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19 Völkerrechtliche VerträgeNorm
B-VG Art83 Abs2Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit je € 1.962,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführer sind leibliche Söhne und gesetzliche Erben von I.B., der - nach ihrem Vorbringen - "in Folge der Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt am 19.05.2000 um 21:30 Uhr in 1140 Wien, Heinrich-Collin-Straße 30, verstorben ist".
Den Beschwerdeangaben zufolge fuhr I.B. am 19.5.2000 mit seinem PKW gemeinsam mit einem Freund zu einem Lokal in 1140 Wien und parkte dort ein. Gemeinsam seien die beiden in das Lokal gegangen und hätten ein altes TV-Gerät abgeholt und in den PKW gestellt. Es habe die Absicht bestanden, das Gerät in die Wohnung des Freundes zu bringen.
Sodann habe sich I.B. auf den Fahrersitz, sein Freund auf den Beifahrersitz gesetzt. Als sie gerade wegfahren wollten, seien sie von Organen der Bundespolizeidirektion Wien angehalten worden. I.B. sei durch ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien angeschossen worden und unmittelbar darauf verstorben.
2.1. Die Beschwerdeführer wandten sich in der Folge mit einer Beschwerde nach Art129a Abs1 Z2 B-VG und §67c AVG an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) und beantragten die Feststellung, dass sie dadurch, dass ihr Vater durch ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien erschossen wurde, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art8 EMRK verletzt wurden bzw. dass I.B. durch diese Amtshandlung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK verletzt wurde.
2.2. Der UVS wies die Beschwerde mit Bescheid vom 16.8.2000 als unzulässig zurück, weil die Söhne des unmittelbar betroffenen I.B. nicht beschwerdelegitimiert seien; dieser Bescheid wurde mit hg. Erkenntnis VfSlg. 16.179/2001 wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter aufgehoben.
2.3. Mit Bescheid vom 4.11.2002 wies der UVS die Beschwerde erneut zurück, weil ein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt nicht vorliege:
2.3.1. Nach den Sachverhaltsfeststellungen des UVS wurde am 19.5.2000 ein gerichtlicher Hausdurchsuchungsbefehl betreffend das in 1140 Wien, Tiefendorfergasse 4, etablierte Lokal erlassen. Zur Vorbereitung der Hausdurchsuchung hätten zwei Kriminalbeamte das Lokal observiert. Dabei hätten sie zwei Personen beobachtet, die einen in eine Transportkiste verpackten größeren Gegenstand aus dem Lokal trugen und auf die Ladefläche des in der Nähe des Lokals in der Heinrich-Collin-Straße am linken Fahrbahnrand geparkten Autos abstellten. Von den beiden Personen sei bekannt gewesen, dass sie in der Suchtgiftszene aktiv gewesen seien. Die Beamten hätten beschlossen, das Fahrzeug am Wegfahren zu hindern und nachzuschauen, was die beiden Personen in das Fahrzeug verbracht haben.
Die Beamten seien mit den Waffen in der Hand auf das Fahrzeug zugelaufen, der eine auf der Fahrerseite, der andere auf der Beifahrerseite. Da der Fahrer (der Vater der Beschwerdeführer) darauf in keiner Weise reagiert habe, sondern weiter versucht habe auszuparken, habe der Beamte auf der Fahrerseite versucht, die Fahrzeugtür zu öffnen. Die Tür habe sich nicht sofort öffnen lassen. Bei einem zweiten Versuch sei die Tür jedoch unvermittelt aufgegangen; der Beamte sei überrascht nach hinten getaumelt, sein Oberkörper habe eine leichte Drehung vollzogen; im Zuge dessen habe sich der Schuss gelöst.
2.3.2. In rechtlicher Hinsicht führte der UVS aus, dass das Einschreiten der Kriminalbeamten vom richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl erfasst gewesen sei, "da seitens der die Observation durchführenden Kriminalbeamten beobachtet worden ist, dass durch einschlägig bekannte Personen Gegenstände aus der zu durchsuchenden Wohnung verschafft worden sind". Der UVS habe daher nicht die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung an sich, sondern nur deren korrekte Durchführung bzw. das Vorliegen eines etwaigen Exzesses zu prüfen.
Ein Exzess liege jedoch nicht vor. Das Einschreiten der Beamten sei auf eine "den Gesetzen entsprechende und absolut korrekte Art und Weise" erfolgt. Das Verwenden der Waffe sei nicht überschießend gewesen; die Beamten hätten "aus Selbstschutz und Eigensicherung" ihre Waffen gezogen.
Bei dem Schuss handle es sich um einen Unfall; die Abgabe des Schusses sei nicht vom Willen des betreffenden Beamten erfasst gewesen. Es liege daher kein der Bundespolizeidirektion Wien zurechenbares Handeln, dem normativer Charakter zukäme und das mit Beschwerde bekämpft werden könnte, vor.
3. Gegen diesen Bescheid richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) sowie ein Verstoß gegen das dem Vater der Beschwerdeführer verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben (Art2 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides beantragt wird.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden beantragt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:
1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9.696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).
2.1. Der UVS hat seine Zuständigkeit zunächst mit der Begründung verweigert, dass das Einschreiten der Beamten durch den richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl gedeckt gewesen sei.
2.2. Diese Auffassung ist jedoch verfehlt.
Der an die Bundespolizeidirektion Wien gerichtete Hausdurchsuchungsbefehl lautete (auszugsweise) wörtlich:
"... in der Wohnung und den sonstigen zum Hauswesen gehörigen Räumlichkeiten in
1140 Wien, Tiefendorfergasse 4 (Kellerlokal Tattoo)
eine Hausdurchsuchung zum Zwecke der Auffindung und Beschlagnahme von Gegenständen, deren Besitz oder Besichtigung für das gegenständliche Strafverfahren von Bedeutung sein könnte, vorzunehmen. ..."
Das Einschreiten der Beamten erfolgte jedoch außerhalb der zu durchsuchenden Wohnung auf der Straße, abzielend auf die Anhaltung und allenfalls Durchsuchung eines PKW, der jedenfalls vom Durchsuchungsbefehl nicht erfasst war. Es handelte sich somit offenkundig nicht um eine vom zitierten Hausdurchsuchungsbefehl gedeckte Hausdurchsuchung im Dienste der Strafrechtspflege.
2.3. Die Amtshandlung (Anhaltung des Fahrzeuges) ist also als solche - isoliert - zu beurteilen.
Wie der Gerichtshof in seiner Entscheidung VfSlg. 10.124/1984 ausgeführt hat, ist das Durchsuchen eines PKW ein in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangener Verwaltungsakt, der in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift. Die damit zeitlich und sachlich in Zusammenhang stehende Anhaltung ist ebenso als ein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu beurteilen (vgl. zuletzt VfGH 1.3.2003, B1390/02).
3.1. Der UVS stützt seine zurückweisende Entscheidung auch auf das Argument, dass die Abgabe des Schusses im Zuge der Anhaltung nicht vom Willen des betreffenden Beamten umfasst gewesen sei, weshalb ein der Bundespolizeidirektion Wien zurechenbares Handeln normativen Charakters nicht vorliege. Dabei übersieht er, dass schon allein aus dem festgestellten Sachverhalt deutlich wird, dass es für die Beurteilung seiner Zuständigkeit, also für die Zulässigkeit der Maßnahmenbeschwerde nicht darauf ankommt, ob die Abgabe des Schusses vom Beamten gewollt war oder nicht. Die Amtshandlung ist nämlich als Einheit zu werten (vgl. auch VfSlg. 16.109/2001), die in ihrer Gesamtheit - also die Anhaltung des Fahrzeuges, im Zuge derer der Schuss fiel - als ein gemäß Art129a Abs1 Z2 B-VG bekämpfbarer Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt anzusehen ist und somit der nachprüfenden Kontrolle des UVS unterliegt.
3.2. Soweit der UVS (anscheinend) auch das gemäß Art129a Abs1 Z2 B-VG geforderte Vorliegen eines Rechtseingriffs verneint, genügt es in diesem Zusammenhang schon darauf hinzuweisen, dass auch eine unbeabsichtigte Tötung in den Schutzbereich des Art2 EMRK fällt (VfSlg. 15.046/1997, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte folgend; vgl. auch Kopetzki in Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art2 EMRK, RZ 25 ff.). Ob eine Verletzung dieses Rechts vorliegt, wird vom UVS im fortgesetzten Verfahren zu beurteilen sein.
4. Der UVS hat im vorliegenden Fall zu Unrecht die Sachentscheidung verweigert und die Beschwerdeführer dadurch in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. In den Kosten ist jeweils Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.
2. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Behördenzuständigkeit, Hausrecht, Hausdurchsuchung, richterlicher Befehl, Unabhängiger Verwaltungssenat, Recht auf LebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2003:B403.2003Dokumentnummer
JFT_09968875_03B00403_00