RS Vfgh 1987/10/8 G47/87

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Veröffentlicht am 08.10.1987
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61 Familienförderung, Jugendfürsorge
61/04 Jugendfürsorge

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
JWG §26 Abs2

Leitsatz

Zur Entwicklung des Rechtsinsituts "Vormundschaft"; vorläufige Maßnahmen der Erziehungshilfe (Zwangsausübung) durch die Bezirksverwaltungsbehörde als Vormund oder gesetzlicher Amtskurator (unter nachfolgender Genehmigung des Gerichts) - besonderer Bereich staatlicher Tätigkeit auf privatrechtlichem Gebiet; gewisse hoheitliche Befugnisse des Amtsvormundes ändern nichts an der grundsätzlich privatrechtlichen Stellung; kein Widerspruch des §26 Abs2 JWG zum Gebot der Trennung von Justiz und Verwaltung

Rechtssatz

Amtswegige Prüfung des §26 Abs2 JWG.

Im Anlaßbeschwerdeverfahren wird der Gerichtshof zunächst zu klären haben, ob die Beschwerde gegen die Abnahme und Unterbringung der Kinder zulässig ist. Dabei wird zu prüfen sein, ob es sich bei dieser Maßnahme um die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt handelt. Dafür ist es wiederum von Bedeutung, welche Aufgabe §26 Abs2 JWG den Gerichten überträgt. Diese Bestimmung wäre daher bei Erledigung der Beschwerde insgesamt anzuwenden.

Keine Aufhebung des §26 Abs2 JWG (Zwangsmaßnahmen der Bezirksverwaltungsbehörde).

Entgegen dem in VfSlg. 9152/1981 eingenommenen, damals allerdings nicht zum Tragen gekommenen Standpunkt gelangt der Gerichtshof bei abermaliger Prüfung der Rechts- und Verfassungslage zum Ergebnis, daß die Bezirksverwaltungsbehörde nach §26 Abs2 JWG auch ohne Deckung durch einen Gerichtsbeschluß als Vormund oder gesetzlicher Amtskurator im Bereich des Privatrechts einschreitet und dieses Einschreiten nur vor dem Vormundschaftsgericht, nicht aber vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes zu verantworten hat.

Damit erweist sich die Prämisse der im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken als nicht zutreffend. §26 Abs2 JWG sieht keine hoheitliche Maßnahme vor, deren Kontrolle unter Verstoß gegen den Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung den Gerichten zugewiesen wäre.

Der Verfassungsgerichtshof pflichtet der Schlußfolgerung der Bundesregierung bei, daß die Absicht des Gesetzgebers auf die Regelung einer Tätigkeit im Bereich des Privatrechts gerichtet war und die getroffene Regelung dieser Absicht auch voll entspricht. Sie ist auch in der familienrechtlichen Literatur so verstanden worden (vgl. Wentzel-Piegler bei Klang2, Kommentar zum ABGB I/2, 1962, 354).

Die entscheidende Frage des vorliegenden Verfahrens geht freilich nach der verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit dieser Vorgangsweise des Gesetzgebers. Ist doch die Abnahme von Kindern und ihre anderweitige Unterbringung gegen den Willen der Erziehungsberechtigten offenkundig die Ausübung von Zwang und die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt geradezu das Kennzeichen hoheitlicher Tätigkeit. Es kann aber nicht im Belieben des Gesetzgebers stehen, Zwangsakte von Verwaltungsbehörden einfach zu privatrechtlichen Tätigkeiten zu erklären und so das Verbot der Trennung von Justiz und Verwaltung zu unterlaufen.

Indessen ist die Ausübung unmittelbaren Zwanges auch dem Privatrecht nicht ganz fremd. ... (es folgen Beispiele aus dem AGBG).

Zweifelhaft ist die Zulässigkeit der privatrechtlichen

Einkleidung dieser Zwangsausübung nur deshalb, weil hier der

Verwaltungsbehörde selbst die Aufgaben eines Vormundes (Kurators)

übertragen sind. Das ist aber schon im Zeitpunkt des

Inkrafttretens der Bundesverfassung als Fortentwicklung des

Privatrechts verstanden worden: ... (Darstellung dieser

Auffassung an Hand von Literatur und I. Teil-Novelle zum ABGB)

... Insbesondere scheint es dem Verfassungsgerichtshof überaus

naheliegend, die Amtsvormundschaft (Amtskuratel) derselben Art der Kontrolle zu unterwerfen, wie die Vormundschaft sonst. Es wäre nämlich höchst unzweckmäßig, die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts einzig und allein deshalb, weil staatliche Organe an die Stelle sonst privater Sachwalter getreten sind, zur Ausübung jener Kontrolle zu berufen, die sonst dem Vormundschaftsgericht obliegt. Daß der Gesetzgeber dem Staat die Rolle des privaten Sachwalters zuweist und ihn damit grundsätzlich auf die Möglichkeit der Antragstellung bei Gericht beschränkt (§§21 und 26 Abs3 JWG), muß daher als folgerichtige, sachlich gerechtfertigte Entwicklung verstanden werden, der nicht der Vorwurf mißbräuchlicher Gestaltung gemacht werden kann.

Daß der Amtsvormund (Amtskurator) ungeachtet seiner privatrechtlichen Stellung auch noch mit gewissen hoheitlichen Befugnissen ausgestattet ist, ändert nicht nur - wie die Bundesregierung treffend bemerkt - nichts an seiner grundsätzlich privatrechtlichen Stellung, sondern zwingt den Gesetzgeber auch nicht, seine Tätigkeit insgesamt im Bereich der Hoheitsverwaltung anzusiedeln. Der österreichischen Rechtsordnung ist die Erscheinung, daß dasselbe staatliche Organ im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung auftritt, das im Rahmen der Hoheitsverwaltung zur Entscheidung berufen ist, nicht fremd.

Es steht einer privatrechtlichen Einordnung aber auch nicht im Wege, daß gerade die in Prüfung stehende Maßnahme nur der Bezirksverwaltungsbehörde, nicht aber sonstigen Vormündern oder Kuratoren eingeräumt ist. Das Privatrecht kennt eben vorläufige Maßnahmen dieser Art in Gestalt der Selbsthilferechte, und die Beschränkung auf die Behörde ergibt sich hier aus der Natur der Sache, weil zur Gewährung von Erziehungshilfe iSd Gesetzes allein sie in Betracht kommt; es ist daher nur geboten, ihr die eigenmächtige Inangriffnahme der Maßnahme bei Gefahr im Verzug zu gestatten. Diese wird deshalb nicht zur Ausübung hoheitlicher Zwangsgewalt. Daß der Bezirksverwaltungsbehörde zur Durchsetzung ihrer Maßnahme eine vergleichsweise stärkere Macht zur Verfügung steht, verschlägt nichts. Sofern sie sich der Organe der öffentlichen Aufsicht bedient, gilt für deren Einschreiten ohnehin nichts anderes als für ihre Mitwirkung bei ähnlichen Maßnahmen der Eltern nach §146b ABGB. Wenn Bartsch (bei Klang, Kommentar zum ABGB1 I, 1933, 1012 Z3) ausführt, es könne "außerdem ... Abhilfe mit den Mitteln des Verwaltungsrechts im Instanzenzug gesucht und wegen Verletzung subjektiver Rechte nach Erschöpfung des Instanzenzuges Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof erhoben werden", so kann das nur auf jenen Teil der Tätigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde bezogen werden, der mit hoheitlichen Mitteln besorgt wird. Die in Prüfung gezogene Vorschrift enthält selbst eine Ermächtigung zum hoheitlichen Einschreiten jedenfalls nicht.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Jugendfürsorge, Gerichtsbarkeit Trennung von der Verwaltung, Zivilrecht, Vormundschaftsrecht, Kindschaftsrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G47.1987

Dokumentnummer

JFR_10128992_87G00047_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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