RS Vfgh 1987/12/7 B1218/86

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Veröffentlicht am 07.12.1987
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10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art17a
EGVG ArtVIII. 2. Fall

Leitsatz

Verhängung einer Verwaltungsstrafe gem. ArtVIII zweiter Fall EGVG (Erregung ungebührlichen störenden Lärms durch Klavierspielen einer Konzertpianistin und Klavierpädagogin); Hinweis auf VfSlg. 10401/1985; die Strafnorm des ArtVIII EGVG ist ihrer Zielsetzung nach nicht darauf gerichtet, künstlerische Betätigung zu verhindern - in verfassungskonformer Auslegung erfordert ihre Anwendung eine Abwägung zwischen der durch Art17a StGG geschützten künstlerischen Freiheit und jenen Rechtsgütern, zu deren Zweck sie besteht; Abstellen der Entscheidung ausschließlich auf die Intensität der Lärmerregung ohne Beachtung der Frage künstlerischer Betätigung - durch Unterlassen jeglicher Abwägung Verletzung im Recht auf Freiheit der Kunst

Rechtssatz

Ungeachtet der Tatsache, daß die Freiheit der Kunst ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, bleibt - wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg. 10401/1985 dargetan hat - auch ein Künstler in seinem Schaffen an die allgemeinen Gesetze gebunden (sogenannte immanente Schranken der Kunstfreiheit; vgl. dazu Neisser, Die verfassungsrechtliche Garantie der Kunstfreiheit, ÖJZ 1983, 1 ff, insbesondere 7 ff, auch mit Hinweisen auf die Materialien). Der Gerichtshof hat im zitierten Erk. (mwH) auch ausgeführt, daß eine allgemeine Verhaltensnorm wie etwa eine baurechtliche Vorschrift, das Verbot der unnötigen Erregung störenden Lärms oder eine Abgabepflicht für sich allein nicht als Beschränkung der Freiheit der Kunst gewertet werden kann. Unter Hinweis auf Berka (Die Freiheit der Kunst und ihre Grenzen im System der Grundrechte, JBl. 1983, 281 ff, hic: 289 f) hat er den Standpunkt eingenommen, daß erst die Kriterien, nach denen eine solche Vorschrift anzuwenden ist, nach Zielsetzung oder Auswirkung allenfalls mit dem Recht auf Freiheit der Kunst in Konflikt geraten könnten.

Nun ist die Strafnorm des ArtVIII EGVG ihrer Zielsetzung nach nicht darauf gerichtet, künstlerische Betätigung zu verhindern, doch kann ihre Anwendung zu Auswirkungen führen, die einer Behinderung des künstlerischen Schaffens oder der Vermittlung von Kunst oder ihrer Lehre gleichkommt. Es erfordert daher die Anwendung dieser Bestimmung eine Abwägung zwischen der durch Art17a StGG geschützten künstlerischen Freiheit und jenen Rechtsgütern, zu deren Schutz sie besteht. Schon im Bericht des Verfassungsausschusses des Nationalrates (978 BlgNR, 15. GP) wird in diesem Zusammenhang auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen, nach dem auftretende Konfliktsituationen zu lösen sein werden (vgl. dazu auch Neisser, ÖJZ 1983, 8 f).

Hätte ArtVIII EGVG einen Inhalt, der ein Handeln auch dann mit Strafe bedroht, wenn dadurch eine künstlerische Tätigkeit iSd Art17a StGG unmöglich gemacht wird, ohne daß dies erforderlich ist, um ein anderes von der Rechtsordnung als schutzbedürftig anerkanntes Rechtsgut zu schützen, so wäre er im Hinblick auf diese (unverhältnismäßige) Auswirkung verfassungswidrig. Der relativ vage Begriff der ungebührlichen Erregung störenden Lärms, der auch nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes differenzierend angewendet werden kann (vgl. etwa VwSlg. 4186/A/1956; E v 4.4.1962, Zl. 1482/60), erlaubt jedoch eine verfassungskonforme Auslegung, derzufolge eine Bestrafung aus Anlaß einer durch Art17a StGG geschützten Betätigung nur unter Bedachtnahme auf die Umstände des Falles und nach Abwägung mit den durch Art17a StGG geschützten Interessen zulässig ist. ArtVIII EGVG ermöglicht somit nicht nur eine Abwägung mit grundrechtlich geschützten Positionen, sondern erfordert eine solche im Lichte des Art17a StGG auch (vgl. zum analogen Problem der Anwendung des Verwaltungsstraftatbestands der Anstandsverletzung in Beziehung zur verfassungsgesetzlich gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit VfSlg. 10700/1985).

Verletzung der Kunstfreiheit durch Verwaltungsstrafe gemäß ArtVIII, 2. Fall EGVG wegen Klavierspielens.

Obwohl die Behörde von Verfassungs wegen gehalten gewesen wäre, bei ihrer Entscheidung deren Auswirkung auf die künstlerische Betätigung zu berücksichtigen, hat sie im Verfahren Aspekten der Kunstfreiheit überhaupt keine Bedeutung zugemessen. Sie ist zwar bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides davon ausgegangen, daß nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Lärm dann als störend zu qualifizieren ist, wenn er seiner Art und/oder Intensität nach geeignet ist, das Wohlbefinden normal empfindender Menschen zu beeinträchtigen und hat hiezu auf das Erk. des Verwaltungsgerichtshofes vom 25.5.1983, Z83/10/0078, verwiesen; in der Bescheidbegründung und auch schon in dem dem Bescheid vorangegangenen Ermittlungsverfahren hat sie jedoch der Frage der Art der Lärmerregung keine Bedeutung beigemessen und ihre Entscheidung ausschließlich auf die Intensität der Lärmerregung abgestellt. Sie hat damit insbesondere der Frage keine Beachtung geschenkt, ob das inkriminierte Verhalten im Zusammenhang mit einer künstlerischen Betätigung steht.

Nun dispensiert freilich auch eine künstlerische Betätigung nicht schlechthin von der Einhaltung der Vorschriften des ArtVIII EGVG, doch ist die Behörde bei Anwendung dieser Verwaltungsstrafnorm aus verfassungsrechtlichen Gründen gehalten, die Tatsache, daß es sich bei der inkriminierten Tätigkeit um eine im Schutzbereich des Art17a StGG liegende Betätigung handelt, abwägend zu berücksichtigen.

Da die Wiener Landesregierung die bei verfassungskonformer Gesetzesauslegung notwendige Abwägung überhaupt nicht vorgenommen hat, hat sie der angewendeten Rechtsvorschrift einen Inhalt unterstellt, der sie - hätte sie ihn - als verfassungswidrig erscheinen lassen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 10386/1985, 10615/1985, 10700/1985 und 10720/1985) hat sie damit den Bescheid mit Verfassungswidrigkeit belastet.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Polizeirecht, Lärmerregung, Grundrechte, Kunstfreiheit, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B1218.1986

Dokumentnummer

JFR_10128793_86B01218_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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