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95 TechnikNorm
B-VG Art90Leitsatz
Vom VwGH in ständiger Rechtsprechung angenommene Zuständigkeitzur Prüfung der Entscheidungen der Berufungskommissionin Disziplinarangelegenheiten (trotz VfSlg. 10343/1985)denkmöglich; aufgrund der dargelegten Bedenken bezieht sich dieGesetzesprüfung nur auf die Frage der Wahrung der ÖffentlichkeitiSd Art6 Abs1 MRK - Verlust der Ziviltechnikerbefugnis imZuge eines Disziplinarverfahrens gem. §49 Abs1 Z5 - StrafeiSd Art6 MRK; im Prüfungsverfahren kommt es nicht darauf an,welche Sanktion im Anlaßfall verhängt wurde, sondern darauf,welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt; Garantien des Art6 MRKsind auf das Disziplinarverfahren nach dem IKG anzuwenden;österr. Vorbehalts zu Art6 - Vorbehalt bezüglich desGerichtsverfahrens bezieht sich nach dem Größenschluß erst rechtauf Verfahren vor Verwaltungsbehörden, die Tribunale iSd Art6MRK sind; keine Aufhebung der §§60 Abs2 und 64 Abs5 alsverfassungswidrigRechtssatz
Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art140 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellendes Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10296/1984). Zwar hat der Verfassungsgerichtshof in VfSlg. 10343/1985 die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes in einer derartigen Angelegenheit anläßlich eines Abtretungsbegehrens nach Art144 Abs3 B-VG verneint; er sieht jedoch (vor allem auch im Lichte seiner zu VfSlg. 5684/1968 angestellten Überlegungen) keinen Anlaß, die Denkmöglichkeit der vom Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur (VwSlg. 3638 A/1955, 4427 A/1957, 8802 A/1975; VwGH 25.3.1983, Zl. 82/04/0152 und Zl. 82/04/0154) angenommenen Zuständigkeit zur Prüfung der Entscheidung der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer und damit die Präjudizialität der vom Verwaltungsgerichtshof angefochtenen §§49 Abs1 Z2, 4, 5 und Abs2, 50, 51, 60 Abs2 und 64 Abs5 IKG zu verneinen.
Zulässigkeit des Antrages nur hinsichtlich der §§60 Abs2 und 64 Abs5 IKG.
Die vom Verwaltungsgerichtshof zur Begründung seines Gesetzesprüfungsantrages geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken beziehen sich ausschließlich darauf, daß die Disziplinarausschüsse und die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten nach dem IngenieurkammerG (IKG) "nicht als dem Öffentlichkeitsprinzip iSd ersten und des zweiten Satzes des Art6 Abs1 MRK entsprechend eingerichtet" sind. Da sich der Verfassungsgerichtshof bei seiner Überprüfung gesetzlicher Bestimmungen auf die im Prüfungsantrag gemäß §62 Abs1 VfGG 1953 im einzelnen dargelegten, "gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken" zu beschränken hat, bildet das Prozeßthema des über Antrag des Verwaltungsgerichtshofes eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ausschließlich die Frage der Wahrung der Öffentlichkeit iSd Art6 Abs1 MRK. Der Grundsatz der Öffentlichkeit gilt danach jedenfalls für das Verfahren vor dem entscheidenden Tribunal, insbesondere für die Verhandlung und die Urteilsverkündung. Der Verfassungsgerichtshof vermag daher nicht einzusehen, daß die vom Verwaltungsgerichtshof geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken über die im IKG getroffene Regelung des Disziplinarverfahrens hinausreichen und auch die gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung der Disziplinarbehörde in den §§50 und 51 IKG oder gar die Regelungen über Disziplinarstrafen nach §49 IKG betreffen. Sitz der vom Verwaltungsgerichtshof geltend gemachten Verfassungswidrigkeit wären sohin ausschließlich die Bestimmungen der §§60 Abs2 und 64 Abs5 IKG: in §60 Abs2 wird die Nichtöffentlichkeit der Verhandlung vor dem Disziplinarsenat ausdrücklich angeordnet und in §64 Abs5 ist von der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren die Rede, die mangels einer besonderen Regelung, sofern sie überhaupt durchgeführt wird, nach den allgemeinen Vorschriften über die mündliche Verhandlung erster Instanz (§60 IKG) zu gestalten ist. Die angeführten Verfahrensbestimmungen des §60 Abs2 und §64 Abs5 IKG hat der Verwaltungsgerichtshof im Zuge der Kontrolle des bei ihm angefochtenen Bescheides der Berufungskommission anzuwenden. Da hinreichende verfassungsrechtliche Bedenken iSd §62 Abs1 VfGG 1953 dagegen geltend gemacht wurden, ist der Prüfungsantrag insoweit auch zulässig.
Der Prüfungsantrag des Verwaltungsgerichtshofes entspricht hinsichtlich der Bestimmung der §§50 und 51 IngenieurkammerG (IKG) ("Disziplinarausschüsse" und "Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten") sowie hinsichtlich der in eventu angefochtenen Bestimmungen des §49 Abs1 Z2, 4 und 5 und §49 Abs2 IKG ("Disziplinarstrafen") nicht dem §62 Abs1 VfGG 1953. Zwar sind auch diese Gesetzesvorschriften im Anlaßverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof präjudiziell. Da der Verwaltungsgerichtshof aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Gesetzesbestimmungen ins Treffen führte, vielmehr und im Gegenteil die Tribunalqualität der Disziplinarausschüsse und der Berufungskommission iSd Art6 Abs1 MRK als gegeben erachtete, waren die Prüfungsanträge insoweit als unzulässig zurückzuweisen (VfSlg. 4340/1962, 9747/1983).
Prüfung der §§60 Abs2 und 64 Abs5 IKG (nichtöffentliche Disziplinarverhandlung); Garantien des Art6 MRK im Disziplinarverfahren der Ingenieurkammer.
Es handelt sich bei Disziplinarstrafverfahren nach dem V. Abschnitt des IngenieurkammerG (IKG) zumindest insoweit um "strafrechtliche Anklagen" iSd Art6 Abs1 MRK, als gemäß §49 Abs1 Z5 IKG als Disziplinarstrafe der Verlust der Befugnis droht. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erk. G181/86 ua. vom 14.10.1987 näherhin begründet hat, kommen die Garantien des Art6 MRK immer dann zum Tragen, wenn in einem Verfahren Strafen von bestimmter Schwere vorgesehen sind. Dies auch dann, wenn sie im Disziplinarbereich verhängt werden. Um eine derartige, eindeutig als Strafe iSd Art6 MRK und nicht als sonstige administrative Maßnahme zu qualifizierende, besonders gravierende Sanktion handelt es sich beim Verlust der Ziviltechnikerbefugnis im Zuge eines Disziplinarstrafverfahrens gemäß §49 Abs1 Z5 IKG. Diese Strafe kann praktisch zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Bestraften führen. Sie zeichnet sich nicht nur durch besondere Schwere aus, sondern auch durch ein vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochenes Unwerturteil, das dem Wesen einer Strafe iSd Art6 MRK eigen ist.
Dabei kommt es im Gesetzesprüfungsverfahren nicht darauf an, welche Sanktion in dem Disziplinarfall verhängt wurde, der als Anlaßfall vor dem Verwaltungsgerichtshof dessen Prüfungsantrag auslöste, sondern nur darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz überhaupt kennt (vgl. EGMR; Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 67).
Auf das Verfahren vor den Disziplinarbehörde des IKG sind sohin die Garantien des Art6 MRK insgesamt anzuwenden.
Abweisung des Verwaltungsgerichtshofantrages auf Aufhebung der §§60 Abs2 und 64 Abs5 IngenieurkammerG, die nichtöffentliche Disziplinarverhandlungen vorsehen.
Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Öffentlichkeitsprinzip des Art6 Abs1 MRK treffen in der Sache nicht zu. Das Öffentlichkeitsgebot des Art6 Abs1 MRK gilt nämlich nur nach Maßgabe des Vorbehalts, den Österreich anläßlich der Ratifikation der MRK zu deren Art6 erklärt hat. Dieser Vorbehalt besagt,
"... daß ... die Bestimmungen des Art6 der Konvention mit der
Maßgabe angewendet werden, daß die in Art90 des Bundesverfassungsgesetzes idF von 1929 festgelegten Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden, ..."
Art90 B-VG bezieht sich zwar dem Wortlaut nach lediglich auf die Öffentlichkeit von Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor Gerichten. Mit dem EGMR (Fall Ringeisen, 16.7.1971, A/13 §98) hat der Verfassungsgerichtshof (VfSlg. 7208/1973) angenommen, daß der bezüglich des gerichtlichen Verfahrens gemachte Vorbehalt aufgrund eines Größenschlusses erst recht für Verfahren vor Verwaltungsbehörden gilt, die als Tribunale iSd Art6 MRK anzusehen sind (was nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes auf die Disziplinarausschüsse und die Berufungskommission der Ingenieurkammer zutrifft). Der Verfassungsgerichtshof sieht keine Ursache, aus Anlaß des vorliegenden Prüfungsantrages von dieser Judikatur abzugehen, zumal sie zuletzt vom EGMR (Fall Ettl, 23.4.1987, §§42, 43) ausdrücklich bestätigt wurde und der Verwaltungsgerichtshof in seinem Prüfungsantrag nicht einmal versucht, diese Judikatur zu widerlegen.
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Ziviltechniker Kammer,Disziplinarrecht Ziviltechniker, VfGH / Bedenken,VfGH / Prüfungsmaßstab, berufliche VertretungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:G145.1987Zuletzt aktualisiert am
21.09.2012