TE Vwgh Erkenntnis 2008/8/28 2008/22/0164

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Veröffentlicht am 28.08.2008
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

MRK Art8;
NAG 2005 §46 Abs4;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §73 Abs4;
NAG 2005 §74;
VwGG §34 Abs1;
VwRallg;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):2008/22/0165

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden

1. des N J, und 2. des D J, beide in Wien, beide vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres vom 14. November 2006, 1. Zl. 314.389/5-III/4/05 und 2. Zl. 314.389/6-III/4/05, betreffend Versagung von Niederlassungsbewilligungen, zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem erstangefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) wurde ein Zusatzantrag des Erstbeschwerdeführers, eines serbischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen für "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG 1997" gemäß §§ 46 Abs. 4, 72 und 73 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung die Feststellungen zugrunde, dass der Erstbeschwerdeführer erstmalig mit einem von der Österreichischen Botschaft Belgrad ausgestellten Visum C, gültig vom 29. November 2003 bis 28. Februar 2004, nach Österreich eingereist sei. In weiterer Folge sei er mit einem Visum D, gültig vom 3. März 2004 bis 4. Juni 2004, nach Österreich eingereist und sei seit 1. Dezember 2003 im

16. Wiener Gemeindebezirk polizeilich gemeldet. Neben dem gegenständlichen Antrag habe der Erstbeschwerdeführer am 22. April 2004 einen Hauptantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG 1997" gestellt.

Die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers sowie dessen jüngere zwei Kinder, alle serbische Staatsangehörige, seien im Besitz eines Aufenthaltstitels für die Republik Österreich. Eines dieser beiden Kinder, A. J., geboren am 6. Juli 1996, sei pflegebedürftig. Die Ehefrau sei seit dem 25. Oktober 2004 bis zur Erlassung des erstangefochtenen Bescheides keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei In-Kraft-Treten des NAG am 1. Jänner 2006 (§ 82 Abs. 1 NAG) anhängig seien, seien nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen. Nach Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 72 Abs. 1, 73 Abs. 4 sowie 74 NAG führte die belangte Behörde aus, dass im Fall des Erstbeschwerdeführers zwar dessen berechtigtes Interesse an einer Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation durch die Auswanderung nach Österreich festgestellt habe werden können, aber keinerlei humanitäre Gründe für die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels.

Art. 8 EMRK umfasse nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes durch die verschiedenen Familienmitglieder anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. Auch beinhalte Art. 8 EMRK nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens zu wählen.

Es könne dem Erstbeschwerdeführer der Zuzug nach Österreich unter Einhaltung der üblichen gesetzlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Quotensituation zugemutet werden. Da im Fall des Erstbeschwerdeführers kein ausreichender besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben sei, lägen die Voraussetzungen des § 72 NAG nicht vor.

2. Mit dem zweitangefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) wurde der Zusatzantrag des Zweitbeschwerdeführers, eines serbischen Staatsangehörigen und Sohnes des Erstbeschwerdeführers, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen für "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG 1997" gemäß §§ 46 Abs. 4, 72 und 73 Abs. 4 NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde stützte ihre diesbezügliche Entscheidung darauf, dass der Zweitbeschwerdeführer ebenso wie sein Vater nach Österreich eingereist und ebenfalls seit 1. Dezember 2003 hier polizeilich gemeldet sei. Der Zweitbeschwerdeführer habe am 22. April 2004 einen Hauptantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG 1997" gestellt.

Im Übrigen traf die belangte Behörde die schon unter I.1. wiedergegebenen Feststellungen und kam auch hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers zu dem rechtlichen Ergebnis, dass die Voraussetzungen gemäß § 72 NAG nicht vorlägen, sodass die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung der Quotenpflicht unterliege und eine Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen nicht zugelassen werden könne.

3. Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden jeweils mit dem Begehren, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerden beantragte.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Abstimmung verbundenen Beschwerden erwogen:

1. Gemäß dem - im Fall eines Antrages nach § 73 Abs. 4 NAG anzuwendenden - § 72 Abs. 1 NAG kann die Behörde im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses, ausgenommen bei Vorliegen eines Aufenthaltsverbotes, in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe liegen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist.

Gemäß § 74 NAG kann die Behörde von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 NAG erfüllt werden.

Nach ständiger hg. Rechtsprechung stellt § 72 NAG insbesondere - ebenso wie früher § 10 Abs. 4 Fremdengesetz 1997 - auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die Anlass dazu geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen; weiters liegt ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug besteht (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 25. April 2006, Zl. 2006/21/0060, mwN, sowie vom 22. Juni 2006, Zl. 2002/21/0107).

Der am Maßstab der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausnahmsweise direkt aus Art. 8 EMRK ableitbare Anspruch auf Familiennachzug stellt einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung dar; davon sind unter anderem Fälle des eigentlichen Nachzugs von im Ausland befindlichen Angehörigen der Kernfamilie zu einer hier niedergelassenen "Ankerperson" erfasst (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. September 2007, Zl. 2007/21/0247, mit Hinweisen auf die Judikatur des VfGH und des EGMR).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt es für diese Gewährleistung von Familiennachzug auf die Umstände des Einzelfalles an (s. etwa Grabenwarter, EMRK3 217 mwN in FN 253).

2. Bereits in den Administrativverfahren haben die beiden Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang - über den von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalt hinaus - unter anderem vorgebracht, dass der am 6. Juli 1996 geborene Sohn des Erstbeschwerdeführers bzw. Bruder des Zweitbeschwerdeführers A.J. an einer "Arthogrypnose bei kongenitalem Dysmorphiesyndrom" leide und schwer psychomotorisch retardiert sei. Nach einer Operation im Sommer 2003 seien weitere Operationen notwendig geworden, sodass das Kind nunmehr auf Grund der Notwendigkeit einer Gipshose völlig bewegungsunfähig sei. Für den erhöhten Pflegebedarf des Kindes sei Pflegegeld in der Höhe der Stufe 3 zugesprochen worden ("Ausführung des humanitären Aspektes", AS 5 bis 7).

Mit Schriftsatz vom 23. bzw. 24. Juni 2005 haben die Beschwerdeführer ergänzend vorgebracht, A.J. sei nach wie vor pflegebedürftig und könne lediglich mittels eines Buggy mobilisiert werden. Die Anwesenheit des Vaters - somit des Erstbeschwerdeführers - sei unbedingt notwendig, weil für die Mutter allein die Pflege des schwerbehinderten Sohnes nicht möglich wäre und daher für diese und für den Sohn die Anwesenheit des Vaters von immenser physischer und psychischer Bedeutung sei. Darüber hinaus sei die notwendige Versorgung der Familie nur durch dessen Anwesenheit gewährleistet, weil die Mutter ansonsten keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Dazu legten die Beschwerdeführer einen Entlassungsbericht des AKH Wien vom 28. Jänner 2005 sowie einen Arztbrief vom 23. Februar 2005 vor (AS 75 bis 81).

In den Berufungen gegen die abweisenden erstbehördlichen Bescheide führten die Beschwerdeführer weiter aus, dass A.J. noch zum damaligen Zeitpunkt (August 2005) bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sei und er an einer derart schweren Erkrankung leide, dass er in seinem Heimatland keinesfalls adäquat behandelt werden könnte (AS 90 bis 94 bzw. AS 19 bis 23).

3. Damit aber sind die Beschwerdeführer ihrer Verpflichtung zur Unterbreitung von konkreten Angaben samt Bescheinigungsmitteln (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 17. Februar 2005, Zl. 2006/18/0018, mwN) - anders als die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift vermeint - ausreichend nachgekommen, während die belangte Behörde Feststellungen zum Gesundheitszustand des A.J., der daraus entstandenen familiären Situation der Beschwerdeführer und zur Frage des allenfalls möglichen Zugangs zu notwendigen medizinischen Behandlungen auch im Herkunftsland der Familie der Beschwerdeführer überhaupt nicht getroffen hat.

4. Die Beschwerden weisen auf den damit vorliegenden Feststellungsmangel hin und zeigen zutreffend auf, dass die belangte Behörde - hätte sie zu diesen Themenbereichen Feststellungen getroffen - zu anderen Bescheiden hätte kommen können.

Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b) VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

5. Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 28. August 2008

Schlagworte

Mangel der Berechtigung zur Erhebung der Beschwerde mangelnde subjektive Rechtsverletzung Parteienrechte und Beschwerdelegitimation Verwaltungsverfahren Rechtsverletzung des Beschwerdeführers Beschwerdelegitimation bejahtIndividuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2008:2008220164.X00

Im RIS seit

25.09.2008

Zuletzt aktualisiert am

13.04.2010
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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