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90 Straßenverkehrsrecht, KraftfahrrechtNorm
B-VG Art11 Abs1 Z4Leitsatz
StVO 1960 idF d. 6. Nov. BGBl. 412/1976; Verordnungsermächtigung für Geschwindigkeitsbeschränkungen "zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen" in §20 Abs3 - Ermächtigung zu Geschwindigkeitsbeschränkungen für alle denkbaren Untersuchungen, die für rechtspolitische Vorhaben im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr von Bedeutung sein können; erst wenn sich nach Heranziehung sämtlicher Interpretationsmethoden nicht beurteilen läßt, wozu das Gesetz die Verwaltungsbehörde ermächtigt, verletzt die Regelung den Art18 B-VG; der Gesetzgeber hat Vorhaben dieser Tragweite entweder selbst zu bestimmen oder doch im Gesetz in ihren wesentlichen Zügen derart zu umschreiben oder auf andere Weise einzugrenzen, daß die Behörde nicht Art und Ausmaß des Versuches zulasten der Teilnehmer am Straßenverkehr frei bestimmen kann; hier kann die Regelung nicht in einer Weise ausgelegt werden, die eine Überprüfung des Verhaltens der Behörde ermöglicht. Verordnungsermächtigung in §20 Abs3 nicht hinreichend bestimmt iSd Art18 B-VG V des BM für öffentliche Wirtschaft und Verkehr vom 30.8.1985, BGBl. 366/1985 (betr. Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Rheintalautobahn A 14); die Verfassungswidrigkeit der tragenden Gesetzesbestimmung hat die Gesetzwidrigkeit der V zur Folge; Feststellung, daß die V gesetzwidrig warRechtssatz
Nach Art18 Abs1 B-VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. Bereits im Gesetz müssen die wesentlichen Voraussetzungen und Inhalte des behördlichen Handelns umschrieben sein. Bei Ermittlung des Inhaltes einer gesetzlichen Regelung sind freilich - soweit nötig - alle der Auslegung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen. Erst wenn auch nach Heranziehung sämtlicher Interpretationsmethoden noch nicht beurteilt werden kann, wozu das Gesetz die Verwaltungsbehörde ermächtigt, verletzt die Regelung die in Art18 B-VG enthaltenen rechtsstaatlichen Erfordernisse (vgl. VfSlg. 8395/1978 und die dort genannte Vorjudikatur).
Aufhebung der Wortfolge "Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder" in §20 Abs3 StVO 1960 idF der 6. Novelle, BGBl. 412/1976, (betreffend Geschwindigkeitsbeschränkungen zum Zweck nicht näher bezeichneter wissenschaftlicher Untersuchungen) wegen Verstoßes gegen Art18 Abs2 B-VG.
Der Wortlaut des Gesetzes läßt völlig offen, von wem und zu welchem Zweck jene "wissenschaftlichen" - und das heißt hier wohl nur: fachgerecht vorbereiteten - Untersuchungen durchgeführt werden können, welche die vorgesehene Geschwindigkeitsbeschränkung rechtfertigen sollen. In den anderen Fällen umschreibt das Gesetz die Zwecke, zu welchen Verkehrsbeschränkungen erlassen werden dürfen, für jede Maßnahme besonders: ... (es folgen Beispiele aus §43 StVO). In auffälligem Gegensatz dazu läßt die in Prüfung gezogene Wortfolge jede Bezugnahme auf irgendwelche Angelegenheiten des Straßenverkehrs vermissen.
Aus dem systematischen Zusammenhang läßt sich dem Mangel jeglicher Bezugnahme auf irgendwelche Angelegenheiten des Straßenverkehrs nicht begegnen. §20 StVO beschäftigt sich ganz allgemein mit der Fahrgeschwindigkeit, die der Lenker eines Fahrzeuges nach Abs1 den Umständen anzupassen und in den in Abs2 vorgeschriebenen Grenzen zu halten hat, soweit nicht die in §43 Abs1 oder 4 zugelassenen Vorschriften abweichendes anordnen. Auch innerhalb des Abs3 ist nur noch von der Bedachtnahme "auf die Verkehrssicherheit" und vom "Zweck der Maßnahme" die Rede; da die Verkehrssicherheit aber offenkundig nur Zweck der Geschwindigkeitsbeschränkung während der Zeit besonderer Verkehrsdichte ist, bleibt für die in Prüfung stehende Wortfolge wieder nur der vage Ausdruck "Zweck der Maßnahme", der offenbar auf jeden beliebigen Zweck abstellt und eine Beschränkung auf bestimmte Ziele nach Art der übrigen Vorschriften des Gesetzes ganz bewußt vermeidet. In systematischer Hinsicht stellt die in Prüfung gezogene Wortfolge insgesamt einen Fremdkörper im Gefüge des normativen Umfeldes dar, in welchem sich §20 findet, sodaß es für deren Auslegung keinen Anhaltspunkt bieten kann.
Der Bericht des Verkehrsausschusses des Nationalrates nennt zwar Beispiele für wissenschaftliche Untersuchungen, die "insbesondere" in Betracht kommen sollen ("auf dem Gebiet des Straßenbaus, der Verkehrstechnik und der Verkehrspsychologie"), doch läßt sich aus diesen Beispielen keine wie immer geartete Begrenzung ableiten. Daß sie nicht abschließend gemeint sind, bedarf keiner weiteren Begründung; als allen drei Fällen gemeinsames Merkmal könnte höchstens der unmittelbare Bezug der Untersuchung zu Fragen in Betracht kommen, die für die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs von Bedeutung sind, doch verbietet sich eine Einschränkung auf Zwecke dieser Art schon deshalb, weil im Hinblick auf die in der Öffentlichkeit schon lange erörterten - umstrittenen - mittelbaren Einflüsse des Verkehrs auf die Umwelt ("Waldsterben") nicht angenommen werden kann, daß der Umweltschutz als Ziel einer solchen Maßnahme außer Betracht bleiben sollte. Es wäre weltfremd zu unterstellen, daß gerade jene Maßnahmen nicht im Blickfeld des Gesetzgebers gelegen sein sollten, die dann als erste unter Berufung auf die in Prüfung stehende Wortfolge in Angriff genommen worden sind.
Der Zweck der novellierten Bestimmung geht also über Untersuchungen zur Vermeidung bestimmter Gefahren für den Straßenverkehr hinaus. Es bliebe danach als Grenze die Selbstverständlichkeit, daß die Untersuchung irgend etwas mit dem Straßenverkehr zu tun haben muß, dieser Verkehr also nicht nur irgend einer (beliebigen) wissenschaftlichen Untersuchung im Weg stehen darf.
Die Meinung der Bundesregierung läuft darauf hinaus, aus dem Gesamtzweck des Gesetzes eine Begrenzung abzuleiten, die sich mit dem Inhalt des Kompetenztatbestandes Straßenverkehr deckt ("... in kompetenzkonformer Weise", "... Regelung des Straßenverkehrs"). In der Tat könnte die Notwendigkeit, Normen im Zweifel verfassungskonform auszulegen, einen solchen Rückgriff auf die zugrundeliegende Kompetenz an sich rechtfertigen. Doch hält der Gerichtshof eine dermaßen weitgehende Ermächtigung zu Eingriffen der in Rede stehenden Art bereits für zu unbestimmt. Die zunehmende Notwendigkeit, Interessen des Verkehrs gegen andere Interessen - insbesondere der Wirtschaft und der Umwelt - abzuwägen, würde nämlich allen Untersuchungen, deren Ergebnisse irgendwelche Auswirkungen auf die Regelung des Straßenverkehrs haben könnten (und eine Geschwindigkeitsbeschränkung nahelegen), Tür und Tor öffnen.
Entscheidend fällt dabei ins Gewicht, daß Vorschriften darüber, in welchem Rahmen und für welche Zwecke nun solche Untersuchungen tatsächlich durchgeführt oder gefördert werden sollen, auch sonst nirgends vorhanden sind, weil Akte dieser Art in das Vorfeld der Gesetzgebung und Vollziehung fallen und hoheitliche Eingriffe für sie typischerweise nicht in Betracht kommen. Sie entziehen sich deshalb der gesetzlichen Vorherbestimmung gewöhnlich ganz. Was und wann zur Gewinnung besserer Einsichten für rechtspolitische Vorhaben untersucht werden soll, ist keiner vom Gesetzgeber erlassenen Norm zu entnehmen. Das Fehlen solcher Normen macht sich aber dann bemerkbar, wenn ausnahmsweise hoheitliche Eingriffe vorgesehen sind. Das ist hier der Fall; es kann sogar zu sehr einschneidenden Maßnahmen mit beträchtlichen Auswirkungen und auch von längerer Dauer kommen.
In §20 Abs3 der StVO 1960, BGBl. Nr. 159, idF der 6. Novelle, BGBl. 412/1976, wird die Wortfolge "Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder" als verfassungswidrig aufgehoben.
Die der Verwaltungsbehörde mit der 6. Novelle zur StVO eingeräumte Möglichkeit, Geschwindigkeitsbeschränkungen für alle denkbaren Untersuchungen zu erlassen, die für rechtspolitische Vorhaben im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr von Bedeutung sein können, schließt es aus, das behördliche Handeln auf seine Übereinstimmung mit einer Entscheidung des Gesetzgebers zu überprüfen, und beschränkt die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts - ganz wie bei Akten der Gesetzgebung - auf ein Urteil über die Sachlichkeit der Maßnahme. Der Verfassungsgerichtshof kommt daher zur Auffassung, daß der Gesetzgeber Vorhaben dieser Tragweite entweder selbst bestimmen oder doch im Gesetz in ihren wesentlichen Zügen derart umschreiben oder auf andere Weise eingrenzen muß, daß die Behörde nicht Art und Ausmaß des Versuches zulasten der Teilnehmer am Straßenverkehr frei bestimmen kann. Die Verantwortung darf nicht in solchem Maße der Verwaltung überlassen bleiben (im gleichen Sinn zB VfSlg. 5175/1965 und 9261/1981 zu Fragen der Haftpflicht-Versicherungsbedingungen).
Die in Prüfung gezogene Wortfolge in §20 Abs3 StVO ist daher schon wegen Verstoßes gegen Art18 B-VG aufzuheben.
Die Verordnung des BMöWV vom 30.8.1985 über eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Rheintalautobahn A 14, BGBl. 366/1985, war gesetzwidrig.
Die Verfassungswidrigkeit der tragenden Gesetzesbestimmung (§20 Abs3 StVO) hat die Gesetzwidrigkeit der für die Anlaßbeschwerdeverfahren maßgeblichen Verordnung zur Folge. Sie entbehrt der erforderlichen gesetzlichen Deckung.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Auslegung, Straßenpolizei, Auslegung verfassungskonforme, Rechtspolitik, VfGH / PrüfungsmaßstabEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:G90.1987Dokumentnummer
JFR_10128987_87G00090_01