RS Vfgh 1987/6/17 B491/86

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 17.06.1987
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Instanzenzugserschöpfung
StGG Art8
Vlbg SittenpolizeiG 1976 §4 Abs1, §18 Abs1 litc
LandstreichereiG 1885 §5
MRK Vorbehalt zu Art5
VfGG §19 Abs3 Z2 lita
VStG §35 litc, §36 Abs1, §51 Abs1

Leitsatz

Beschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft mangels Erschöpfung des Instanzenzuges unzulässig - daran ändert der (angeblich unter Zwang abgegebene) Berufungsverzicht nichts keine Bedenken gegen §4 Abs1, 3 und 4 und gegen §18 Abs1 litc Vbg. SittenpolizeiG unter dem Gesichtspunkt der Art5 und 6 MRK; vertretbare Annahme einer Verwaltungsübertretung nach §4 Abs1 iVm §18 Abs1 litc Vbg. SittenpolizeiG; (noch während der Dienstzeit der Behörde erfolgte) Festnehmung in §35 litc VStG 1950 gedeckt; darauffolgende Anhaltung bis Dienstschluß in §36 Abs1 VStG 1950 gedeckt, nicht jedoch die darüber hinausgehende Anhaltung; in diesem Umfang Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Rechtssatz

Zurückweisung einer Beschwerde gegen einen (erstinstanzlichen) Strafbescheid - ein Berufungsverzicht war nach dem Beschwerdevorbringen lediglich unter Zwang abgegeben worden - gemäß §19 Abs3 Z2 lita VfGG.

Gegen den (Straf-)bescheid der BH Bregenz vom 17.4.1984 wäre dem §51 Abs1 VStG 1950 zufolge der Beschwerdeführerin die Berufung an die im Instanzenzug sachlich übergeordnete Behörde (hier an die Vorarlberger Landesregierung) zugestanden. Der Umstand, daß sie den Berufungsverzicht angeblich unter Zwang abgegeben habe, ändert nichts daran, daß der angefochtene Bescheid kein letztinstanzlicher ist. Die Frage, ob der Rechtsmittelverzicht unwirksam war, wäre im Rechtsmittelweg zu klären (gewesen).

Festnahme der Beschwerdeführerin durch Gendarmeriebeamte nachdem sie trotz vorangegangener Abmahnung zum Zweck der Kontaktaufnahme zur gewerbsmäßigen Unzucht auf einem bestimmten Straßenstück der B 202 in der Nähe einer Tankstelle verblieben war.

Vertretbare Annahme einer Verwaltungsübertretung nach §4 Abs1 iVm §18 Abs1 litc des Vbg. SittenpolizeiG.

Sofortige Freilassung nach Wegfall des Festnahmegrundes; keine wörtliche Anwendung bei Einstellung des strafbaren Verhaltens gerade infolge der Festnahme.

Gemäß §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 ist der zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Behörde Festgenommene freizulassen, wenn der Grund zur Festnahme schon vorher entfällt. Wenn aber bereits die Festnahme selbst bewirkt, daß der Grund der Festnahme entfällt, wenn also die wegen Verharrens im strafbaren Verhalten festgenommene Person dieses Verhalten gerade infolge der Festnahme einstellt, ist diese Rechtsregel nicht wörtlich anzuwenden. Vielmehr ist - dem Sinn des Gesetz entsprechend - der Festgenommene jedenfalls dann vorzeitig zu enthaften, wenn auf Grund besonderer Umstände augenfällig wird, daß er im Fall der Freilassung das strafbare Verhalten nicht wieder aufnehmen wird (vgl. VfSlg. 9368/1982 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).

Festnahme der Beschwerdeführerin durch einen Gendarmeriebeamten am 16.4.1986 um 14,40 Uhr wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung gemäß §18 Abs1 litc Vbg.

SittenpolizeiG (Prostitution) - Vorführung der Beschwerdeführerin vor die Behörde erst am nächsten Tag um 8,00 Uhr.

Die Behörde hatte auch die weiteren Bestimmungen des §36 Abs1 VStG 1950 zu beachten, wonach sie verhalten ist, jeden Festgenommenen ehestmöglich als Beschuldigten im Verwaltungsstrafverfahren zu vernehmen. Sie hat die ihr zumutbaren organisatorischen und personellen Maßnahmen zu treffen, um dieser Verpflichtung nachzukommen.

Die Anhaltung der Beschwerdeführerin währte vom 16.4.986, 14,40 Uhr bis 08,00 Uhr des nächsten Tages. Die Gendarmeriebeamten waren berechtigt, vor Überstellung der festgenommenen Beschwerdeführerin zur zuständigen Verwaltungsstrafbehörde (zur BH Bregenz) die erforderlichen Maßnahmen (etwa Priorierung der Festgenommenen und Schreiben der Anzeige) zu treffen. Der hiefür nötige Zeitraum lief um etwa 17,00 Uhr ab; über diesen Zeitpunkt hinaus wurde die Beschwerdeführerin lediglich deshalb angehalten, weil bei der BH Bregenz um 17,00 Uhr Dienstschluß war, weshalb die Beschwerdeführerin erst am nächsten Tag um 08,00 Uhr der Behörde vorgeführt wurde.

Nun ist aber dann, wenn - wie hier - die Festnahme noch während der Dienstzeit der Behörde erfolgt, die Vorsorge zu verlangen, daß der Festgenommene nach Abschluß der vorhin erwähnten Maßnahmen unverzüglich der Behörde zwecks Durchführung der Strafverhandlung übergeben werden kann. So wäre es hier ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, daß die Gendarmeriebeamten der BH Bregenz die Festnahme der Beschwerdeführerin telefonisch avisiert hätten und ein Strafreferent der Behörde - erforderlichenfalls auch über den Dienstschluß hinaus - die Überstellung der Beschwerdeführerin abgewartet hätte (vgl. hiezu zB VfGH 3.12.1986 B930/85 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur zur Dauer der Haft).

Anhaltung der Beschwerdeführerin vom 16.4.1986, 17,00 Uhr bis 17.4.1986, 08,00 Uhr verstößt gegen §36 Abs1 VStG; Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit.

Umfang des Vorbehaltes zu Art5.

Zu den in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges gehört auch das Strafmittel des Arrestes, gleichgültig, für welche Verwaltungsübertretung die Arreststrafe im einzelnen in den Verwaltungsvorschriften (§10 Abs1 VStG) vorgesehen ist; ein Vorbehalt ausschließlich zugunsten der wenigen, in den Verwaltungsverfahrensgesetzen selbst (dh. tatbestandsmäßig) vorgesehenen Fälle der Verhängung von Freiheitsstrafen wäre sinnlos (siehe VfSlg. 3806/1960).

Der Vorbehalt deckt nicht bloß die Verhängung von Freiheitsstrafen, sondern auch jene von Geldstrafen durch Verwaltungsbehörden, gleichgültig, welche materiellen Verwaltungsvorschriften iS des §10 VStG den Tatbestand enthalten (vgl. zB VfSlg. 8234/1978, 10.291/1984).

Für alle diese Verfahren schließt der Vorbehalt auch die Anwendung des Art6 MRK aus (s. zB VfSlg. 5021/1965, 8234/1978, 8685/1979, 8930/1980, 10.291/1984; vgl. auch zB EKMR v 3.3.1983 Beschwerde Nr. 8998/1980, EuGRZ 1984, S 74 ff).

Der Vorbehalt umfaßt seinem Sinn nach zumindest auch jene Gesetze, die zwar nach Erklärung des Vorbehaltes erlassen wurden, die aber keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Abgabe des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (vgl. zB VfSlg. 8234/1978, 8428/1978, 10.291/1984).

Vom Vorbehalt sind daher Gesetze auch dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem 3.9.1958 erlassen wurden (s. zB VfSlg. 8234/1978, 10.291/1984; vgl. auch zB EKMR vom 3.3.1983, aaO).

Keine Bedenken (insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Art5 und 6 MRK) gegen die §§4 Abs1 und 18 Abs1 litc des Vbg. SittenpolizeiG (betreffend die Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht) (vgl. zB VfSlg. 8445/1978, 9253/1981, 9413/1982, 10.187/1984, 10.363/1985 und die dort jeweils zitierte weitere Vorjudikatur).

Die Beschwerdeführerin meint, das Vbg. SittenpolizeiG (kurz: SPG) sei deshalb verfassungswidrig, weil der von Österreich zu Art5 MRK erklärte Vorbehalt die im SPG vorgesehenen hohen Strafen, insbesondere die Freiheitsstrafen, nicht decke.

Zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes stand nach damaliger allgemeiner Auffassung §5 des Gesetzes RGBl. 1885/89 (im folgenden kurz: LandstreichereiG) in Kraft.

Die Rechtspraxis ging damals davon aus, daß §5 LandstreichereiG bestehendes Recht sei, das im Abs1 einen Verwaltungsstraftatbestand konstituiere; das Strafausmaß richte sich nach ArtVII EGVG 1950. Der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK wurde offenkundig unter der Voraussetzung abgegeben, daß unerwünschte Formen der Prostitution (auch) von Verwaltungsbehörden nach dem VStG 1950 zu bestrafen seien.

§5 Abs1 LandstreichereiG iVm ArtVII EGVG 1950 ist daher im gegebenen Zusammenhang als zum Zeitpunkt der Erklärung des Vorbehaltes geltende Verwaltungsstrafnorm anzusehen. §4 SPG ist eine systemimmanente Fortentwicklung dieser von Verwaltungsbehörden zu vollziehenden Strafbestimmung. §4 SPG ist also vom Vorbehalt gedeckt.

Daran ändert nicht, daß der Verfassungsgerichtshof in der Folge in dem in einem Beschwerdeverfahren ergangenen Erk. VfSlg. 7151/1973 die Meinung vertreten hat, §5 Abs1 LandstreichereiG stehe zu Art18 Abs1 B-VG in solchem Widerspruch, daß er nicht Eingang in die vom B-VG beherrschte Rechtsordnung gefunden habe.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Zuständigkeit, Verwaltungsverfahren, Berufung, Prostitution, Menschenrechtskonvention, Polizeirecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B491.1986

Dokumentnummer

JFR_10129383_86B00491_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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