RS Vfgh 1987/10/2 G164/86

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 02.10.1987
beobachten
merken

Index

66 Sozialversicherung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs4
NotarversicherungsG 1972
FSVG §2
B-KUVG §56 Abs9

Leitsatz

Frage ob eine in Prüfung gezogene anwendbare Norm noch in Kraft steht - keine Zulässigkeitsfrage, sondern Frage der Sachentscheidung Ausnahme von Rechtsanwälten von der Anspruchsberechtigung auf Leistungen aus der Krankenversicherung ihres Ehegatten als öffentlich Bediensteter, obwohl sie keinen Krankenversicherungsschutz durch eine Sozialversicherung genießen - darauf zurückzuführen, daß die gesetzliche berufliche Vertretung der Rechtsanwälte keinen Gebrauch von der Möglichkeit einer diesbezüglichen Antragstellung Gebrauch gemacht hat; Unterscheidung nach der durchschnittlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der betroffenen Personengruppe bei Abgrenzung der Versicherungspflichtigen und Festlegung der Leistungsvoraussetzungen sowie verwaltungsökonomische Überlegungen nicht unsachlich; kein Verstoß der Wendung "Abs2 Z1 und" in §56 Abs9 gegen den Gleichheitsgrundsatz

Rechtssatz

Es ist nichts hervorgekommen, was daran zweifeln ließe, daß das OLG Wien als zur Entscheidung zweiter Instanz berufenes Gericht §56 Abs9 B-KUVG anzuwenden hätte. Die Unstimmigkeit in der Formulierung des Antrages steht einer Erledigung der Sache nicht entgegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist die Frage, ob eine anwendbare Norm, deren Verfassungsmäßigkeit zur Prüfung gestellt wird, noch in Kraft steht oder bereits außer Kraft getreten ist, keine Frage der Zulässigkeit des Antrages, sondern eine solche der Sachentscheidung, die der Gerichtshof an der jeweiligen Situation auszurichten hat (vgl. VfSlg. 8871/1980 und die dort zitierte Vorjudikatur).

Das antragstellende Gericht hat nur über die Frage zu entscheiden, ob der in Abs2 Z1 des §56 genannten Ehefrau eines Versicherten Leistungen gebühren, nicht aber über die Ansprüche sonstiger Angehöriger, eines geschiedenen Ehegatten oder der Eltern, deren Rechtsstellung in den Abs6 bis 8 des §56 B-KUVG behandelt wird. Da die angegriffene Bestimmung mit der Formulierung "Die im Abs2 Z1 und Abs6 bis 8 genannten Personen..." beide Fälle getrennt regelt und eine bloße Aufhebung der Wendung "Abs2 Z1 und" den zweiten Fall unberührt läßt - während die Belassung des keinesfalls anwendbaren Hinweises auf Abs6 bis 8 für sich allein sinnlos wäre -, kann der Antrag unter dem Blickwinkel der vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken nur bezüglich der Worte "Abs2 Z1 und" zulässig sein (vgl. für einen ähnlich gelagerten Fall VfSlg. 9936/1984).

Der Gesetzgeber darf bei der Abgrenzung des Personenkreises der Versicherungspflichtigen wie auch bei Festlegung der Leistungsvoraussetzungen nach der - durchschnittlichen - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der betroffenen Personengruppen unterscheiden (VfSlg. 2841/1955 S 185, 3745/1960 S 261, 5356/1966 S 527, 6332/1970 S 871, 7117/1973 S 25, 9753/1983 S 606, 10030/1984 S 417). Der Gleichheitsgrundsatz verbietet es (vgl. etwa VfSlg. 4289/1962, 8457/1978, 8871/1980) dem Gesetzgeber nicht, bei der Normsetzung zu generalisieren, von einer auf den Modellfall (Regelfall) abstellenden Durchschnittsbetrachtung auszugehen und bei seinen Regelungen zu typisieren. Dabei können im besonderen auch Erfordernisse der Verwaltungsökonomie motivierend zum Tragen kommen (vgl. zB VfSlg. 8204/1977, 8875/1980). Es kann daher grundsätzlich auch kein Einwand dagegen erhoben werden, wenn der Gesetzgeber - anders als noch die Regierungsvorlage - zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten Ansprüche der Angehörigen vom Versicherten nicht danach bestimmt hat, ob der einzelne Angehörige ein Bedürfnis nach sozialem Krankenversicherungsschutz hat (sich nicht "aufgrund eigener Einkünfte den Krankenversicherungsschutz selbst verschaffen kann"), sondern ob ein solches Bedürfnis in jener Gruppe freiberuflich selbständig Erwerbstätiger besteht, welcher er nach der von ihm ausgeübten Tätigkeit zugehört.

Der Gesetzgeber darf dem Umstand Bedeutung zumessen, daß eine Berufsgruppe bisher eine Einbeziehung in die Pflichtversicherung abgelehnt hat (VfSlg. 5356/1966, 7117/1973 und der Sache nach auch 9753/1983). Tatsächlich ist bei Selbständigen zum Teil ein Widerstand gegen die Einbeziehung in das System der Sozialversicherung zu erkennen (vgl. VfSlg. 9753/1983). Eben dieser Umstand hat den Gesetzgeber im BG über die Sozialversicherung freiberuflich selbständig Erwerbstätiger (FSVG) veranlaßt, die Begründung der Pflichtversicherung von einem Antrag der für die Berufsgruppe in Betracht kommenden beruflichen Vertretung abhängig zu machen. Wenn daher die angegriffene Vorschrift im Ergebnis Rechtsanwälte von Leistungen aus der Krankenversicherung ihres Ehegatten als öffentlich Bediensteter ausschließt, obwohl diese keinen Krankenversicherungsschutz durch eine Sozialversicherung genießen, so liegt das nicht am Gesetzgeber, der die Möglichkeit der Krankenversicherung geschaffen hat, sondern an der Berufsgruppe selbst, die von der durch den Gesetzgeber geschaffenen Möglichkeit keinen Gebrauch macht und damit zum Ausdruck bringt, daß ihre Angehörigen nach ihrer durchschnittlichen Leistungsfähigkeit sich "den Krankenversicherungsschutz selbst verschaffen können". Dabei ist es von Bedeutung, daß die gesetzliche berufliche Vertretung, von deren Antrag eine Einbeziehung auch der Rechtsanwälte in das Pflichtversicherungssystem abhängt, als Selbstverwaltungskörper mit obligatorischer Mitgliedschaft und demokratischer Organisation eingerichtet ist, so daß dem einzelnen Mitglied im Rahmen der repräsentativ-demokratisch organisierten Willensbildung auch die Möglichkeit gegeben ist, die Haltung der Berufsgruppe zu beeinflussen.

Ist es aber sachlich, auch die nicht verwirklichte Möglichkeit der Einbeziehung einer Berufsgruppe in eine gesetzliche Sozialversicherung zum Kriterium des Ausschlusses von Leistungen an Mitglieder dieser Berufsgruppe in ihrer Eigenschaft als Angehörige eines Versicherten zu machen - und genau das ist ja angesichts der schon in §56 Abs1 enthaltenen Einschränkung die besondere Zielsetzung des Abs9 -, so ist es auch sachlich, wenn freiberuflich selbständig Erwerbstätigen, die eine solche Möglichkeit nicht haben, solche Leistungen gewährt werden, ohne daß für jede einzelne der in Betracht kommenden Berufsgruppen geprüft werden müßte, ob sie nicht gleichfalls in der Lage wäre, sich "den Krankenversicherungsschutz selbst zu verschaffen". Der Gesetzgeber ist nicht verhalten, sich gerade bei der Frage der Leistungsberechtigung von Angehörigen umfassend darüber Rechenschaft zu geben, warum Gruppen von Personen nicht in die gesetzliche Sozialversicherung einbezogen worden sind.

Keine Gleichheitsbedenken gegen die Wendung "Abs2 Z1 und" in §56 Abs9 B-KUVG, nach der ein Anspruch des selbständig erwerbstätigen Ehegatten nach B-KUVG nicht besteht, wenn dieser einer der in §2 Abs1 FSVG genannten Berufsgruppen angehört; Pflichtversicherung nach FSVG wird gemäß §2 Abs2 leg.cit. durch Verordnung des BMSV über Antrag der gesetzlichen Berufsvertretung begründet.

Klägerin im Verfahren vor dem antragstellenden Gericht ist Rechtsanwalt (fällt unter §2 Abs1 FSVG);

Rechtsanwalt-Kammertag stellte bisher keinen Antrag.

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, daß es Gruppen feiberuflich Erwerbstätiger geben wird, deren durchschnittliches Einkommen sie in die gleiche Lage versetzt, in der sich Ärzte, Rechtsanwälte oder Apotheker (Berufsgruppen des §2 Abs1 FSVG) befinden. Er hält es sogar für offenkundig, daß die im Verhältnis zu anderen Berufen leicht gesetzlich erfaßbare Gruppe der Notare, die (zusammen mit den Notariatskandidaten) nach dem NotarversicherungsG, BGBl. 1972/66, lediglich pensions-, nicht aber krankenversichert sind, auf Leistungen als Angehörige öffentlich Bediensteter ebensowenig angewiesen sind wie die Rechtsanwälte. Auf sie mußte der Gesetzgeber aber schon deshalb nicht durch eine zusätzliche, allfällige Vorteile beseitigende Vorschrift Bedacht nehmen, weil der Fall, daß der Ehegatte eines Notars im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, so selten sein wird, daß er praktisch vernachlässigt werden kann.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Sachentscheidung, Sozialversicherung, Selbstverwaltung, berufliche Vertretungen, Rechtsanwaltskammer, Rechtsanwälte, Ehe und Verwandtschaft, Krankenversicherung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G164.1986

Dokumentnummer

JFR_10128998_86G00164_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten