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L1 GemeinderechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Nicht die Beschwerde nach Art144 B-VG, sondern der Individualantrag nach Art139, 140 B-VG ist der subsidiäre Rechtsbehelf; Bestellung provisorischer Gemeindeorgane für die neu geschaffene Gemeinde - implizite Feststellung, daß ua. der Bf. seine Funktion als Mitglied des Gemeinderates der aufgelösten Gemeinde verloren hat; normative Wirkung dieser Feststellung auch dann, wenn der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist; Zulässigkeit des Anlaßbeschwerdeverfahrens Nö. KommunalstrukturverbesserungsG 1971; Vereinigung der Gemeinden Stössing und Kasten war gleichheitswidrig; Vorhersehbarkeit der Unzweckmäßigkeit im Jahre 1971 aus geographischen Gründen; keine (besondere) Notwendigkeit, die - über ausreichende Infrastruktur verfügende - Gemeinde Stössing aufzulösen; keine Rechtfertigung für eine Gemeindevereinigung allein aus finanzausgleichrechtlichen Gründen; Feststellung, daß §3 Abs16 Z3 gleichheitswidrig warRechtssatz
Beschwerde eines Mitgliedes des Gemeinderates der ehemaligen Gemeinde Stössing gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 14.12.1971, mit dem (nach Vereinigung der Gemeinden Kasten und Stössing gemäß §3 Abs16 Z3 des Nö. KommunalstrukturverbesserungsG 1971) ein Regierungskommissär und Beiratsmitglieder zur Besorgung der unaufschiebbaren Geschäfte der neuen Gemeinde bestellt wurden.
Die Anlaßbeschwerde wurde rechtzeitig eingebracht (vgl. zB VfSlg. 9068/1981 und 9655/1983; VfGH 17.10.1985 B235/85).
Der Beschwerdeführer ist - entgegen der Meinung der Niederösterreichischen Landesregierung - beschwerdeberechtigt. Hiezu wird auf die bis ins Jahr 1972 zurückreichende Judikatur verwiesen (vgl. zB 8869/1980, 9793/1983 und 9819/1983 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung). Die dagegen von der Niederösterreichischen Landesregierung vorgebrachten Argumente vermögen nicht, den Verfassungsgerichtshof zu bewegen, von ihr abzurücken:
Nicht die Beschwerde nach Art144 B-VG, sondern der Individualantrag nach Art140 Abs1 letzter Satz B-VG ist der subsidiäre Rechtsbehelf. Der Schluß der Niederösterreichischen Landesregierung (, daß dem Beschwerdeführer die Beschwerdelegitimation fehle) ist daher verfehlt. Wenn nämlich ein Beschwerdeverfahren - wie hier - die Möglichkeit eröffnet, die Behauptung, ein Gesetz (etwa das KStrVG) sei verfassungswidrig, an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen, dann ist eben in aller Regel ein Individualantrag unzulässig; nicht aber bewirkt die Zulässigkeit eines Individualantrag die Unzulässigkeit einer Beschwerde.
Der im Anlaßverfahren bekämpfte Bescheid berührt die Rechtstellung des Beschwerdeführers jedenfalls insofern, als mit ihm explizit provisorische Gemeindeorgane (anstelle aller bisherigen Gemeindeorgane) bestellt wurden. Darin liegt die implizite Feststellung, daß ua. der Beschwerdeführer seine Funktion als Mitglied des Gemeinderates der aufgelösten Gemeinde Stössing verloren hat. Diese Feststellung hat auch dann normative Wirkung, wenn der Funktionsverlust bereits ex lege eingetreten ist. Es ist daher möglich, daß der Bescheid den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt, dies unabhängig davon, daß die neu geschaffene Gemeinde Kasten heißt.
Präjudizialität einer Bestimmung des Nö. KommunalstrukturverbesserungsG 1971 trotz Außerkrafttreten der Bestimmung gegeben.
Zu den den im Anlaßbeschwerdeverfahren bekämpften Bescheid tragenden Vorschriften gehört insbesondere §3 Abs16 Z3 KStrVG.
An der Präjudizialität dieser landesgesetzlichen Bestimmung ändert das mit 1.12.1978 in Kraft getretene Landesgesetz über die Gliederung des Landes Niederösterreich in Gemeinden (Stammfassung: LGBl. 1030-0) nichts, in dem - anknüpfend an die bestehende Gemeindestruktur - festgestellt wird, in welche Gemeinden sich das Land Niederösterreich gliedert. Ebensowenig ändert daran etwas der ArtII Z18 des Nö. Landesgesetzes vom 9.7.1981, LGBl. 1030-7 (ausgegeben am 8.10.1981, Jahrgang 1981, 119. Stück), womit das Nö. KStrVG 1971, LGBl. Nr. 264, idF LGBl. Nr. 1450-2, 1450-3, 1450-4 und 1450-5, aufgehoben wird. Für die Beurteilung des angefochtenen Bescheides ist im gegebenen Zusammenhang nämlich nur wesentlich, ob die ihn tragende Bestimmung des KStrVG verfassungsmäßig war (vgl. zB VfSlg. 9819/1983).
In seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung (s. zB VfGH 17.10.1985 B235/85 und die dort enthaltenen weiteren Judikaturhinweise) in ähnlich gelagerten Fällen hat der Verfassungsgerichtshof dargetan, daß bei Klärung der Frage, ob das KStrVG 1971 verfassungswidrig ist (oder war), ausschließlich der Zeitpunkt seiner Erlassung maßgebend ist. Dieser Vorjudikatur zufolge hat der Verfassungsgerichtshof also auch heute nur zu untersuchen, ob die im Jahre 1971 vom Gesetzgeber angeordnete Gemeindezusammenlegung sachlich gerechtfertigt war. Der Gesetzgeber mußte damals die zukünftige Entwicklung, so insbesondere die Folgen der Gemeindevereinigung abschätzen. Bei Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof, ob diese Prognoseentscheidung vor dem Gleichheitsgebot bestehen kann, ist also auf das Jahr 1971 zurückzublicken, sohin nur auf jene Auswirkungen der Gemeindevereinigung abzustellen, die seinerzeit vom Gesetzgeber bei Abwägung aller maßgebenden Umstände erwartet werden durften. Die tatsächliche Entwicklung kann allenfalls eines der Hilfskriterien bei Lösung der Frage sein, ob die damals getroffene Prognose vertretbar war oder nicht.
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine gesetzlich angeordnete Änderung der Gemeindestruktur vor dem Gleichheitsgrundsatz bestehen kann, hat der Verfassungsgerichtshof in der erwähnten bisherigen Rechtsprechung grundsätzlich ausgeführt, daß die Zusammenlegung einer Kleingemeinde von weniger als 1.000 Einwohnern mit einer anderen Gemeinde in der Regel sachlich ist. Die Prognose, daß durch Schaffung größerer Gemeinden im allgemeinen die Gemeindestruktur in Zukunft verbessert wird, ist jedenfalls im Jahre 1971 begründet gewesen. Ob dies auch heute noch (uneingeschränkt) zutrifft, muß nach dem vorhin Gesagten unerörtert bleiben.
Ausnahmen vom Grundsatz, daß die Auflösung einer Kleingemeinde sachlich begründet war, haben sich in jenen Fällen ergeben, in denen die Zusammenlegung einer Kleingemeinde - mit welcher anderen Gemeinde immer - auf Grund ganz besonderer Umstände vorhersehbarerweise völlig untauglich war, das angestrebte Ziel einer Kommunalstrukturverbesserung zu erreichen (wie etwa im Fall Alberndorf - VfSlg. 8108/1977, S 526 f, im Fall Hirschbach - VfSlg. 9793/1983, S 112 ff und im Fall Raach - VfSlg. 9819/1983, S 215 ff); ferner in einem Fall, in dem eine Gemeinde mit räumlich nicht geschlossenem Gemeindegebiet neu geschaffen wurde, obgleich nicht ganz besondere Umstände dazu zwangen (s. VfSlg. 9814/1983, S 194; Fall Hollern) und in einem Fall, in dem die Zusammenlegung der Kleingemeinde mit einer bestimmten anderen Gemeinde oder ihre Aufteilung auf mehrere bestimmte andere Gemeinden (s. VfSlg. 9068/1981, Fall Gerersdorf) - beispielsweise aus geographischen Gründen unter Bedachtnahme auf das Bestehen öffentlicher Verkehrsverbindungen - voraussehbarerweise extrem unzweckmäßiger war als eine andere denkbare Zusammenlegung oder Aufteilung oder auch das Belassen der Gemeinde.
Der Verfassungsgerichtshof hat ferner in ständiger Rechtsprechung (s. auch hiezu zB VfGH 17.10.1985 B235/85 und die dort angeführte weitere Judikatur) dargetan, daß die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit von Strukturänderungsmaßnahmen jeder Art von einer Vielzahl von Umständen abhängig ist. So gut wie niemals ist eine Situation so beschaffen, daß ausnahmslos alle in Ansehung einer bestimmten Maßnahme erheblichen Umstände für diese Maßnahme sprächen; immer liegen im Einzelfall auch Umstände vor, an denen gemessen sie nicht erforderlich, ja vielleicht sogar unzweckmäßig ist. Auch jede Änderung der Gemeindestruktur bewirkt deshalb - und zwar besonders für die unmittelbar davon Betroffenen - nicht nur Vorteile; es wird sich manches überhaupt nicht und manches sogar zum Nachteil ändern, dies oft allerdings nur vorübergehend. Das ist unvermeidlich und macht deshalb eine solche Maßnahme an sich noch nicht unsachlich.
§3 Abs16 Z3 des Nö. KommunalstrukturverbesserungsG 1971, Nö. LGBl. Nr. 264, war verfassungswidrig.
Vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Judikatur zum Nö. KStVG steht fest, daß die Zusammenlegung der Gemeinden Stössing und Kasten insgesamt gesehen keine Verbesserung der Gemeindestruktur mit sich brachte und daß dies vom Gesetzgeber des Jahres 1971 vorhergesehen werden konnte, daß also diese Maßnahme unsachlich war (vgl. zB VfSlg. 9819/1983):
(Die wesentlichen Erwägungen des Gerichtshofes werden im folgenden in komprimierter Form wiedergegeben):
Beide Gemeindeen waren im Jahre 1971 durchaus lebensfähig. Sie verfügten über eine ausreichende Infrastruktur.
Es gab keinen naheliegenden Grund, Stössing gerade mit Kasten zu vereinigen. Die Entfernung vom Ortszentrum Stössing zum Ortszentrum Kasten (wo sich das Gemeindeamt der nun vereinten Gemeinde befindet) beträgt etwa 6 Straßenkilometer.
Die gegebene geographische Situation stand - ähnlich wie im Fall Raach (VfSlg. 9819/1983) - jeglicher Verflechtung der vereinigten Gemeinde entgegen und verhinderte die Entwicklung eines für funktionierende Gemeinden wesentlichen Zusammengehörigkeitsgefühles zwischen den Bewohnern der einzelnen Ortsteile.
Anhaltender Widerstand der Bevölkerung seit 1971 gegen die Gemeindevereinigung (eine im Jahre 1985 im Gebiet der ehemaligen Ortsgemeinde Stössing durchgeführte, nicht amtliche Befragung der Bevölkerung ergab eine Mehrheit von 90 % der Befragten für eine Trennung in die ursprünglichen Gemeinden).
Der allgemeine anhaltende Widerstand der Bevölkerung ist zumindest ein Indiz dafür, daß die Gemeindevereinigung unsachlich war (vgl. VfSlg. 8108/1977, betreffend Alberndorf, und VfSlg. 9793/1983, betreffend Hirschbach/Kirchberg). Entgegen der von der Niederösterreichischen Landesregierung in ihrer Äußerung vertretenen Ansicht ist es verfehlt, eine Gemeindestrukturverbesserung (allein) damit zu rechtfertigen, daß damit die nach dem FinanzausgleichsG den Gemeinden insgesamt zukommenden Ertragsanteile anders verteilt werden, daß also das, was die eine Gemeinde gewinnt, den anderen Gemeinden genommen wird. Die möglicherweise durch die Gemeindezusammenlegung eingetretene Stärkung der Finanzkraft vermag sohin die durch die Vereinigung insgesamt eingetretenen Nachteile nicht annähernd aufzuwiegen (vgl. zB VfSlg. 9819/1983, das einen ähnlich gelagerten Fall - Trattenbach, Ottenthal, Raach - betrifft, sowie 9068/1981).
Eine Zusammenschau aller maßgebenden Umstände zeigt, daß die Gemeindevereinigung, wie sie im Jahre 1971 verfügt wurde, zahlreiche Nachteile und keine nennenswerten Vorteile für die Bevölkerung von Kasten und Stössing bewirkt hat. Dies war für den Gesetzgeber des Jahres 1971 prognostizierbar; es war für ihn die dann tatsächlich eingetretene (negative) Entwicklung vorhersehbar. Die Gemeindezusammenlegung kann daher sachlich nicht gerechtfertigt werden. §3 Abs16 Z3 KStrVG 1971 widerspricht sohin dem Gleichheitsgebot.
Der allgemeine anhaltende Widerstand der Bevölkerung ist zumindest ein Indiz dafür, daß die Gemeindevereinigung unsachlich war (vgl. VfSlg. 8108/1977, betreffend Alberndorf, und VfSlg. 9793/1983, betreffend Hirschbach/Kirchberg).
Die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung ist bereits außer Kraft getreten. Der Verfassungsgerichtshof hatte daher gemäß Art140 Abs4 B-VG auszusprechen, daß §3 Abs16 Z3 KStrVG verfassungswidrig war.
Bei einer solchen Feststellung kommt eine - von der Niederösterreichischen Landesregierung beantragte - Bestimmung einer Frist iSd Art140 Abs5 vorletzter und letzter Satz B-VG nicht in Betracht.
Schlagworte
VfGH / Fristen, Gemeinderecht Zusammenlegung, VfGH / Legitimation, VfGH / Individualantrag, VfGH / Präjudizialität, Finanzverfassung, FinanzausgleichEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:G22.1987Dokumentnummer
JFR_10129383_87G00022_01