RS Vfgh 1987/3/10 G19/86, G126/86, G131/86

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Veröffentlicht am 10.03.1987
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
ASVG ArtV Abs2 40. ASVG-Nov BGBl 484/1984
VfGG §15 Abs2
VfGG §62 Abs1
ASVG ArtVI Abs9 35. ASVG-Nov BGBl 585/1980

Leitsatz

der Gesetzgeber hat bei der Änderung von Rechtspositionen den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes entsprechend zu berücksichtigen; "wohlerworbene Rechte" können unter Beachtung des Gleichheitsgebotes verändert werden; Übergangsvorschriften des ArtV Abs2 der 40. ASVG-Novelle, die eine mit der 35. ASVG-Novelle (ArtVI Abs9) eingeführte Begünstigung zurücknimmt - vom Gleichheitsgrundsatz gesetzte Grenze (noch) nicht überschritten

Rechtssatz

Der Verfassungsgerichtshof vertritt in seiner Rechtsprechung den Standpunkt, es komme bei der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen für die Durchführung eines Gesetzesprüfungsverfahren nach Art140 B-VG darauf an, ob sich aus dem Inhalt des Antrages sowohl das Begehren auf Aufhebung als auch eine Darlegung der im einzelnen gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes seinem ganzen Inhalt nach oder einer bestimmten Gesetzesstelle sprechenden Bedenken ergeben (vgl. insbesondere VfSlg. 7593/1975).

Nun sind die Anträge des OLG Wien ihrem Wortlaut nach nicht auf Aufhebung einer bestimmten Gesetzesstelle, sondern darauf gerichtet, der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen, daß ArtV Abs2 der 40. ASVG-Novelle verfassungswidrig sei. Angesichts des Inhalts des Antrages insgesamt und insbesondere auch angesichts der im Schlußabsatz des Gerichtsantrag gewählten Formulierung ist der Verfassungsgerichtshof jedoch der Ansicht, daß der Antrag ein den formellen Erfordernissen der §§15 Abs2 und 62 Abs1 VfGG entsprechendes Aufhebungsbegehren enthält.

Anläßlich der 35. ASVG-Novelle hat der Gesetzgeber für jene Versicherungsfälle freiwillig Weiterversicherter die einleitend wiedergegebene begünstigende Übergangsvorschrift des ArtVI Abs9 geschaffen, für die der Stichtag vor dem 1.1.1986 liegt. Er hat damit bei der durch die Übergangsvorschrift begünstigten Versichertengruppe zweifellos eine bestimmte Erwartungshaltung geschaffen, die der Gesetzgeber der 40. Novelle durch die in Prüfung stehende Bestimmung (ArtV Abs2) insofern enttäuscht hat, als er für einen Teil des begünstigten Personenkreises diese Begünstigung wieder zurücknahm, und zwar für jene freiwillig Weiterversicherten, für die der Stichtag zwischen dem 1.5. und dem 1.12.1985 liegt (für die Versicherten, für die der Stichtag am 1. Jänner, Februar, März oder April 1985 liegt, sah nämlich die Übergangsbestimmung des ArtIV Abs11 der 40. Novelle im Effekt ein Fortwirken der Begünstigung vor).

Es ist also dem antragstellenden Gericht zuzugestehen, daß die betroffene Personengruppe durch die angefochtene Bestimmung (ArtV Abs2 40. ASVG-Novelle) in ihrem durch die 35. ASVG-Novelle begründeten Vertrauen enttäuscht wurde, was insbesondere darin deutlich wird, daß sich im Vertrauen auf die Rechtslage getroffene Dispositionen hinsichtlich der Aufrechterhaltung ihrer freiwilligen Weiterversicherung teilweise als Fehldispositionen erwiesen haben können. Auch ist das anfechtende Gericht im Recht, wenn es in seinem Antrag von der Prämisse ausgeht, daß der Gesetzgeber bei der Änderung von Rechtspositionen den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes entsprechend zu berücksichtigen hat. Der Verfassungsgerichtshof hat in der Frage der sogenannten wohlerworbenen Rechte in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa VfSlg. 3836/1960) daran festgehalten, daß der Gesetzgeber solche Rechte verändern kann, hat aber in diesem Zusammenhang stets betont, daß er hiebei im besonderen das Gleichheitsgebot zu beachten hat.

Es ist also zu prüfen, ob der mit der angefochtenen Bestimmung bewirkte Eingriff in die durch die 35. Novelle begründeten Rechtspositionen der Betroffenen sachlich gerechtfertigt werden kann.

Übergangsvorschrift des ArtV Abs2 40. ASVG-Novelle sachlich (noch) gerechtfertigt.

Wenn der Gesetzgeber im Zuge der Umstellung des Bemessungsrechts das Wirksamkeitsende für die mit der 35. ASVG-Novelle geschaffene begünstigende Übergangsregelung durch die angefochtene Bestimmung (ArtV Abs2 40. ASVG-Novelle) iVm der Übergangsregelung des ArtIV Abs11 der 40. Novelle derart vorverlegt hat, daß die Begünstigung letztmalig zum Stichtag 1.4.1985 zum Tragen kommt und damit eine vier Jahre vorher gewährte Begünstigung in ihrer Wirkung teilweise wieder zurücknahm, so hat er sich dabei im Rahmen des ihm zukommenden rechtspolitischen Gestaltungsspielraums bewegt. Die Gruppe jener freiwillig Weiterversicherten, für die der Stichtag zwischen dem 1.5. und dem 1.12.1985 liegt, wurde durch die in Prüfung stehende Bestimmung gegenüber jener Personengruppe, für die der Stichtag zwischen dem 1.1.1981 und dem 1.4.1985 lag, benachteiligt; andererseits wäre die betroffene Gruppe von Versicherten im Vergleich zu all jenen, die unter das System des mit der 40. Novelle eingeführten Bemessungsrechts fallen, noch weiter begünstigt worden, hätte der Gesetzgeber die angefochtene Regelung nicht geschaffen. Die Bundesregierung ist daher im Recht, wenn sie ausführt, daß die unveränderte Weitergeltung des ArtVI Abs9 der 35. ASVG-Novelle im Hinblick auf den Wirksamkeitsbeginn der Pensionsreform mit 1.1.1985 zu einer Besserstellung der betroffenen Personengruppe gegenüber jenen geführt hätte, die ab 1.1.1985 von der Pensionsreform betroffen sind.

Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Verfahren nicht zu beurteilen, ob die unveränderte Beibehaltung der Begünstigung gemäß ArtVI Abs9 der 35. ASVG-Novelle, die zur erwähnten Besserstellung gegenüber Neupensionisten geführt hätte, sachlich gerechtfertigt oder gleichheitswidrig gewesen wäre. Dem Gesetzgeber kann jedoch unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes nicht entgegengetreten werden, wenn er unter den angeführten Umständen in Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten zur Lösung des neu auftretenden Übergangsproblems das Ende der Wirksamkeit der begünstigenden Übergangsvorschrift des ArtVI Abs9 der 35. ASVG-Novelle im Interesse der Vermeidung weiterer Verzerrungen nach vier Jahren um einige Monate zurückgenommen hat. Der Verfassungsgerichtshof hat nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber damit die sachgerechteste Lösung getroffen hat; die ihm durch den Gleichheitsgrundsatz gesetzte Grenze hat er unter den gegebenen Umständen (noch) nicht überschritten, auch wenn mit der getroffenen Regelung Härten verbunden sein mögen (vgl. VfSlg. 9645/1983).

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Antrag, Formerfordernisse, Sozialversicherung, Begünstigung, Rechte wohlerworbene

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G19.1986

Dokumentnummer

JFR_10129690_86G00019_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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