Index
40 VerwaltungsverfahrenNorm
EMRK Art6 Abs1 / VerfahrensgarantienLeitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine VerhandlungSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 7. Februar 2003 wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er als Zulassungsbesitzer eines näher bezeichneten Fahrzeuges der schriftlichen Aufforderung der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 12. Dezember 2002 zur Bekanntgabe, wer dieses Fahrzeug am 26. November 2002 um 10:23 Uhr gelenkt hat, oder wer diese Auskunft erteilen kann, nicht binnen 2 Wochen nachgekommen sei.
In seinem Einspruch gegen diese Strafverfügung brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, dass er eine Aufforderung zur Bekanntgabe des Lenkers nicht erhalten habe.
Mit Straferkenntnis vom 2. April 2003 verhängte die Bezirkshauptmannschaft über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 319,- (3 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) wegen der bereits in der Strafverfügung beschriebenen Tat. Begründet wurde dieser Bescheid unter anderem damit, dass sich das Straferkenntnis auf die Anzeige eines unter Diensteid stehenden Sicherheitsorgans stütze und dass "die Messung durch ein geeichtes Radargerät erfolgte, das ordnungsgemäß aufgestellt war" (!). Auf das im Einspruch erstattete Vorbringen wurde in keiner Weise eingegangen.
2. In seiner Berufung gegen dieses Straferkenntnis brachte der Beschwerdeführer erneut unter anderem vor, dass eine schriftliche Aufforderung zur Bekanntgabe des Lenkers bei ihm nicht eingelangt sei.
Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (in der Folge: UVS) gab mit Bescheid vom 5. November 2003 der Berufung des Beschwerdeführers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - keine Folge.
3. Dagegen richtet sich die gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.
Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt, die Beschwerdeabweisung beantragt und keine Gegenschrift erstattet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige -
Beschwerde erwogen:
1. Im Berufungsbescheid wird der Entfall einer mündlichen
Verhandlung wie folgt begründet:
"Die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung war weder beantragt, noch ist eine solche im Gesetz bei einer Strafhöhe - wie im gegenständlichen Fall - Euro 319,-- vorgesehen.
Die Lösung der gegenständlichen Angelegenheit reduziert sich auf die Beurteilung der dahinter stehenden Rechtsfrage. (...) "
2. Dem ist folgendes entgegenzuhalten:
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 16624/2002 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR dargelegt, dass den Verfahrensgarantien des Art6 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen wird, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt (vgl. das Urteil des EGMR 23.10.1995, Gradinger, ÖJZ 1995, 954) muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer vom 20.12.2001, ÖJZ 2002, 394, Z28 bis 30).
In seinem Erkenntnis vom 18. Juni 2003, B1312/02, hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des §51e Abs3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art6 EMRK gebietet, muss der UVS - verfassungskonform - eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. VfSlg. 16624/2002).
2.2. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.
2.3. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann das Verhalten des Beschwerdeführers keineswegs als schlüssiger Verzicht auf sein Recht gedeutet werden:
Der Beschwerdeführer hat im Einspruch gegen die Strafverfügung ein konkretes Tatsachenvorbringen erstattet, auf welches im Straferkenntnis erster Instanz nicht eingegangen wurde; in der Berufung hat er dieses Vorbringen wiederholt. Der Inhalt der - sachverhaltsbezogenen - Berufung lässt keineswegs zweifelsfrei darauf schließen, dass auf das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass ein solcher schlüssiger Verzicht die Kenntnis dieses Rechts voraussetzt (VfGH 18.6.2003, B1312/02). Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR 3.10.2002, Cetinkaya gg. Österreich, Zl. 61595/00).
Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 EMRK verletzt worden.
3. Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
4. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Auslegung verfassungskonforme, Ermessen, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, ÖffentlichkeitsprinzipEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:B1592.2003Dokumentnummer
JFT_09959391_03B01592_00