TE Vwgh Erkenntnis 2008/9/18 2008/21/0278

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Veröffentlicht am 18.09.2008
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Index

E3R E19103000;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

32000R2725 Eurodac Anh1;
32000R2725 Eurodac Art11;
32000R2725 Eurodac Art5 Abs1;
32000R2725 Eurodac Art8;
32003R0343 Dublin-II Art6;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §5;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des O, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 18. März 2008, Zl. Senat-FR-08-3029, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom (aus dem Gazastreifen stammenden und nach seinen Angaben staatenlosen) Beschwerdeführer eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG als unbegründet ab und stellte gemäß § 83 Abs. 4 FPG fest, dass im Entscheidungszeitpunkt die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen würden. Weiters wurde der Beschwerdeführer zum Ersatz der Verfahrenskosten verpflichtet.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei von Beamten der KIAB bei der Schwarzarbeit betreten worden. Er habe versucht, sich der Amtshandlung durch Flucht über einen Acker zu entziehen, habe jedoch von den einschreitenden Beamten gestellt werden können. In weiterer Folge habe er einen Asylantrag gestellt. Eine Überprüfung "im EURODAC" habe "einen Treffer in Italien" ergeben. Auf Befragen, warum er Italien verlassen gehabt hätte, obwohl er dort bereits einen Asylantrag gestellt hätte und vor Verfolgung sicher gewesen sei, habe der Beschwerdeführer angegeben, dass ihn das Asylverfahren eigentlich nicht interessiere, sondern er lediglich arbeiten wolle, um so viel Geld zu verdienen, dass er gut leben könne. Er sei nach Österreich gekommen, weil er von Bekannten gehört habe, dass man hier wesentlich mehr Geld verdienen könnte als in Italien. Beim Beschwerdeführer handle es sich "mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen minderjährigen Fremden". Gegen Minderjährige seien zwar grundsätzlich gelindere Mittel im Sinne des § 77 Abs. 1 FPG zur Anwendung zu bringen, jedoch mit der Einschränkung, dass dies dann nicht gelte, wenn Grund zur Annahme bestünde, der Zweck der Schubhaft könne damit nicht erreicht werden. Im vorliegenden Fall gelange die belangte Behörde "nach eingehender Einzelfallprüfung" zu der Auffassung, dass es der Haft bedürfe, um die zu setzenden Verfahrensschritte sicherzustellen. Die Entscheidung - so die belangte Behörde abschließend - habe ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung getroffen werden können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der eingebrachten Beschwerde ausreichend geklärt erschienen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Der Beschwerdeführer wendet sich (unter anderem) - wie schon in seiner Schubhaftbeschwerde - gegen die Annahme, es sei begründet davon auszugehen, dass sein Asylantrag mangels Zuständigkeit Österreichs zurückgewiesen und es infolge dessen zu einer Ausweisung nach § 10 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005 kommen werde, was bereits anhand des "IT2 Eurodac-Treffers" ersichtlich gewesen sei.

Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde zum Erfolg.

Gemäß § 76 Abs. 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§ 10 AsylG 2005) erlassen wurde (Z 1), gegen ihn nach den Bestimmungen des AsylG 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde (Z 2), gegen ihn vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§ 53 oder 54 FPG) oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§ 60 FPG) verhängt worden ist (Z 3) oder auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird (Z 4).

Die gegenständliche Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 2 Z 4 FPG gestützt.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG vorliegen, hat die Behörde auf Basis der vorliegenden Ermittlungsergebnisse eine Einschätzung dahingehend vorzunehmen, ob die Asylbehörde - insbesondere auf Grund der ihr zur Verfügung stehenden gleichartigen Informationen - eine Entscheidung im Sinne des § 5 AsylG 2005 treffen wird, mit der gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 eine Ausweisung zu verbinden wäre (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juni 2007, G 14/07, G 40/07). Grundsätzlich erscheint die Heranziehung des in § 76 Abs. 2 Z 4 FPG normierten Schubhaftgrundes bei Vorliegen eines sog. "Eurodac-Treffers" als nicht unvertretbar (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, unter Hinweis auf die Materialien). Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn aus dem "Eurodac-Treffer" unter Berücksichtigung des sonst hervorgekommenen Sachverhalts mit gutem Grund abgeleitet werden kann, es werde die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates zur Entscheidung über den Asylantrag bestehen. Bereits aus der Bestimmung des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG ergibt sich, dass bei dieser Beurteilung von der Behörde auch das Ergebnis der Befragung und der Durchsuchung des betroffenen Fremden zu berücksichtigen ist (arg.: "auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung").

Die belangte Behörde legte ihrer Prognoseentscheidung, dass es zu einer Zurückweisung des vom - nach den Feststellungen - minderjährigen Beschwerdeführer in Österreich gestellten Asylantrages kommen werde, Folgendes zu Grunde:

"Im vorliegenden Fall steht auf Grund der Sach- und Rechtslage zu erwarten, daß die mit der Republik Italien geführten Konsultationen zu einer Rückübernahme des BF auf Grund des DublinII-Abkommens führen werden. Eine Zulassung zum Asylverfahren erscheint schon zufolge der eigenen Aussagen hinsichtlich des Stellenwertes eines Asylverfahrens für den BF äußerst unwahrscheinlich."

Die belangte Behörde legte aber nicht näher dar, auf Grund welcher "Sach- und Rechtslage" sie davon ausging, es werde zu einer Rückübernahme des Beschwerdeführers durch Italien kommen. Insbesondere ist dem von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakt nicht zu entnehmen, dass - wie es die Ausführungen im angefochtenen Bescheid nahe legen - von der Asylbehörde "Dublin-Konsulationen" geführt wurden.

Bereits in der an die belangte Behörde gerichteten Schubhaftbeschwerde führte der Beschwerdeführer aus, er habe in Italien keinen Asylantrag gestellt, was er auch gegenüber der Fremdenpolizeibehörde "zu Protokoll" gegeben hätte. Dies sei auch durch den vorliegenden sog. "IT2 Eurodac-Treffer" bewiesen. Somit komme in seinem Fall - er sei "unbegleiteter Minderjähriger" ohne Familienangehörige innerhalb der Europäischen Union - Art. 6 Satz 2 der Dublin-Verordnung zur Anwendung, aus der sich die Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung seines Asylantrages ergeben würde.

Die belangte Behörde, die in ihrer Entscheidung davon ausging, dass der Beschwerdeführer noch minderjährig sei, ließ dieses Vorbringen allerdings unberücksichtigt und tätigte auch keine Erhebungen. Dazu wäre sie aber insbesondere aus folgenden Gründen verpflichtet gewesen:

Gemäß Art. 2 Abs. 3 der Eurodac-Durchführungsverordnung hat die Kennnummer nach Art. 5 Abs. 1 Buchstabe d) der Eurodac-Verordnung die eindeutige Zuordnung der Daten zu einer bestimmten Person und zu dem die Daten übermittelnden Mitgliedstaat zu ermöglichen. Weiterhin muss sie die Aussage ermöglichen, ob sich diese Daten auf einen Asylbewerber oder eine Person nach Art. 8 oder Art. 11 der Eurodac-Verordnung beziehen. Die Kennnummer hat mit dem oder den Kennbuchstaben, mit dem oder denen gemäß der in Anhang I genannten Norm die die Daten übermittelnden Mitgliedstaaten bezeichnet werden, zu beginnen; dem oder den Kennbuchstaben hat die Kennung für die Personenkategorien zu folgen. Dabei sind Daten von Asylbewerbern mit "1", von Personen nach Art. 8 der Eurodac-Verordnung mit "2" und von Personen nach Art. 11 der Eurodac-Verordnung mit "3" zu kennzeichnen.

Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt ergibt sich, dass die den Beschwerdeführer betreffende, im Eurodac-System gespeicherte Kennnummer

mit der Kombination "IT2" beginnt. Die Kennzeichnung der Personenkategorie

mit der Zahl "2" legt im Hinblick auf die in Art. 2 Abs. 3 der Eurodac-Durchführungsverordnung angeordnete Gestaltung der Kennnummer nun nahe, dass Anlass der erkennungsdienstlichen Behandlung des Beschwerdeführers und der Speicherung der ihn betreffenden Daten im Eurodac-System nicht eine Asylantragstellung in Italien gewesen war, sondern er von den italienischen Behörden als "Person nach Art. 8 der Eurodac-Verordnung" - sohin als unrechtmäßig eingereister Fremder, der keinen Asylantrag gestellt hatte - behandelt wurde.

Unter der Prämisse, dass der Beschwerdeführer in Italien keinen Asylantrag gestellt hat, hätte die belangte Behörde bei ihrer Beurteilung dann aber nicht mit gutem Grund annehmen dürfen, dass für die Behandlung des vom Beschwerdeführer in Österreich gestellten Asylantrages die Zuständigkeit Italiens gegeben wäre. Die belangte Behörde ging nämlich in ihrer Entscheidung davon aus, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen Minderjährigen handelte, der in keinem EU-Mitgliedstaat einen Familienangehörigen habe. Sohin läge nach Art. 6 zweiter Satz Dublin-Verordnung - dieser sieht vor, dass im Falle eines unbegleiteten Minderjährigen, wenn kein Familienangehöriger in einem Mitgliedstaat anwesend ist, der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig ist, und geht gemäß Art. 5 leg. cit. in der Rangfolge dem Art. 10 leg. cit. vor - die Zuständigkeit Österreichs vor.

Da die belangte Behörde aber nicht ausführte, weshalb sie den Angaben des Beschwerdeführers, er habe in Italien keinen Asylantrag gestellt, sohin in einem entscheidungswesentlichen Punkt, keinen Glauben schenkte, obwohl ihr sogar ein Beweismittel - auf das der Beschwerdeführer auch hinwies - vorlag, das seine Angaben vorderhand bestätigte, belastete sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Nach dem Vorgesagten ergibt sich nämlich, dass bereits auf Grund der Eintragungen im Eurodac-System im Zusammenhalt mit dem - von der belangten Behörde als glaubwürdig eingestuften - Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Minderjährigkeit und dem Fehlen von Familienmitgliedern in Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht von der Zuständigkeit Italiens ausgegangen hätte werden dürfen.

Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 18. September 2008

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2008:2008210278.X00

Im RIS seit

04.11.2008

Zuletzt aktualisiert am

08.01.2013
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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