RS Vfgh 1987/12/10 G146/87, G147/87

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 10.12.1987
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Index

74 Kirchen, Religionsgemeinschaften
74/01 Gesetzliche Anerkennung, äußere Rechtsverhältnisse

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
StGG Art15
AnerkennungsG 1874
Verordnung der Bundesregierung vom 30.5.1924, BGBl 176, womit die Geltung von Vorschriften, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse und die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche, auf das Burgenland erstreckt wird
IslamG, RGBl 159/1912 ArtI

Leitsatz

Das Gesetz ist Bestandteil der geltenden Rechtsordnung; zuprüfende Bestimmungen nicht in so offenkundigem undkontradiktorischem Widerspruch zu Art15 StGG; daß aufinhaltliche Derogation zu schließen ist; besondere historischeSituation von 1912 nicht mehr gegeben; nach Wortlaut und Absichtdes historischen Gesetzgebers; keine Auslegung des Islam eineranderen (nicht-hanefitischen) religiösen Richtung möglich sei;durch das IslamG bewirkte Beschränkung der Anerkennung auf dieAnhänger des Islam nach hanefitischem Ritus greift in das durchArt15 StGG garantierte Selbstbestimmungsrecht der gesetzlichanerkannten Religionsgesellschaft des Islam eine; zum Begriff der"inneren Angelegenheiten" iSd Art15 StGG; Ausschluß einesTeiles der religiösen Gemeinschaft von der Anerkennung alsReligionsgesellschaft ohne Rücksicht darauf, daß es sich nach demSelbstverständnis der gesamten Religionsgemeinschaft um den Teileines gemeinsamen Bekenntnisses handelt verfassungswidrig -Aufhebung einiger Worte in ArtI erster Absatz und dessen §§5und 6

Rechtssatz

Das IslamG ist Bestandteil der geltenden Rechtsordnung. Diese Feststellung steht im Einklang mit §1 Z1 vierter Absatz der Verordnung der Bundesregierung vom 30.5.1924, BGBl. 176, (womit die Geltung von Vorschriften, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse und die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche auf das Burgenland erstreckt wird), wo von der "Erstreckung der Wirksamkeit", sohin von der Weitergeltung des IslamG als Bestandteil der Rechtsordnung der Republik Österreich ausgegangen wird.

Der Verstoß des IslamG gegen Art15 StGG hat auch nicht zur Derogation der verfassungswidrigen Bestimmungen des IslamG im Zuge der Neubegründung der Verfassungsordnung der Republik Österreich im Jahre 1945 geführt. Dieser Verfassungsvorschrift kann nicht der Sinn beigemessen werden, "das Weiterbestehen aller oder gewisser widersprechender Rechtsvorschriften auszuschließen" (VfSlg. 5630/1967, 5810/1968, 6278/1970, 7151/1973). Die zu prüfende Wortfolge des IslamG steht zu Art15 StGG nicht in einem so offenkundigen und kontradiktorischen (VfSlg. 5120/1965) Widerspruch, daß daraus schon auf die inhaltliche Derogation der genannten Wortfolge zu schließen ist, zumal sich ArtI erster Absatz IslamG ausdrücklich auf Art15 des bereits 1867 erlassenen StGG bezieht.

Die Erledigung des BMUK vom 2.5.1979, Z9076/7-9c/79, mit der die Errichtung der ersten Wiener Islamischen Religionsgemeinde und die Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich genehmigt wurde, stützt sich ausdrücklich auf das IslamG, speziell auf den ArtI §1 dieses Gesetzes. Dort ist im ersten Absatz eine Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der Anhänger des Islam "im Verordnungsweg" in Aussicht gestellt, was dem Verfassungsgerichtshof für die rechtliche Bewertung der angeführten "Erledigung" und damit für die Zulässigkeit des unter V11/87 eingeleiteten Verordnungsprüfungsverfahren von Bedeutung erscheint. Ferner erfaßt die Genehmigung eine "Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich", der kraft der gleichzeitig genehmigten "Verfassung" (Statuten) dieser Glaubensgemeinschaft "alle Anhänger des Islam angehören", somit nicht bloß jene, die dem hanefitischen Ritus anhängen (siehe ArtI der "Verfassung"). Sie steht daher in Widerspruch zu ArtI des IslamG. Denn dieser gesetzlichen Bestimmung zufolge werden nur die "Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus" als Religionsgesellschaft iSd Art15 StGG anerkannt. Der Verfassungsgerichtshof hat daher bei Prüfung der Gesetzmäßigkeit der genannten Erledigung im Verfahren V11/87 das IslamG in prozessualer und materieller Hinsicht anzuwenden und hiebei insbesondere auch die Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" in ArtI IslamG seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen. Diese Wortfolge ist - wegen des untrennbaren Zusammenhanges der betreffenden Bestimmungen - nicht nur im ersten Absatz des ArtI, sondern auch in den §§5 und 6 desselben Artikels des IslamG im Verordnungsprüfungsverfahren präjudiziell. Eine Prüfung derselben Wortfolge im Titel des IslamG erschien dem Verfassungsgerichtshof dagegen mit Rücksicht auf die mangelnde selbständige normative Qualität des Gesetzestitels als entbehrlich.

Der Verfassungsgerichtshof ist sich dessen bewußt, daß die Aufhebung der Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" im IslamG zu einer Ausweitung der gesetzlichen Anerkennung der Religionsgesellschaft des Islam führt. Vor die Alternative gestellt, das IslamG insgesamt oder nur die genannte Wortfolge im Gesetz in Prüfung zu ziehen, entschied er sich für letzteres.

Eine Abwägung iS der ständigen Judikatur (VfSlg. 7376/1974, 7786/1976 ua) ergibt im vorliegenden Fall, daß die völlige Beseitigung der vom Gesetzgeber beschlossenen - teilweisen - Anerkennung der Religionsgesellschaft des Islam in ihren Auswirkungen einen weitaus stärkeren Eingriff in den Rechtsbestand bedeutet als die Beschränkung der Aufhebung auf die Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" und die dadurch im Ergebnis bewirkte Ausweitung der Anerkennung auf alle Anhänger des Islam.

Das IslamG beschränkt die Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft ausdrücklich auf die Anhänger des Islam "nach hanefitischem Ritus". Wie die EB zur RV (1 der Blg zu den sten Prot des Herrenhauses, XX. Session 1909, S 6) bemerken, sollen damit die "Prärogative" einer anerkannten Religionsgesellschaft "nicht den Anhängern des Islams schlechthin, sondern nur jenen nach hanefitischem Ritus eingeräumt werden ...".

Diese beschränkte Anerkennung lag also in der eindeutigen Absicht des historischen Gesetzgebers.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die besondere historische Situation im Jahre 1912 die Begrenzung der Anerkennung auf Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus in Anbetracht des in ArtI erster Absatz IslamG ausdrücklich genannten Art15 StGG zu rechtfertigen vermochte. In der heutigen Republik Österreich ist diese besondere Situation jedenfalls nicht mehr gegeben, was ja auch die genehmigte "Verfassung" der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausdrücklich dadurch zeigt, daß sie in ihrem ArtI Anhänger des Islam, die dem hanefitischen Ritus nicht angehören, den Anhängern des Islam nach hanefitischem Ritus gleichstellt.

Aus dem Motivenbericht zum IslamG geht eindeutig hervor, daß eine Ausdehnung der Anerkennung auf Angehörige des Islam, die einer anderen religiösen Richtung angehören, nach dem IslamG nicht möglich ist. Eine andere Auslegung des IslamG kommt sowohl wegen dessen Wortlaut als auch auf Grund der dargelegten Absicht des Gesetzgebers nicht in Betracht.

Die Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft ohne Beschränkung auf seine Anhänger nach hanefitischem Ritus (von der die vom BMUK genehmigte "Verfassung" der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausgeht) ist aber auch nach dem AnerkennungsG 1874 nicht zulässig, weil eine auf dieses Gesetz gestützte Anerkennung die bereits durch das IslamG erfaßten Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus nicht neuerlich in einen Anerkennungsakt miteinbeziehen darf. Die bestehende Gesetzeslage erlaubt es daher nicht, alle Anhänger der religiösen Gemeinschaft des Islam in einer anerkannten Religionsgesellschaft zusammenzufassen.

Der Verfassungsgerichtshof geht iS seiner bisherigen Judikatur zu

Art15 StGG (vgl. insbesondere VfSlg. 2944/1955 und 3657/1959)

davon aus, daß das "den gesetzlich anerkannten Kirchen und

Religionsgesellschaften durch Art15 StGG verfassungsgesetzlich

gewährleistete Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung

und der Ordnung und selbständigen Verwaltung ihrer inneren

Angelegenheiten ... nicht durch ein einfaches Gesetz beschränkt

werden (darf)" (VfSlg. 2944/1955) sowie daß "in den inneren

Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und

Religionsgesellschaften ... den staatlichen Organen durch Art15

StGG jede Kompetenz zur Gesetzgebung und Vollziehung genommen (ist)" (so VfSlg. 3657/1959). Mit Adamovich jun. (Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 1971, S 549) meint der Verfassungsgerichtshof, daß das, "was unter den inneren Angelegenheiten zu verstehen ist, deren Ordnung und Verwaltung den gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften gemäß Art15

StGG garantiert ist, ... nicht von der einfachen Gesetzgebung

selbständig geregelt werden (darf), sondern ... sich wesensmäßig

aus dem Aufgabenbereich der betreffenden Religionsgesellschaft (ergibt)". Der Bereich der "inneren Angelegenheiten" iSd Art15 StGG ist daher nur unter Bedachtnahme auf das "Wesen der Religionsgesellschaften nach deren Selbstverständnis erfaßbar",

wie von der staatskirchenrechtlichen Literatur (... s. S 14 des

Erk.) mit Recht festgestellt wird. Insbesondere zählt zu den "inneren Angelegenheiten" auch die Frage der Mitgliedschaft zur anerkannten Religionsgesellschaft. Der Gesetzgeber ist kraft Art15 StGG verhalten, bei Anerkennung einer Religionsgesellschaft deren Mitgliederkreis so abzugrenzen, daß er nicht gegen das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft verstößt. Ein Gesetzgeber, der von der Anerkennung einer religiösen Gemeinschaft (die eine notwendige Voraussetzung der Anerkennung bildet) als Religionsgesellschaft iSd Art15 StGG einen Teil der Gemeinschaft ohne Rücksicht darauf ausschließt, daß es sich nach dem Selbstverständnis der gesamten Religionsgemeinschaft um den Teil eines gemeinsamen Bekenntnisses handelt, agiert verfassungswidrig. Denn er verhindert damit die durch Art15 StGG verfassungsrechtlich gewollte und verbürgte selbständige Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten der gesamten Religionsgemeinschaft.

Aufhebung der Worte "nach hanefitischem Ritus" in ArtI erster Absatz und in §§5 und 6 des ArtI IslamG 1912 wegen Verstoßes gegen Art15 StGG - Eingriff in innere Angelegenheiten; (Prüfungsbeschluß auch bzgl. Gleichheit gefaßt).

Dem Selbstverständnis der Anhänger des Islam hinsichtlich seiner Mitglieder, wie es nicht zuletzt in der vom BMUK genehmigten "Verfassung der islamischen Glaubengemeinschaft in Österreich" zutage tritt, widerspricht eine Anerkennung bloß der Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus. Wie immer dieses Selbstverständnis der Anhänger des Islam nämlich auch im einzelnen beschaffen sein mag, so schließt es die Rechtslage nach dem IslamG jedenfalls aus, daß alle Anhänger des Islam einer anerkannten Religionsgesellschaft zugehören.

Der Gesetzgeber greift aber in verfassungswidriger Weise in den Bereich der inneren Angelegenheiten der Religionsgesellschaft des Islam ein, wenn er (ohne Fortdauern der historischen Gründe) eine Einschränkung der zum Islam als anerkannter Religionsgesellschaft zählenden Anhänger vornimmt. Er widerspricht damit nicht nur dem behaupteten Selbstverständnis der von der gesetzlichen Anerkennung erfaßten Anhänger des Islam (nach hanefitischem Ritus), sondern auch dem der vom IslamG nicht erfaßten Anhänger des Islam, wenn und insofern beide von einer einheitlichen Religionsgemeinschaft ausgehen.

Entscheidungstexte

  • G 146,147/87
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 10.12.1987 G 146,147/87

Schlagworte

Religionsgesellschaften, Gesetz, Rechtsüberleitung,Derogation materielle, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Trennbarkeit,VfGH / Prüfungsumfang, Auslegung, Staatskirchenrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G146.1987

Zuletzt aktualisiert am

10.01.2011
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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