TE Vfgh Erkenntnis 2003/10/3 B1736/02 ua

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Veröffentlicht am 03.10.2003
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu B1736/02 zuhanden seines Rechtsvertreters die mit 1962 €

bestimmten Prozesskosten und den Beschwerdeführern zu B1744/02 zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit 2256,30 € bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer zu B1736/02 ist Staatsangehöriger der Republik Jugoslawien. Er stellte am 28. März 2002 einen Antrag auf Gewährung des Asyls, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Eisenstadt, vom 2. Mai 2002 gemäß §4 Abs1 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76 (im Folgenden: AsylG), zurückgewiesen wurde. Das Bundesasylamt ging in seiner Begründung von der Behauptung des Asylwerbers aus, er sei über Ungarn nach Österreich eingereist und wies den Asylantrag als unzulässig zurück, da Ungarn ein sicherer Drittstaat sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wurde vom Unabhängigen Bundesasylsenat (im Folgenden bloß: Bundesasylsenat) mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 abgewiesen.

2. Die Erstbeschwerdeführerin zu B1744/02 ist die Ehegattin des Beschwerdeführers zu B1736/02. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführer sind die Kinder der Erstbeschwerdeführerin und des Beschwerdeführers zu B1736/02. Die Ehegattin und die Kinder, die auch jugoslawische Staatsangehörige sind und gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater aus Jugoslawien kommend über Ungarn nach Österreich einreisten, stellten ebenfalls Asylanträge, die vom Bundesasylamt gemäß §4 Abs1 AsylG zurückgewiesen wurden. Deren Berufung wurde vom Bundesasylsenat mit Bescheid vom 16. Oktober 2002 abgewiesen.

3. Die Begründungen der Bescheide des Bundesasylsenates sind nahezu wörtlich identisch. Der Bundesasylsenat beschrieb zunächst den Reiseweg der Beschwerdeführer, erhob die Rechtslage in Ungarn in Bezug auf das Asylverfahren, stellte diese im Bescheid im Detail dar, führte die maßgebenden Bestimmungen des EU-Asylacquis an und führte im Wesentlichen aus, dass die genannten Vorschriften die Regierung der Mitgliedstaaten grundsätzlich nur politisch (soft law) binden würden. Indem §4 Abs3 zweiter Satz AsylG jedoch auf diese Vorschriften verweise, erhielten sie in Österreich im Bereich der so genannten Drittstaatsicherheit rechtliche Verbindlichkeit. Die belangte Behörde kam letztlich zum Schluss, dass Ungarn ein sicheres Drittland sei, da die Asylantragstellung in Ungarn keiner rechtlichen Beschränkung unterliege. Die ungarische Drittstaatenregelung komme bei Rückschiebung aus Österreich nach bloßer Zurückweisung des in Österreich gestellten Asylantrages gemäß §4 AsylG nicht zur Anwendung, weshalb den Beschwerdeführern in Ungarn ein Verfahren zur Einräumung der Rechtsstellung eines Flüchtlings im Sinne von §4 Abs2 erster Satz AsylG offen stehe. Weiters bestehe kein Anhaltspunkt, dass den Beschwerdeführern in Ungarn eine Behandlung im Sinne von §57 Abs1 oder 2 FrG drohen könnte, zumal das ungarische Asylverfahren ebenso wie das fremdenpolizeiliche Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung eine sogenannte Non-refoulement-Prüfung vorsehe und die diesbezügliche Entscheidung im Instanzenzug und beim zuständigen Verwaltungsgericht angefochten werden könne, sodass auch der in §4 Abs2 AsylG vorgesehene Schutz vor Abschiebung in den Herkunftsstaat auch im Wege über andere Staaten durch die ungarischen Rechtsvorschriften gewährleistet sei. Aus §4 Abs3 zweiter Satz AsylG iVm den Punkten 8 und 16 der Entschließung des Rates über Mindestgarantien im Asylverfahren sei abzuleiten, dass im Drittstaat grundsätzlich die Möglichkeit bestehen müsse, ein Rechtsmittel gegen ablehnende Entscheidungen der Asylbehörde bei einem Gericht oder einer zur unabhängigen Entscheidung befugten Überprüfungsinstanz einzulegen, wobei eine hinreichende Rechtsmittelfrist eingeräumt sein müsse. Diese Voraussetzungen seien gegeben, zumal in Ungarn das hauptstädtische Gericht innerhalb einer 15-tägigen Beschwerdefrist angerufen werden könne und diesem Gericht volle Entscheidungskompetenz zukomme. Gemäß §4 Abs3 zweiter Satz AsylG iVm Punkt 17 der Entschließung des Rates über Mindestgarantien im Asylverfahren soll der allgemeine Grundsatz gelten, dass Asylwerber im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates bleiben können, solange noch keine Entscheidung über das Rechtsmittel getroffen worden ist. Auch diesem Grundsatz werde dadurch Rechnung getragen, dass fremdenrechtliche Maßnahmen erst nach einer rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheidung der Asylbehörde vollstreckt werden können. Zusammenfassend ergebe sich sohin, dass die Kriterien des §4 Abs1 bis 3 AsylG iVm dem sogenannten "EU-Asylacquis" erfüllt seien.

II. 1. Gegen die genannten Bescheide des Bundesasylsenates richten sich die beim Verfassungsgerichtshof eingebrachten und zu B1736/02 sowie B1744/02 protokollierten Beschwerden nach Art144 B-VG, in denen die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, nämlich des zweiten Satzes des §4 Abs3 AsylG, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide beantragt wird.

2. In beiden Verfahren brachte die belangte Behörde Gegenschriften ein, in denen sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden beantragt.

III. Der Verfassungsgerichtshof beschloss aus Anlass der vorliegenden Beschwerden gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des zweiten Satzes des §4 Abs3 Asylgesetz 1997 einzuleiten und hob diese Wortfolge mit dem am heutigen Tag gefällten Erkenntnis G49, 50/03 ua. als verfassungswidrig auf.

Die belangte Behörde hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war, auch wenn die belangte Behörde in den Bescheiden ausführlich auf das Asylverfahren in Ungarn eingegangen ist und möglicherweise aus anderen Gründen als jenen, die allenfalls dem Asylacquis entnommen werden könnten, ein Schutz im sicheren Drittstaat besteht.

Die Beschwerdeführer wurden also durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (VfSlg. 10.404/1985).

Die Bescheide waren daher aufzuheben.

IV. Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 327 € bzw. 376,05 € enthalten. Im Verfahren B1744/02 wurde ein Streitgenossenzuschlag von 15 % berücksichtigt.

Schlagworte

VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:B1736.2002

Dokumentnummer

JFT_09968997_02B01736_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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