TE Vwgh Erkenntnis 2008/9/2 2006/18/0274

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Veröffentlicht am 02.09.2008
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Index

E2D Assoziierung Türkei;
E2D E02401013;
E2D E05204000;
E2D E11401020;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
25/04 Sonstiges Strafprozessrecht;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs2;
FrPolG 2005 §60 Abs3;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
TilgG 1972 §6 Abs1;
TilgG 1972 §6 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger, die Hofräte Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Schmidl, über die Beschwerde des Sicherheitsdirektors für das Bundesland Wien, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 3. Juli 2006, Zl. UVS-FRG/55/891/2006/18, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: YD, geboren 1977, vertreten durch Mag. Dr. Ingrid Weber, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Rotenturmstraße 19), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen (Ersatz-)Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom 3. Juli 2006 wurde der Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 1. Dezember 1998, mit dem gegen den Mitbeteiligten, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 36 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot verhängt worden war, aufgehoben.

Die von der Erstbehörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides herangezogene Verurteilung des Mitbeteiligten sei am 29. August 1999 erfolgt und nunmehr bereits getilgt. (Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt ergibt sich, dass der Mitbeteiligte mit Urteil des Jugendgerichtshofes Wien vom 9. Juli 1998, rechtskräftig seit 2. Oktober 1998, gemäß § 87 Abs. 1 und 2, § 83 Abs. 1, § 84 Abs. 2 Z. 2 StGB wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang und in verabredeter Verbindung von mehreren Personen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde.) Die von der Erstbehörde angewendeten Bestimmungen des FrG seien gleich lautend mit den Bestimmungen des § 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 FPG. Bei der Entscheidung über die Berufung seien auch die seit der Erlassung des angefochtenen Bescheides eingetretenen Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen. Daher könne "die nunmehr bereits getilgte Verurteilung des (Mitbeteiligten) gemäß der Bestimmung des § 60 Abs. 2 FPG 2005 nicht mehr als eine gemäß § 60 Abs. Z. 1 maßgebliche Verurteilung gewertet werden". Da der Mitbeteiligte eine nach Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB) berechtigte Person türkischer Staatsangehörigkeit sei, sei auf ihn § 86 FPG anzuwenden. § 60 FPG sei als alleinige Grundlage eines Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten nicht mehr zulässig. § 86 FPG besage, dass das Vorliegen einer bestimmten Tatsache iSd § 60 FPG alleine die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen EWR-Bürger oder begünstigten Drittstaatsangehörigen nicht rechtfertige. Gleiches habe für einen nach dem ARB begünstigten türkischen Staatsangehörigen zu gelten. Daher müsse bei diesem im Einzelfall eine in seinem persönlichen Verhalten gelegene, tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit vorliegen, durch die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt werde. In dem angeführten Verhalten des Mitbeteiligten allein könne "in Anbetracht der Tilgung der strafrechtlichen Verurteilung und der besonderen Umstände des Einzelfalls" keine derartige von der Person und dem Verhalten des Mitbeteiligten ausgehende tatsächliche unmittelbare und erhebliche Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit mehr erblickt werden. Ein sonstiges Fehlverhalten des auch verwaltungsstrafrechtlich unbescholtenen Mitbeteiligten, das die Annahme einer derartigen Gefährdung rechtfertigen könnte, sei nicht hervorgekommen. Somit lägen die Voraussetzungen zur Bestätigung des am 1. Dezember 1998 erlassenen Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten nicht vor.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die belangte Behörde erstattete - ebenso wie der Mitbeteiligte - eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Amtsbeschwerde als unbegründet abzuweisen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gegen den Mitbeteiligten als türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB) zukommt, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur zulässig (vgl. § 86 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG, mit dem die gemeinschaftsrechtlichen Beschränkungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots innerstaatlich umgesetzt wurden), wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Für die Beantwortung der Frage, ob diese Annahme gerechtfertigt ist, ist demnach zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährde. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der Beurteilung der genannten Gefährdung kann auf den Katalog des § 60 Abs. 2 FPG als "Orientierungsmaßstab" zurückgegriffen werden. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen türkische Staatsangehörige, denen die genannte Rechtsstellung zukommt und die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist überdies nur dann zulässig (vgl. § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG), wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. November 2006, Zl. 2006/18/0262, mwN).

Um den Anforderungen an eine solche Beurteilung gerecht zu werden, hätte die belangte Behörde - insbesondere auf der Grundlage der bindenden strafgerichtlichen Verurteilung - Feststellungen über das der Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten des Mitbeteiligten treffen müssen. Eine allfällige Tilgung einer gerichtlichen Verurteilung hätte lediglich zur Folge, dass der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 iVm Abs. 3 FPG nicht erfüllt wäre und die (bloße) Verurteilung daher nicht als "Orientierungsmaßstab" herangezogen werden könnte, sie stünde der Berücksichtigung der zu Grunde liegenden Taten im Rahmen der nach § 86 Abs. 1 FPG vorzunehmenden Beurteilung des Gesamtfehlverhaltens des Beschwerdeführers aber in keiner Weise entgegen (vgl. das zum Fremdengesetz 1997 ergangene hg. Erkenntnis vom 18. März 2003, Zl. 2002/18/0198). Im Übrigen ist die - lediglich auf eine Strafregisterauskunft gestützte - Ansicht der belangten Behörde, die Verurteilung des Mitbeteiligten sei bereits getilgt, nicht nachvollziehbar, weil er zu einer mehr als dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und die Tilgungsfrist gemäß § 3 Abs. 1 Z. 4 Tilgungsgesetz 1972 fünfzehn Jahre ab Vollzug der unbedingten Freiheitsstrafe (§ 2 Abs. 1 leg. cit.) beträgt.

Der angefochtene Bescheid war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 2. September 2008

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2008:2006180274.X00

Im RIS seit

10.10.2008

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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