TE Vfgh Erkenntnis 2003/12/3 WI-14/99

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Veröffentlicht am 03.12.2003
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Index

60 Arbeitsrecht
60/03 Kollektives Arbeitsrecht

Norm

B-VG Art26 Abs4
B-VG Art141 Abs1 lita
AKG 1992 §21 Z3
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Beschluß des Assoziationsrates Nr 1/80 Art10 Abs1
EG Art234
VfGG §70

Leitsatz

Stattgabe der Anfechtung der Vorarlberger Arbeiterkammerwahl 1999 durch eine Wählergruppe wegen rechtswidriger Streichung türkischer Wahlwerber aus einem Wahlvorschlag; direkte Anwendbarkeit des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei und infolgedessen keine Anwendung entgegenstehender Regelungen des Arbeiterkammergesetzes im Sinne der Vorabentscheidung des EuGH; Einfluss der festgestellten Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis

Spruch

Der Wahlanfechtung wird stattgegeben.

Die Wahl zur Vollversammlung der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Vorarlberg von 6. bis 23.4.1999 wird zur Gänze aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Der Wahl zur Vollversammlung der Arbeiterkammer für Vorarlberg vom 6. bis 23.4.1999 lagen die von den folgenden wahlwerbenden Gruppen eingebrachten, gemäß §37 Arbeiterkammergesetz 1992, BGBl. 1991/626, idF BGBl. I 1998/166, (AKG) und §32 Arbeiterkammer-Wahlordnung, BGBl. II 1998/340, idF BGBl. II 1998/389, (AKWO) abgeschlossenen und veröffentlichten Wahlvorschläge zu Grunde:

-

Vorarlberger Arbeiter- und Angestelltenbund (ÖAAB)- AK-Präsident Josef Fink,

-

FSG - Walter Gelbmann - mit euch ins nächste Jahrtausend/Liste 2,

-

Freiheitliche und parteifreie Arbeitnehmer Vorarlberg - FPÖ,

-

Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG,

-

Gewerkschaftlicher Linksblock,

-

NBZ - Neue Bewegung für die Zukunft.

1.1.2. Laut Kundmachung der Hauptwahlkommission für Vorarlberg vom 5.5.1999 entfiel (bei insgesamt 102.384 Wahlberechtigten) von den insgesamt 45.444 abgegebenen gültigen Stimmen (1.033 Stimmen wurden als ungültig bewertet) und von den 70 zu vergebenden Mandaten auf diese wahlwerbenden Gruppen jeweils die nachstehend genannte Anzahl von Stimmen und Mandaten:

TABELLE IM RIS NICHT DARSTELLBAR !!!

1.2.1. Mit Schreiben vom 5.5.1999 focht die wahlwerbende Gruppe "Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG (Gemeinsam)" (im Folgenden: "Gemeinsam") gemäß §42 Abs1 AKG die Gültigkeit der Wahl wegen behaupteter Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens bei der zuständigen Bundesministerin (damals: für Arbeit, Gesundheit und Soziales) an.

Begründend wurde dazu ausgeführt:

Der von der wahlwerbenden Gruppe "Gemeinsam" eingebrachte Wahlvorschlag habe ursprünglich 26 Kandidatinnen und Kandidaten umfasst, darunter auch fünf türkische Staatsangehörige, die die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besäßen, aber die Voraussetzungen nach Art6 Abs1 dritter Unterabsatz des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980 (im Folgenden: ARB) erfüllten und im Besitz eines Befreiungsscheines nach §4c des Ausländerbeschäftigungsgesetzes seien. Am 8.2.1999 habe die Hauptwahlkommission entschieden, die fünf türkischen Staatsangehörigen (wegen des Fehlens der österreichischen Staatsbürgerschaft) mangels Wählbarkeit vom Wahlvorschlag zu streichen. Damit sei unmittelbar anwendbares, konkretes Recht der Europäischen Gemeinschaft verletzt worden, nämlich vor allem das Diskriminierungsverbot des Art10 ARB. Darin liege eine Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst habe.

1.2.2. Mit Bescheid vom 19.11.1999 wies die zuständige Bundesministerin diese Anfechtung - auf das Wesentliche zusammengefasst - mit folgender Begründung ab:

Aus dem - unmittelbar anwendbaren - Diskriminierungsverbot des Art10 Abs1 ARB sei abzuleiten, dass auch türkischen Arbeitnehmern die Wählbarkeit in eine Arbeiterkammer zukomme. §21 Z3 AKG bzw. §29 Z3 AKWO hätten daher - wegen des Vorranges entgegenstehenden, unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts - nicht angewendet werden dürfen. Die solcherart erwiesene Rechtswidrigkeit der Streichung der fünf türkischen Staatsangehörigen vom Wahlvorschlag der einschreitenden Wählergruppe habe jedoch das Wahlergebnis nicht beeinflussen können, weil im Hinblick auf das für die Wahl der Vollversammlung einer Arbeiterkammer vorgesehene, "nicht 'personalisiert' ausgestaltete Listenwahlrecht" die Person des einzelnen Wahlwerbers für die Wahlentscheidung des Wählers keine Rolle spiele, sondern es dabei auf die politische Ausrichtung der wahlwerbenden Gruppe insgesamt ankomme.

1.3.1. Mit ihrer auf Art141 Abs1 lita B-VG gestützten und an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Wahlanfechtung begehrt die Wählergruppe "Gemeinsam" - auf das Wesentliche zusammengefasst -, die Entscheidung der Hauptwahlkommission vom 8.2.1999 insoweit für rechtswidrig zu erklären und aufzuheben, als die dort genannten (fünf) Wahlwerber wegen fehlenden passiven Wahlrechtes im Wahlvorschlag der anfechtenden Wählergruppe gestrichen worden seien, und das gesamte, von dieser Rechtswidrigkeit "infizierte" nachfolgende Wahlverfahren, insbesondere den Wahlvorgang, die Ermittlung des Wahlergebnisses und den angeführten Bescheid der Bundesministerin vom 19.11.1999, als rechtswidrig zu erklären und aufzuheben sowie auszusprechen, dass die Wahl der Vollversammlung der Arbeiterkammer für Vorarlberg zur Gänze neu durchzuführen sei.

In der Sache wird zum einen - mit im Wesentlichen gleichlautender Begründung wie im Administrativverfahren gemäß §42 AKG - die Rechtswidrigkeit der Streichung der fünf türkischen Staatsangehörigen vom Wahlvorschlag der anfechtenden wahlwerbenden Gruppe behauptet. Zum anderen tritt die Anfechtungswerberin der im Bescheid der Bundesministerin vertretenen Auffassung entgegen, diese Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens habe das Wahlergebnis nicht beeinflussen können: Im Falle des rechtswidrigen Ausschlusses eines Kandidaten von der Wahl sei eine Spekulation über das bei Vermeiden der Rechtswidrigkeit andere Abstimmungsverhalten und -ergebnis gänzlich unzulässig.

1.3.2. Die zuständige Bundesministerin erstattete - über Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes - unter Vorlage der Wahlakten eine Gegenschrift (sowie eine Ergänzung der Gegenschrift) und beantragte der Wahlanfechtung nicht stattzugeben.

1.3.3. Die im verfassungsgerichtlichen Verfahren beteiligte Kammer für Arbeiter und Angestellte für Vorarlberg reichte ebenfalls eine Äußerung ein, in der die Abweisung der Wahlanfechtung beantragt wurde.

1.3.4. Die übrigen im Verfahren beteiligten Wählergruppen gaben keine Stellungnahme ab.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. In seiner den Parteien des verfassungsgerichtlichen Wahlprüfungsverfahrens zugestellten Entscheidung vom 2.3.2001, WI-14/99-17, hat der Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit der Wahlanfechtung festgestellt.

2.2.1. Weiters hat der Verfassungsgerichtshof den - mit näherer Begründung versehenen - Beschluss gefasst, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art234 EG die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

"Frage 1:

Ist Art10 Abs1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 in der Weise auszulegen, dass die Bestimmung einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die türkische Arbeitnehmer von der Wählbarkeit in die Vollversammlung einer Arbeiterkammer ausschließt?

Frage 2:

Bei Bejahung der ersten Frage: Ist Art10 Abs1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB) unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht?"

Schließlich wurde in dieser Entscheidung ausgesprochen, dass das Wahlanfechtungsverfahren nach der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften über die diesem vorgelegten Fragen fortgesetzt würde.

2.2.2. Mit - den Parteien des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ebenfalls zugegegangenem - Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 8.5.2003, Rs C-171/01, hat dieser Gerichtshof über die ihm vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 2.3.2001 vorgelegten Fragen - mit näherer Begründung - zu Recht erkannt:

"Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 19.9.1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass

-

diese Bestimmung unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten hat und dass

-

sie der Anwendung einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die türkische Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates angehören, vom Recht auf Wählbarkeit in die Vollversammlung einer Einrichtung zur Vertretung und zur Verteidigung der Interessen von Arbeitnehmern wie der österreichischen Arbeiterkammern ausschließt."

Über - an die Parteien des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ergangene - Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes, sich zu den Auswirkungen dieses Urteils auf das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof zu äußern, reichten die antragstellende Wählergruppe und der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit je eine Stellungsnahme ein.

2.3. Nun hat der Verfassungsgerichtshof - wie er in seinem Beschluss vom 2.3.2001, WI-14/99, ausgeführt hat - zu Folge Art141 Abs1 B-VG iVm §70 Abs1 VfGG der vorliegenden Wahlanfechtung der Wählergruppe "Gemeinsam" stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens erwiesen wurde und auf das Wahlergebnis von Einfluss war (sein konnte). In einem der Anfechtung stattgebenden Erkenntnis hat der Verfassungsgerichtshof entweder das ganze Wahlverfahren oder von ihm genau zu bezeichnende Teile desselben aufzuheben.

2.3.1. Um aber beurteilen zu können, ob es - wie in der Wahlanfechtung vorgebracht - rechtswidrig war, die fünf türkischen Staatsangehörigen, gestützt auf §21 Z3 AKG, wegen fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft vom Wahlvorschlag der genannten wahlwerbenden Gruppe zu streichen, war es nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes von Relevanz zu wissen, ob die Bestimmung bei diesem Verständnis mit gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in Konflikt gerät. Widerspräche nämlich - so der Verfassungsgerichtshof im genannten Beschluss vom 2.3.2002 weiter - §21 Z3 AKG in dieser Bedeutung gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, dann hätte der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die vorliegende Wahlanfechtung die Vorschrift entweder gemeinschaftsrechtskonform zu deuten oder (teilweise) unangewendet zu lassen.

Unter diesen Vorgaben sowie unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 8.5.2003 (sh. schon Pkt. 2.2.2.), dessen Begründung zu Folge die - unmittelbar anwendbare - Bestimmung des Art10 Abs1 ARB einer Anwendung des §21 Z3 AKG entgegensteht, ist im nunmehr fortgesetzten Wahlanfechtungsverfahren davon auszugehen, dass die in der Wahlanfechtung behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens - auf §21 Z3 AKG gestützte Streichung von Wahlwerbern aus dem Wahlvorschlag - erwiesen wurde.

2.3.2. Es ist somit im verfassungsgerichtlichen Verfahren für die Lösung der Frage, ob der Wahlanfechtung stattzugeben ist, nur mehr eine rechtliche Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob die solcherart konstatierte Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens auf das Wahlergebnis von Einfluss war (sein konnte).

2.3.2.1. Zu dieser Frage des Einflusses der festgestellten Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens auf das Wahlergebnis äußerte sich die zuständige Bundesministerin in ihrem Bescheid vom 19.11.1999 wie folgt:

"Aus den Wahlunterlagen ist zu entnehmen, dass, wenn 160 Stimmen an Stelle für die NBZ [sh. Pkt. 1.1.1. und 1.1.2.] für die wahlwerbende Gruppe 'Gemeinsam' abgegeben worden wären, das Wahlergebnis beeinflusst worden wäre: es hätte die NBZ ein Mandat weniger und der ÖAAB ein Mandat mehr gehabt, sodass das Wahlergebnis gelautet hätte:

ÖAAB - 44 Mandate

FSG - 11 Mandate

Freiheitliche Arbeitnehmer - 9 Mandate

Gemeinsam - 2 Mandate und Neue Bewegung für die Zukunft - 4 Mandate.

Anders ausgedrückt: hätten 4,9% der Wähler/innen, die die wahlwerbende Gruppe NBZ gewählt haben, nicht deren Wahlvorschlag, sondern den der wahlwerbenden Gruppe 'Gemeinsam' gewählt, so wäre das Wahlergebnis beeinflusst worden.

Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist die Voraussetzung der Beeinflussung des Wahlergebnisses bereits dann erfüllt, wenn die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte (vgl. VfSlg. 14556/1996 mit weiteren Nachweisen).

Es ist zu fragen, ob die Diskussion um das passive Wahlrecht für ausländische Arbeitnehmer, die - unbestrittenermaßen - in der Wahlauseinandersetzung für die Arbeiterkammerwahl Vorarlberg eine Rolle gespielt hat und durch die öffentliche Auseinandersetzung einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist, das Wahlergebnis beeinflussen konnte.

Aufgabe des Bundesministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales [nunmehr: für Wirtschaft und Arbeit] ist es dabei nicht - notwendigerweise spekulative - Erwägungen darüber anzustellen, wie das Wahlergebnis konkret bei einem geänderten Wählerverhalten ausgesehen hätte; es genügt, dass das Wahlergebnis beeinflusst werden konnte.

Es ist davon auszugehen, dass die Positionen der wahlwerbenden Gruppen zur Frage des passiven Wahlrechts für nichtösterreichische Arbeitnehmer/innen bekannt und damit auch Grundlage der Wahlentscheidung der Wähler/innen waren.

Unbeschadet dessen ist aber die Struktur des Wahlverfahrens dahingehend zu prüfen, ob im Hinblick auf dessen Gestaltung als reine Listenwahl die einzelnen Wahlwerber, also deren Personen, eine Rolle spielen.

Im Hinblick darauf, dass die Rechtswidrigkeit ja darin liegt, dass einzelnen Wahlwerber/inne/n das passive Wahlrecht abgesprochen worden ist, ist diese Rechtswidrigkeit in Beziehung zu setzen zur Gestaltung des Wahlverfahrens als Listenwahl.

Dieses Listenwahlrecht wird dokumentiert durch die Bestimmung über die Verlautbarung der Wahlvorschläge, die nur die Bezeichnung der wahlwerbenden Gruppe sowie den Listenführer beinhaltet (vgl. §32 Arbeiterkammer-Wahlordnung); weiters durch das Fehlen jeglicher 'Personalisierung' des Wahlrechts: anders als zB im Nationalratswahlrecht sieht das Arbeiterkammerwahlrecht weder die Vergabe von Vorzugsstimmen vor noch enthält es eine Regelung über die Wertung einer Stimme für einen Wahlwerber als Stimme für die wahlwerbende Partei, auch wenn diese auf dem Stimmzettel nicht bezeichnet wurde.

In diesem Zusammenhang ist auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 28. Juni 1996, WI-2/92 (in VfSlg. 14556/1996) hinzuweisen, worin dieser in der 'Personalisierung' des Nationalratswahlrechts eine Regelung sah, der nicht das Verständnis unterstellt werden könne, dass die Personen der Wahlwerber für die Wahlentscheidung zwischen den wahlwerbenden Parteien irrelevant wären.

Im Hinblick auf das gerade nicht 'personalisiert' ausgestaltete Listenwahlrecht bei der Wahl zur Vollversammlung der Arbeiterkammer ist daher umgekehrt davon auszugehen, dass die Personen der einzelnen Wahlwerber eben für die Wahlentscheidung des Wählers/der Wählerin keine Rolle spielen, sondern es vielmehr auf die politische Ausrichtung der wahlwerbenden Gruppe insgesamt ankommt.

Im Ergebnis ist somit die Möglichkeit der Beeinflussung des Wahlergebnisses durch die rechtswidrige Entscheidung der Hauptwahlkommission vom 8. Februar 1999 zu verneinen, womit die zweite Voraussetzung für eine positive Wahlanfechtung nicht gegeben ist."

2.3.2.2. Die Wählergruppe "Gemeinsam" nahm dazu in ihrer Wahlanfechtung den folgenden - wörtlich wiedergegebenen - Standpunkt ein:

"Uneingeschränkt geteilt wird der Rechtsstandpunkt der Bundesministerin, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs die Voraussetzung des Einflusses auf das Wahlergebnis bereits dann erfüllt ist, wenn die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte.

Mit dieser Rechtsprechung stellt der Verfassungsgerichtshof die Selbstverständlichkeit klar, dass es nicht seine Aufgabe sein kann, darüber zu spekulieren, wie eine Wahl bei Vermeidung des rechtswidrigen Ausschlusses eines Mitbewerbers ausgehen hätte können.

Bei der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs geht es um etwas ganz anderes. Geringfügige Unregelmässigkeiten, die ihrerseits auf die Stimmabgabe keinen Einfluss haben, müssen auch dann nicht zur Wahlaufhebung führen, wenn ihre Rechtswidrigkeit eindeutig ist. Selbst ein einziger rechtswidriger Abstimmungsvorgang, der nur einen einzigen Wähler betroffen hat, muss bei Fehlen weiterer Momente nicht entscheidungswesentlich gewesen sein, wenn alle Parteien für ihre Mandate große Überhänge haben.

Hier geht es aber nicht um einen Vorgang bei der Abstimmung oder gar bei der Auszählung, sondern um den rechtswidrigen Ausschluss eines Kandidaten, der sohin nicht im Wahlkampf auftreten konnte.

In einem solchen Fall ist eine Spekulation über das bei Vermeiden der Rechtswidrigkeit andere Abstimmungsverhalten und -ergebnis gänzlich unzulässig. Jede andere Interpretation würde bedeuten, dass der Verfassungsgerichtshof sich als Meinungsforscher betätigt oder sich an Stelle des in Wahrheit nie sicher vorhersagbaren Wählers als Wahlprophet betätigt. Es ist offenkundig, dass ein solcher Vorgang gänzlich denkunmöglich ist. Gerade weil die Personen der Wahlwerber für die Wahlentscheidung nicht irrelevant sein können, ist die Entscheidung der Bundesministerin denkunmöglich.

Bezeichnend ist, dass die Bundesministerin ihre eigene Logik auch nicht einmal in ihrer Begründung durchzuhalten vermag. Die Bundesministerin stellt selbst dar, dass, wenn nur jeder 20igste Wähler der 'NBZ' die Erstanfechtungswerberin [= Wählergruppe 'Gemeinsam'] gewählt hätte, eine Mandatsverschiebung eingetreten wäre. Damit lässt die Bundesministerin beispielsweise unbedacht, dass nur weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, offenkundig deshalb, weil sie sich durch die wahlwerbenden Gruppen nicht vertreten gefühlt haben. Wenn 320 Arbeitnehmer zusätzlich - und dabei die [Wählergruppe 'Gemeinsam'] - gewählt hätten, wäre das gleiche vom Bescheid der Bundesministerin angesprochene Ergebnis eingetreten.

Rätselhaft ist, warum die [Wählergruppe 'Gemeinsam'] in ihrer rechtmässigen Zusammensetzung ausgerechnet mit der 'NBZ' im Wettstreit liegen hätte müssen. Die Liste 'NBZ' besteht zur Gänze aus Österreichern, die sohin eine andere Interessenlage haben, auch wenn gemeinsame Muttersprache und Herkunft sie mit einem Teil der Befreiungsscheininhaber verbinden.

Geht man davon aus, dass nur knapp 40% der Arbeitnehmer von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, und geht man weiter davon aus, dass es in Vorarlberg etwa 20.000 Inhaber von Befreiungsscheinen gibt, und geht man davon aus, dass die Inhaber von Befreiungsscheinen mit dem gleichen Prozentanteil gewählt haben wie die Arbeitnehmer insgesamt, dann müssten etwa 12.000 Inhaber von Befreiungsscheinen nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben. Dies wäre das 40igfache des für eine Mandatsverschiebung Erforderlichen.

Selbst wenn man den gänzlich inakzeptablen Standpunkt annähme, dass eine Mandatsverschiebung plausibel zu argumentieren ist, lägen die Voraussetzungen im Anlassfall problemlos vor, dürften doch etwa 40 mal so viele Inhaber von Befreiungsscheinen nicht gewählt haben, als [...] für eine Mandatsverschiebung Stimmen erforderlich gewesen wären.

Die Anfechtungswerber[in] wiederhol[t] noch einmal. Aus ihrer Sicht scheidet es kategorisch aus, dass der Verfassungsgerichtshof im Fall des rechtswidrigen Ausschlusses von Wahlwerbern Spekulationen darüber anstellt, wie die Wahl bei Vermeidung dieser Rechtswidrigkeit ausgegangen wäre, denn damit würde er sich Rechte des Wählers arrogieren.

Insofern ist auch symptomatisch, dass die Bundesministerin nicht einmal andeutet, dass die Vermeidung der Rechtswidrigkeit zu einem für die [Wählergruppe 'Gemeinsam'] ungünstigeren Ergebnis führen hätte können, denn offenkundig stand für jedermann intuitiv ausser Streit, dass der von der [Wählergruppe 'Gemeinsam'] versuchte Brückenschlag Teile der Wähler mobilisieren hätte können, die die anderen Vorschläge nicht ansprechen konnten.

Es scheint sohin gänzlich undenkbar, den Verfassungsgerichtshof zum Spekulanten über mögliche Wahlausgänge zu machen. Selbst im Fall einer solchen Spekulation müsste der Verfassungsgerichtshof zum Ergebnis kommen, dass eine potentielle Beeinflussungsmöglichkeit des Wahlergebnisses zweifelsfrei bestanden hat."

2.3.2.3. Die Bundesministerin hält dem in ihrer Gegenschrift - wörtlich - das Folgende entgegen:

"Zu den Ausführungen im Bescheid des Bundesministeriums [...] betreffend die Mandatsverschiebung ist klarzustellen, dass das Bundesministerium [...] davon ausgegangen ist, dass eine Beeinflussung des Wahlergebnisses grundsätzlich dann vorliegt, wenn es zu einer Mandatsverschiebung gekommen wäre bzw. eine solche möglich gewesen wäre. Insoweit hat das Bundesministerium [...] eine Berechnung dahingehend angestellt, welche 'geringstmögliche' Stimmenwanderung eine solche Mandatsverschiebung verursacht hätte. Damit waren keineswegs Überlegungen hinsichtlich des politischen Wettstreites der [Anfechtungswerberin] mit einer konkreten anderen wahlwerbenden Gruppe verbunden, sondern es wurde lediglich berechnet, welche Mindeststimmenzahl von welcher wahlwerbenden Gruppe 'wandern' hätte müssen, um eine Mandatsverschiebung zu erreichen. Diese Berechnung ergab schließlich die im Bescheid dargestellte Stimmenbewegung.

Die Begründung des angefochtenen Bescheides, wonach eine Beeinflussung des Wahlergebnisses nicht für möglich erachtet wurde, bezog sich ausschließlich auf die Konzeption des Arbeiterkammerwahlrechts als reines Listenwahlrecht. Ohne Spekulationen über das mögliche Wahlverhalten von Arbeitnehmern mit oder ohne österreichische Staatsangehörigkeit anzustellen, beschränkte sich die Begründung darauf klarzustellen, dass wegen der ausschließlichen Gestaltung des Arbeiterkammerwahlrechts als Listenwahlrecht der Ausschluss einzelner Wahlwerber keine Bedeutung haben konnte.

Anders als in anderen Wahlverfahren, z.B. dem Nationalratswahlverfahren, kam es im Arbeiterkammerwahlrecht bisher zu keiner Personalisierung des Wahlrechts. Das Arbeiterkammerwahlrecht kennt weder Vorzugsstimmen noch vergleichbare Elemente eines personalisierten Wahlrechts.

In der Kundmachung der Wahlvorschläge gemäß §32 Arbeiterkammer-Wahlordnung ist neben der Bezeichnung der wahlwerbenden Gruppe lediglich der Erstgereihte der Wahlvorschläge anzuführen; die weiteren Kandidaten sind nicht kundzumachen. Lediglich für die persönliche Stimmabgabe in der Wahlzelle ist ein Aushang der Wahlvorschläge mit allen Wahlwerbern vorgesehen (§37 Arbeiterkammer-Wahlordnung); für die - gleichwertige - Briefwahl fehlen aber vergleichbare Regelungen, sodass aus §37 Arbeiterkammer-Wahlordnung nicht abgeleitet werden darf, dass damit das Listenwahlrecht zu einem personalisierten Wahlrecht modifiziert würde.

In seinem Erkenntnis vom 28. Juni 1996, WI-2/96, verwies der Verfassungsgerichtshof darauf, dass es im Nationalratswahlverfahren Elemente der Personalisierung gibt. Diese sind das Institut des Regionalwahlkreises, das den wahlwerbenden Parteien ermöglichen soll, durch die Kandidatur für die Wähler besonders attraktiver Regionalbewerber die Parteienpräferenz der Wähler zu beeinflussen, weiters das Fehlen des 'Stimmensplitting' sowie die Regelung in der NRWO, wonach eine Stimme für eine wahlwerbende Partei auch dann gültig ist, wenn zwar nicht diese, sondern nur ein Bewerber einer Parteiliste bezeichnet ist. Aus diesen Gründen sind daher in einem solchen Wahlverfahren die Personen der Regionalwahlwerber für die Wählerentscheidung relevant, was schlussendlich im konkreten Fall zur Aufhebung der Wahl in einem Wahlkreis wegen der Ausgabe falscher Stimmzettel (nämlich der eines anderen Regionalwahlkreises) geführt hat.

Demgegenüber ist das Wahlrecht zur Vollversammlung der Arbeiterkammer als reines Listenwahlrecht gestaltet. Dies wurde mit der Abschaffung der Wahlkörper durch die AKG-Novelle BGBl. I Nr. 104/1998 noch verstärkt, als die bisherige Aufsplittung in die Wahlkörper Arbeiter, Angestellte und Verkehrsbedienstete aufgehoben wurde, die vielleicht zu einer gewissen Identifizierung mit den Wahlwerbern der jeweils eigenen Berufsgruppe führen konnte, und somit jetzt nur mehr die allgemeine Interessenvertretung für alle kammerzugehörigen Arbeitnehmer im Vordergrund steht.

Der Wähler trifft seine Entscheidung in einer Auswahl zwischen den wahlwerbenden Gruppen. Dabei kann für den Wähler auch die jeweilige Haltung der wahlwerbenden Gruppe zur Frage des passiven Wahlrechts für ausländische Arbeitnehmer eine Rolle spielen; diese Positionen werden aber dadurch nicht 'entwertet', dass für eine wahlwerbende Gruppe nur Wahlwerber mit österreichischer Staatsangehörigkeit kandidieren.

Aus all diesen Gründen kam das Bundesministerium [...] zum Ergebnis, dass das Listenwahlrecht einer Aufhebung der Wahl ausschließlich wegen des Ausschlusses einzelner Wahlwerber entgegensteht."

2.3.2.4. Der Verfassungsgerichtshof hat schon mehrfach ausgesprochen, dass die Voraussetzung des Einflusses einer (erwiesenen) Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens auf das Wahlergebnis bereits dann erfüllt ist, wenn die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte (vgl. VfSlg. 6424/1971 und die dort zit. Vorjud., sowie VfSlg. 7392/1974, 7784/1976, 7850/1976, 8853/1980, 10.906/1986, 11.167/1986, 11.255/1987, 14.556/1996).

Dass diese Voraussetzung hier vorliegt, steht außer Zweifel. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es dem Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang nicht obliegt, - notwendiger Weise: spekulative - Erwägungen darüber anzustellen, ob es bei Belassung der von der Hauptwahlkommission aus dem Wahlvorschlag der Anfechtungswerberin gestrichenen Wahlwerber tatsächlich zu einem geänderten Wählerverhalten gekommen wäre (vgl. VfSlg. 14.556/1996). Der Umstand, dass die Wahl zur Vollversammlung der Arbeiterkammer als Listenwahl gestaltet ist, ändert daran nichts. Auch in diesem Fall kann die personelle Zusammensetzung der jeweiligen Liste für die Wahlentscheidung durchaus von Relevanz sein.

2.4. Aus diesen Gründen war der Wahlanfechtung stattzugeben und die Wahl zur Vollversammlung der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Vorarlberg 1999 als rechtswidrig aufzuheben. Die Durchführung einer Wiederholungswahl kommt im Hinblick auf die bereits für den Zeitraum vom 1. bis zum 18.3.2004 angeordneten Wahlen der Vollversammlung der Arbeiterkammer für Vorarlberg nicht in Betracht.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Arbeiterkammern, EU-Recht Vorabentscheidung, Anwendbarkeit, Wahlen, Wahlrecht passives, berufliche Vertretungen, Ausländer

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:WI14.1999

Dokumentnummer

JFT_09968797_99W0I014_3_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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