TE Vfgh Erkenntnis 2003/11/29 G64/03 ua - B1538/02 ua, B556/03 ua, B631/03

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Veröffentlicht am 29.11.2003
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs4
AlVG §1 Abs2 lite idF KonjunkturbelebungsG 2002, BGBl I 68/2002
AlVG §14, §15
ASVG §253b

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der Ausnahme von Personen mit Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension aufgrund langer Versicherungsdauer von der Arbeitslosenversicherung aufgrund rückwirkender Gesetzesänderung während des von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens; Wegfall der Bedenken des Verfassungsgerichtshofes durch Einführung der Anrechenbarkeit bestimmter Zeiten auf die Anwartschaft in der Arbeitslosenversicherung; kein zeitlicher Geltungsbereich der ursprünglich in Prüfung gezogenen Bestimmung; objektive Willkür in den Anlassverfahren durch Abweisung von Anträgen auf Arbeitslosengeld aufgrund Anwendung der alten Rechtslage

Spruch

§1 Abs2 lite des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 - AlVG, BGBl. Nr. 609/1977, in der Fassung des Art10 Z1 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, BGBl. I Nr. 68/2002, wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Gemäß §1 Abs1 lita des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG 1977), BGBl. Nr. 609/1977, sind arbeitslosenversichert ua. Dienstnehmer, die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigt sind, soweit sie in der Krankenversicherung auf Grund gesetzlicher Vorschriften pflichtversichert sind oder Anspruch auf Leistungen einer Krankenfürsorgeanstalt haben, soweit keine Ausnahme von der Versicherungspflicht vorliegt.

2. Mit Art10 Z1 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, BGBl. I Nr. 68/2002, wurde in §1 Abs2 lite AlVG 1977 folgende Ausnahme von der Arbeitslosenversicherungspflicht eingeführt:

"e) Personen, die das für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer maßgebliche Mindestalter vollendet haben, ab dem Beginn des folgenden Kalendermonates."

Nach §253b Abs1 ASVG (idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2000 - SRÄG 2000, BGBl. I Nr. 92/2000) haben Männer nach Vollendung des 738. Lebensmonates, Frauen nach Vollendung des

678. Lebensmonates, Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer.

§15 Abs8 AlVG 1977 (idF des Art10 Z2 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) bestimmt:

"(8) Die Rahmenfrist für gemäß §1 Abs2 lite von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommene Personen verlängert sich um Zeiträume einer krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit."

Beide Bestimmungen hängen mit §22 AlVG 1977 (idF des Art10 Z3 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) zusammen, wonach Arbeitslose ua. dann keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, wenn sie eine Leistung aus "einem der Versicherungsfälle des Alters aus der Pensionsversicherung" beziehen oder "die Anspruchsvoraussetzungen für eine Pension aus einem der Versicherungsfälle des Alters erfüllen".

Die soeben wiedergegebenen Bestimmungen des AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 stehen seit 1. Juli 2002 in Kraft (§79 Abs67 AlVG 1977).

Die Begründung des diesen Bestimmungen zugrunde liegenden Abänderungsantrags (s. AB 1039 BlgNR XXI. GP) lautet wie folgt:

"Derzeit sind Personen, die eine Alterspension beziehen und neben dieser Pension eine Beschäftigung aufnehmen, aus ihrem Dienstverhältnis arbeitslosenversichert. Der Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe neben einer Pension ist aber ausgeschlossen. Der VfGH hat in seinem Erkenntnis vom 19. Juni 2001, G115/00-6, G154/01-8, nunmehr ausgesprochen, dass eine solche Regelung unzulässig ist. Zur Herbeiführung einer klaren, einfach administrierbaren Regelung, die die verfassungsmäßigen Bedenken zur Gänze ausräumt, sollen Personen, die die gesetzliche Altersgrenze für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer erreichen, von der Arbeitslosenversicherungspflicht befreit werden. Dadurch wird die unselbständige Beschäftigung von Personen im Pensionsalter erleichtert und ein Anreiz zur längeren Erwerbstätigkeit geboten. Eine Prüfung durch den Arbeitgeber, den Träger der Krankenversicherung oder auch den Träger der Pensionsversicherung, ob eine Person bereits eine Pensionsleistung bezieht, eine solche beantragt hat, trotz vorliegender Anspruchsberechtigung noch keinen Antrag gestellt hat oder noch nicht anspruchsberechtigt ist, kann daher entfallen. Eine Gewährung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nach Erreichen der Altersgrenze soll wie bisher nur in jenen seltenen Fällen erfolgen, in denen die Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension noch nicht gegeben sind und daher ein Einkommensersatz aus der Arbeitslosenversicherung noch erforderlich ist. Zur Sicherung dieser Möglichkeit wird für diese Fälle eine Rahmenfristerstreckung festgelegt.

Ohne die vorgeschlagene Änderung könnte es ab Juli 2002 durch Arbeitslosmeldungen pensionsberechtigter Personen, die dann nicht mehr vom Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe ausgeschlossen sind, zu einer Zunahme der Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen um voraussichtlich mindestens 5 000 Personen und zusätzlichen jährlichen Aufwendungen von über 60 Millionen Euro (über 825 Millionen Schilling) kommen. Trotz der durch den - zur Herstellung der Verfassungskonformität erforderlichen - Entfall der Arbeitslosenversicherungsbeiträge für Personen, die das Pensionsalter erreicht haben, eintretenden Mindereinnahmen in der Höhe von rund 40 Millionen Euro (rund 550 Millionen Schilling) sind demgemäß Einsparungen in Höhe von rund 20 Millionen Euro (rund 25 Millionen Schilling [gemeint wohl: rund 275 Millionen Schilling]) zu erwarten."

II. 1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu B1538/02 und B1784/02 Beschwerden gemäß Art144 B-VG gegen letztinstanzliche Bescheide der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich anhängig. Mit diesen Bescheiden - vom 11. September bzw. 25. November 2002 - hat die Landesgeschäftsstelle Anträgen auf Arbeitslosengeld in letzter Instanz keine Folge gegeben, weil die - im Jahr 1943 geborenen - Beschwerdeführerinnen die in §14 AlVG 1977 vorgeschriebene Anwartschaft nicht erfüllt hätten: Beide hätten zwar in den letzten zwölf Monaten vor Geltendmachung des Anspruches durch (mindestens) 28 Wochen eine der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegende Beschäftigung ausgeübt, mit 1. Juli 2002 sei indessen die Arbeitslosenversicherungspflicht der Beschwerdeführerinnen entfallen, sodass sie nicht auch 28 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen seien.

Aus Anlass dieser Beschwerden leitete der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 27. Februar 2003 von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 ein. Seine Bedenken legte der Gerichtshof dar wie folgt:

"... Die Arbeitslosenversicherung ist - ungeachtet der Tatsache, daß sie nicht in Selbstverwaltung besorgt wird - ein Zweig der Sozialversicherung (vgl. VfSlg. 7313/1974, 14.842/1997). Grundgedanke jeder Sozialversicherung ist es, die Angehörigen eines Berufsstandes zu einer Riskengemeinschaft zusammenzufassen (vgl. VfSlg. 12.739/1991 mwN). Es ist Sache des Gesetzgebers, im Rahmen seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes insbesondere 'die Grenzen für die Einbeziehung bestimmter Berufsgruppen in eine Sozialversicherungspflicht zu ziehen und zu entscheiden, welche bisher nicht versicherte Berufsgruppen in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden' (VfSlg. 9551/1982). Der Gesetzgeber darf sich hiebei ua. von der sozialen Schutzbedürftigkeit der betreffenden Personen- oder Berufsgruppe leiten lassen, wobei nicht die Ausnahme-, sondern die typischen Fälle den Ausschlag geben sollten (vgl. VfSlg. 4688/1964, S 171 f; s. auch VfSlg. 11.469/1987, S 232 f mwN; zuletzt VfSlg. 16.007/2000). Der Verfassungsgerichtshof nimmt - vorläufig - an, daß diese Grundsätze auch für die Ausnahme einer Personengruppe von der Sozial- einschließlich der Arbeitslosenversicherungspflicht gelten.

... Gemäß §1 Abs2 lite AlVG 1977 sind Personen, die ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben, von der Pflichtversicherung nach dem AlVG 1977 ausgenommen. Diese Ausnahme dürfte - wie die vorliegenden Beschwerdefälle zu zeigen scheinen - zur Konsequenz haben, daß der davon erfaßte Personenkreis nach Erreichen dieser Altersgrenze keine neuen Leistungsansprüche nach dem AlVG 1977 erwerben bzw. bei Erreichen der Altersgrenze begonnene Anwartschaften nicht mehr vollenden kann: Nach §7 Abs1 AlVG 1977 hat nämlich nur Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer ua. die Anwartschaft erfüllt. Nach §14 AlVG 1977 erfüllt die Anwartschaft, wer bei erstmaliger Inanspruchnahme des Arbeitslosengeldes mindestens 52 Wochen, bei jeder weiteren Inanspruchnahme mindestens 28 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Die gleichzeitig mit der erwähnten Ausnahmebestimmung in das Gesetz eingeführte Regelung des §15 Abs8 AlVG 1977 stellt zwar sicher, daß eine bereits erworbene Anwartschaft im Falle des (Fort)bestandes einer krankenversicherungspflichtigen Beschäftigung über die Altersgrenze hinaus nicht wegen Verstreichens der Rahmenfrist verloren gehen kann; weder durch diese, noch durch eine andere Vorschrift dürfte aber dafür Sorge getragen sein, daß - wie in den Beschwerdefällen - eine begonnene Anwartschaft vollendet oder nach Erschöpfung des Bezuges von Arbeitslosengeld eine neue Anwartschaft erworben werden kann.

Personen, die wohl die in §1 Abs2 lite AlVG 1977 bezeichnete

-

an §253b ASVG anknüpfende - Altersgrenze erreicht, nicht aber auch die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer erfüllt haben, ist somit bis zum Erreichen des Regelpensionsalters, dh. gerade während der letzten dreieinhalb Jahre ihres Berufslebens in einem von der Gefahr der Arbeitslosigkeit besonders betroffenen Lebensalter, ein Schutz im Fall der Arbeitslosigkeit genommen. Eine derartige Regelung scheint unsachlich zu sein und somit in Widerspruch zu dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz zu stehen. Daran dürfte auch nichts ändern, daß die hiemit in Prüfung genommene Ausnahmebestimmung

-

wie aus den vorhin wiedergegebenen Gesetzesmaterialien hervorgeht - (auch) die Beschäftigung älterer Personen erleichtern will.

... Der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, daß auch die Intention des Gesetzgebers, die Einbeziehung 'älterer' Arbeitnehmer in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung in einer Weise zu regeln, die dem Erkenntnis VfSlg. 16.203/2001 entspricht, ohne den Arbeitgeber sowie die Kranken- und Pensionsversicherungsträger mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand zu belasten, die Regelung sachlich nicht rechtfertigen könnte:

... Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes widerspricht es dem Gleichheitssatz zwar nicht, wenn der Gesetzgeber von einer Durchschnittsbetrachtung ausgeht (zB VfSlg. 3595/1959, 5318/1966, 8457/1978, 11.615/1988 uva.) und dabei auch eine pauschalierende Regelung trifft, insbesondere wenn dies der Verwaltungsökonomie dient (VfSlg. 9258/1981, 10.089/1084). Es wird ein solches Gesetz nicht schon deshalb gleichheitswidrig, weil dabei Härtefälle entstehen (zB VfSlg. 3568/1959, 9908/1983, 10.276/1984).

... Das Ausmaß der solcherart hinzunehmenden ungleichen Auswirkungen einer generellen Norm hängt allerdings nicht nur vom Grad der Schwierigkeit ab, die eine nach verschiedenen Sachverhalten differenzierende Lösung der Vollziehung bereiten würde, sondern auch vom Gewicht der angeordneten Rechtsfolgen (VfSlg. 8871/1980). Der Verfahrensökonomie dienende, sohin auf Verwaltungsvereinfachung zielende, pauschalierende Regelungen dürfen vom Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem Gleichheitssatz auch nur derart getroffen werden, daß diese nicht den Erfahrungen des täglichen Lebens widersprechen. Die zulässige Bedachtnahme auf die Praktikabilität des Gesetzes ist somit nicht schrankenlos; sie findet ihre Grenze dort, wo anderen Erwägungen, die gegen die Regelung sprechen, größeres Gewicht beizumessen ist als solchen der Verwaltungsökonomie (VfSlg. 13.726/1994; s. zuletzt VfSlg. 15.819/2000).

... Es mag zutreffen, daß leicht handhabbare Regelungen gerade im Bereich des Arbeitslosenversicherungsrechts wichtig sind. Diesem Anliegen dürfte es aber nicht hinderlich sein, die Arbeitslosenversicherungspflicht nur dann entfallen zu lassen, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vorliegen. Das zeigen etwa die mit dem Erkenntnis VfSlg. 16.203/2001 zum Teil aufgehobene Fassung des §22 Abs1 AlVG 1977 (idF vor dem Konjunkturbelebungsgesetz 2002), die den Leistungsausschluß ua. auf einen solchen Tatbestand gestützt hatte (ebenso §22 Abs1 AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) sowie die noch geltende Regelung des §23 Abs2 Z2 AlVG 1977 über die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pensionsvorschusses.

... Der Fall, daß eine Person, welche die Anwartschaft des §14 AlVG 1977 (noch) nicht (wieder) erfüllt hat, auf Grund des §1 Abs2 lite AlVG 1977 von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommen wird, ohne bereits einen Anspruch auf Pensionsleistungen erworben zu haben, dürfte schließlich gerade angesichts des Alters der Betroffenen und der oft lückenhaften Versicherungsverläufe vor allem bei Frauen durchaus kein 'atypischer Härtefall' sein, der aus dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes hingenommen werden könnte.

... Der Verfassungsgerichtshof ist daher - vorläufig - der Auffassung, daß es sachlich nicht gerechtfertigt ist und somit dem - auch den Gesetzgeber bindenden - Gleichheitsgebot widerspricht, aus dem Kreis der in einem krankenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehenden Personen eine Gruppe nur wegen Erreichens der Altersgrenze für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer von der Arbeitslosenversicherungspflicht auszunehmen."

2. Die Bundesregierung teilte dem Verfassungsgerichtshof mit Schreiben vom 17. Juni 2003 mit, keine Äußerung zum Gegenstand zu erstatten.

III. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Beschwerden sind zulässig; auch haben sich die vorläufigen Präjudizialitätsannahmen des Verfassungsgerichtshofes als zutreffend herausgestellt. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist damit insgesamt zulässig.

2. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2003, BGBl. I Nr. 71/2003, ausgegeben am 20. August 2003, ist §14 Abs4 AlVG 1977 dahin geändert worden, dass auch Zeiten einer gemäß §1 Abs2 lite AlVG 1977 von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommenen krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit auf die Anwartschaft anzurechnen sind.

Die entsprechende Regierungsvorlage (59 BlgNR XXII. GP, zu Art84) erläutert diese Änderung wie folgt:

"... Personen ab 60 [sollen] auch dann, wenn sie noch nicht das für eine Alterspension maßgebliche Mindestalter erreicht haben, von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommen sein. Beschäftigungszeiten ab 60 sollen künftig nicht rahmenfristerstreckend, sondern anwartschaftsbegründend wirken. Dadurch sollen Härtefälle vermieden werden. Wenn nämlich eine Person vor Eintritt der Versicherungsfreiheit die Anwartschaft nicht erfüllt hat, hatte sie auch durch die Rahmenfristerstreckung keine Möglichkeit, eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung zu erwerben, sondern war im Falle der Arbeitslosigkeit bis zur Erfüllung der Voraussetzungen für eine Alterspension auf die Sozialhilfe angewiesen."

Diese Änderung des §14 Abs4 AlVG 1977 ist gemäß §79 Abs69 AlVG 1977 - rückwirkend - mit 1. Juli 2002, dh. mit dem Tag des Inkrafttretens des in Prüfung stehenden §1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, in Kraft getreten.

Die Begründung des dem §79 Abs69 AlVG 1977 zugrunde liegenden, in den Beratungen des Finanzausschusses des Nationalrates beschlossenen Abänderungsantrages lautet wie folgt (vgl. 111 BlgNR XXII. GP, zu Art83):

"Die durch Z3 erfolgende Änderung zielt darauf ab, dass §14 Abs4 in der neuen Fassung nicht erst ab 1. Juli 2003, sondern bereits ab 1. Juli 2002 gelten soll. Damit soll erreicht werden, dass Zeiten einer gemäß §1 Abs2 lite AlVG von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommenen krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit bereits rückwirkend ab 1. Juli 2002 auf die Anwartschaft angerechnet werden und einen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründen können.

Die ab 1. Juli 2002 zur Vermeidung von Nachteilen durch den Wegfall der Arbeitslosenversicherungspflicht eingeführte Verlängerung der Rahmenfrist für gemäß §1 Abs2 lite AlVG von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommene Personen um Zeiträume einer krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit hat die beabsichtigte Wirkung nämlich nur dann, wenn die Anwartschaft vor dem Ende der Arbeitslosenversicherungspflicht bereits erfüllt und noch nicht verbraucht war. Wegen des Wegfalls der Arbeitslosenversicherungspflicht war daher seit 1. Juli 2002 einigen Personen mangels Erfüllung der Anwartschaft der Erwerb eines neuen Anspruches auf Arbeitslosengeld nicht möglich. Der Ausschluss dieser Personen vom Arbeitslosengeldbezug war nicht beabsichtigt und ist sachlich nicht zu rechtfertigen. Durch die rückwirkende Anrechnung von Zeiten einer gemäß §1 Abs2 lite AlVG von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommenen krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit auf die Anwartschaft soll die Gewährung von Arbeitslosengeld an diese Personen für Zeiträume nach dem 1. Juli 2002 ermöglicht werden.

Dadurch kann auch den im anhängigen Verfahren G64, 65/03-2 vom Verfassungsgerichtshof geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung getragen werden, ohne den Wegfall der Arbeitslosenversicherungspflicht vom Vorliegen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alterspension abhängig machen zu müssen. Anders als bei der leistungsseitig notwendiger Weise zu beantwortenden Frage, ob die soziale Absicherung einer Person aus der Arbeitslosenversicherung oder wegen der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Alterspension aus der Pensionsversicherung zu erfolgen hat, geht es beitragsseitig um in einem Dienstverhältnis beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Lohnnebenkosten. Wenn zur Klärung der Arbeitslosenversicherungspflicht und damit der Höhe der Lohnnebenkosten für jede einzelne Arbeitnehmerin und für jeden einzelnen Arbeitnehmer erst das Vorliegen eines Anspruches auf Alterspension festgestellt werden müsste, so wäre dies nicht nur mit einem beträchtlichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand für die Träger der Krankenversicherung (die für die Feststellung der Versicherungspflicht zuständig sind und auch die Arbeitslosenversicherungsbeiträge einheben) und für die Träger der Pensionsversicherung verbunden, sondern würde auch zu einer Verunsicherung und einer zusätzlichen Verwaltungskostenbelastung der Arbeitgeber führen, was dem Ziel der längeren Aufrechterhaltung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaden würde."

3. Der Verfassungsgerichtshof hat - in einem von Amts wegen eingeleiteten Normenprüfungsverfahren - eine auf einen Zeitpunkt vor Verwirklichung des Anlassfalles rückwirkende Änderung der Rechtslage wahrzunehmen (vgl. VfSlg. 10.091/1984, S 707; 10.402/1985, S 350; 11.401/1987, S 683).

Die durch das Budgetbegleitgesetz 2003 rückwirkend hergestellte Rechtslage sieht vor, dass Dienstnehmer, die das für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer maßgebliche Mindestalter vollendet haben, von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommen sind, ihre ab diesem Zeitpunkt zurückgelegten krankenversicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten aber auf die Anwartschaft (§14 AlVG 1977) anzurechnen sind. Dem Bedenken des Verfassungsgerichtshofes, durch §1 Abs2 lite AlVG 1977 sei Dienstnehmern bei Erreichen eines bestimmten Alters die Möglichkeit genommen, eine begonnene Anwartschaft in der Arbeitslosenversicherung zu vollenden oder eine neue zu erwerben, auch wenn noch nicht alle Anspruchsvoraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vorliegen, ist damit jedenfalls die Grundlage entzogen.

4. Der Gesetzgeber ist an sich nicht gehindert, ein vom Verfassungsgerichtshof in Prüfung gezogenes Gesetz während des anhängigen Verfahrens zu ändern und so Einfluss auf das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof zu nehmen, vorausgesetzt, er handelt hiebei nicht in der "erweislichen oder doch vom Ergebnis her erschließbaren" Absicht, ein anhängiges Gesetzesprüfungsverfahren ganz oder teilweise zu vereiteln. Die bloß von dieser Absicht getragene Erlassung eines Gesetzes widerspräche nämlich dem Ziel des Art140 B-VG, eine umfassende Kontrolle der Legislativakte auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu gewährleisten (VfSlg. 10.091/1984; vgl. auch VfSlg. 10.402/1985).

Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor: Den oben dargestellten Änderungen durch das Budgetbegleitgesetz 2003 liegt vielmehr - wie auch aus den zugehörigen Gesetzesmaterialien hervorgeht - die Absicht zugrunde, den vom Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluss vom 27. Februar 2003 geäußerten Bedenken Rechnung zu tragen (zu einem ähnlichen Fall s. auch den hg. Beschluss vom 28. November 2002, G214/02).

§1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 war sohin nicht als verfassungswidrig zu erkennen.

Der Ausspruch, dass die geprüfte Norm nicht verfassungswidrig war, kam nicht in Betracht, weil die Rechtslage - wie vorhin dargelegt - durch eine andere Bestimmung geändert worden ist, deren zeitlicher Geltungsbereich ex post betrachtet mit jenem der geprüften Bestimmung völlig übereinstimmt, sodass nunmehr davon auszugehen ist, dass diese Bestimmung mit ihrem - für sich betrachtet - verfassungsrechtlich bedenklichen Inhalt von Anfang an keinen zeitlichen Geltungsbereich hatte.

5. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, Novellierung, Gesetz, Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Pensionsalter, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Sachentscheidung Wirkung, Rückwirkung, VfGH / Anlaßverfahren, Bescheiderlassung (Zeitpunkt maßgeblich für Rechtslage), VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:G64.2003

Dokumentnummer

JFT_09968871_03G00064_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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