 3614 A/1954, 7974 A/1971; VwGH 9. April 1980, 104/79; 14. September 1989, 88/06/0086; 23. Jänner 1990, 89/06/0125;
21. März 1991, 89/09/0040; 29. August 1995, 94/05/0221; 10. Mai 1996, 95/02/0441; 16. April 1998, 98/05/0040; 11. November 1998, 98/12/0223).
3.2.3. Ein Bescheid gilt als erlassen, wenn er der Partei entweder schriftlich zugestellt oder mündlich verkündet worden ist. Wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt, ist der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters am 30. Oktober 2002 zugestellt worden. §345 Abs1 ASVG idF 60. Novelle stand in diesem Zeitpunkt bereits - seit 1. September 2002 - in Kraft.
Es war der belangten Behörde in diesem Verfahrensstadium (dh. nach Durchführung der mündlichen Verhandlung vom 19. September 2001) allerdings verwehrt, in geänderter Zusammensetzung neuerlich Beschluß zu fassen (vgl. VfSlg. 11.108/1986). Sie war vielmehr auf Grund der geänderten Rechtslage gegebenenfalls verpflichtet, das Berufungsverfahren unter Beachtung der nunmehrigen Besetzungsvorschriften neu durchzuführen (so wie dies schon einmal auf Grund geänderter Zusammensetzung in der letzten mündlichen Verhandlung am 19. September 2001 geschehen ist).
3.2.4. Das Vorbringen, der belangten Behörde hätten als Beisitzer Personen angehört, die bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse hauptberuflich beschäftigt seien, ist zwar unrichtig: Die gemäß §345 Abs1 ASVG auf Vorschlag des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger bestellten, an der Entscheidungsfindung der belangten Behörde beteiligten Beisitzer sind vielmehr Bedienstete der Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen bzw. der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter. Sie stehen in keinem Dienstverhältnis zur Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse, wie diese in ihrer schriftlichen Äußerung im Beschwerdeverfahren - unwidersprochen - dargelegt hat.
3.2.5. Die belangte Behörde war indes insoweit unrichtig zusammengesetzt, als ihre beiden medizinischen Beisitzer - entgegen der Anordnung des §345 Abs1 ASVG idF 60. Novelle - dem Kreis der Angehörigen der Ärztekammer für Niederösterreich entnommen waren.
4. Die Beschwerdeführer sind somit durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen.
5. Der Kostenspruch stützt sich auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag sind ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 654,--, ds. 40 % des Pauschalsatzes, sowie Umsatzsteuer in Höhe von € 457,80 enthalten. Ein Ersatz der entrichteten Eingabengebühr war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit des Verfahrens (§110 Abs1 Z2 lita ASVG) nicht zuzusprechen.
6. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).
Schlagworte
Bescheiderlassung (Zeitpunkt maßgeblich für Rechtslage), Kollegialbehörde, Sozialversicherung, Ärzte, BehördenzusammensetzungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2003:B1810.2002Dokumentnummer
JFT_09969375_02B01810_00