TE Vfgh Erkenntnis 2004/6/9 B161/04

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Veröffentlicht am 09.06.2004
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK österr Vorbehalt zu Art5
EMRK österr Vorbehalt zu Art6
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StVO 1960 §99a
VfGG §88
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Bescheiderlassung seitens des Unabhängigen Verwaltungssenates betreffend Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand wegen Unterlassung der Durchführung einer Berufungsverhandlung; keine Bedenken gegen die dem UVS einen Ermessensspielraum einräumende verwaltungsstrafrechtliche Bestimmung über das Absehen von einer Berufungsverhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) und das Land Tirol sind schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Verfahrenskosten je zur Hälfte binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Innsbruck vom 11. Oktober 2002 wurde dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, dass er durch lautstarkes Schreien ungebührlicherweise störenden Lärm erregt habe und sich gegenüber Sicherheitswachebeamten trotz vorausgegangener Abmahnung aggressiv verhalten und dadurch eine Amtshandlung behindert habe. Wegen der Verwaltungsübertretungen gemäß §4 Abs1 iVm. §1 Abs1 Tiroler Landes-Polizeigesetz und gemäß §82 Abs1 Sicherheitspolizeigesetz wurden über ihn Geldstrafen in der Höhe von je € 100,-- bzw. Ersatzfreiheitsstrafen von jeweils zwei Tagen verhängt.

Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol (im Folgenden: UVS), in der er auch die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung beantragte.

Mit Bescheid vom 15. Jänner 2004 gab der UVS dieser Berufung - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - im Schuldspruch keine Folge, reduzierte aber die gemäß §82 Abs1 Sicherheitspolizeigesetz verhängte Geldstrafe auf € 65,-- und die diesbezügliche Ersatzfreiheitsstrafe auf einen Tag.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

3. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und die Abweisung der Beschwerde beantragt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Im Verwaltungsstrafverfahren findet eine Verletzung der durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantie statt, wenn der UVS - der insofern als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage zuständige Tribunal entscheidet - einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, obwohl keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 16.624/2002; weiters zB VfGH 18.6.2003, B1312/02; 25.6.2003, B366/03).

2. In seinem Bescheid hat der UVS das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf §59e [gemeint wohl:

§51e] Abs4 VStG gestützt. Diese Bestimmung könnte jedoch von vornherein nur im - hier nicht gegebenen - Fall der Erlassung eines verfahrensrechtlichen Bescheides zur Anwendung kommen.

Da der Beschwerdeführer in seiner Berufung die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung beantragt hat, kommt aber auch die Anwendung des §51e Abs3 VStG - der den UVS allenfalls ermächtigt hätte, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen - von seinen Voraussetzungen her nicht mehr in Betracht. Daraus folgt, dass der UVS verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Diese Unterlassung führt nicht nur zur Gesetzwidrigkeit des Bescheides, sondern hat auch die Verletzung des Art6 Abs1 EMRK zur Folge (VfSlg. 16.624/2002; vgl. auch VfGH 25.2.2003, B1421/02; 22.9.2003, B1482/02).

3. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid war schon aus diesem Grunde aufzuheben.

III. 1. Der Kostenzuspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,-- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ermessen, Straßenpolizei, Alkoholisierung, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B161.2004

Dokumentnummer

JFT_09959391_04B00161_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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