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82 GesundheitsrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Der Gesetzgeber kann das Inkrafttreten einer (neuen) gesetzlichen Regelung an die Erlassung einer ausreichend determinierten, das Gesetz näher konkretisierenden Verordnung knüpfen - kein Widerspruch zum Prinzip der Gewaltentrennung; eine als Übergangsregelung tolerierbare Rechtslage wird mit dem Verstreichen der höchst zulässigen Übergangsfrist verfassungswidrig LebensmittelG; Nichterlassung der nach §12 Abs1 vorgesehenen Verordnung verhindert Eintritt einer für Dauer geeigneten Rechtslage - Unsachlichkeit des vom Gesetzgeber gewählten Systems der verwaltungsbehördlichen Prüfung der Gefährlichkeit von Süßstoffen als Zusatzstoffe; Verfassungswidrigkeit jener Vorschriften, die das Inkrafttreten der §§11 und 12 Abs2 und 3 für künstliche Süßstoffe hemmenRechtssatz
Der Verfassungsgerichtshof ist nach wie vor der Auffassung, daß das Außerkrafttreten eines Gesetzes vom Eintritt eines bestimmten Ereignisses abhängig gemacht werden darf (VfSlg. 2705/1954) und daß dieses Ereignis auch die Erlassung einer bestimmten Verordnung durch die dazu berufene Behörde sein kann (vgl. zB VfSlg. 8860/1980 iVm 8695/1979). Wohl hat der Gerichtshof in VfSlg. 9419/1982 betont, daß der Gesetzgeber die Anordnung des Inkrafttretens eines Gesetzes nicht einfach undeterminiert einem Verwaltungsorgan überlassen darf. Er sieht aber kein Hindernis dagegen, daß das Inkrafttreten - wie dies hier offenkundig der Fall ist - an die gesetzlich angeordnete Erlassung einer ausreichend determinierten, das Gesetz näher konkretisierenden Verordnung geknüpft wird. Den in der Literatur geäußerten Bedenken (vgl. jüngst Kriegner, Kann die Verwaltungsbehörde Gesetze aufheben? ÖJZ 1987, 481 ff) schließt sich der Gerichtshof insoweit nicht an. Sie vernachlässigen die Tatsache, daß die Schaffung einer vom Gesetz geforderten Voraussetzung für sein Inkrafttreten als Vollziehung dieses Gesetzes Pflicht der Verwaltung ist. Das Prinzip der Gewaltentrennung darf nicht derart verstanden werden, daß das Bestreben des Gesetzgebers, ein Gesetz nur gemeinsam mit der zu erlassenden Durchführungsverordnung in Kraft treten zu lassen, erst durch umständliche Verfahren verwirklicht werden könnte.
Die Meinung der Bundesregierung, der Vorwurf einer überlangen Dauer einer verfassungsrechtlich nur als Übergangsregelung tolerierbaren Rechtslage richte sich gegen ein bloßes Unterlassen des Gesetzgebers und könne daher nicht aufgegriffen werden, teilt der Verfassungsgerichtshof nicht. Ist eine Regelung nur als vorübergehende hinzunehmen, so wird sie eben mit dem Verstreichen der höchstzulässigen Übergangsfrist verfassungswidrig. Auch die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes wegen Änderung der Umstände ist nicht die Auswirkung eines Untätigbleibens des Gesetzgebers, sondern die Folge des unveränderten Fortbestandes des Gesetzes (einer Rechtslage, die der Gesetzgeber freilich wie jede Verfassungswidrigkeit durch Aufhebung oder entsprechende Abänderung der Norm beseitigen könnte). Den im Prüfungsbeschluß dargelegten Bedenken kann daher nicht schon mit dem Hinweis darauf der Boden entzogen werden, daß es dem Verfassungsgerichtshof verwehrt sei, gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers einzuschreiten.
Nichterlassung der nach dem LMG 1975 bis 30.06.78 zu erlassenden Verordnungen bewirkt hinsichtlich künstlicher Süßstoffe, daß die auf Gesetzesstufe stehende SüßstoffV 1939 (Verbot künstlicher Süßstoffe außer Saccharin) weiter in Kraft ist, die §§11 und 12 Abs2 und 3 LMG (bescheidmäßige Zulassung von Zusatzstoffen) aber noch nicht wirksam sind.
Ein allgemeines Verbot der Verwendung schlechthin jedes nicht ausdrücklich zugelassenen Zusatzstoffes, wie es dem Lebensmittelrecht insgesamt zugrunde liegt (§11 LMG), kann allein auf dem Verdacht der Gefährlichkeit von Zusatzstoffen beruhen und ist angesichts der Vielzahl unbedenklicher Zusatzstoffe nur sachlich, wenn es jene Fälle ausnimmt, in denen der Nachweis der Ungefährlichkeit erbracht werden kann. Es begegnet also keinen Bedenken, wenn die Möglichkeit der Überprüfung der Gefährlichkeit im Einzelfall wahrgenommen werden kann. Aus diesem Blickwinkel wäre das System der §§11, 12 LMG nicht zu beanstanden, weil es die Zulassung eines nicht schon nach Abs1 generell zugelassenen Zusatzstoffes auf Antrag nach Abs2 jederzeit ermöglicht, wenn die im Gesetz genannten - ihrerseits zweifellos sachlichen - Kriterien das erlauben. Für die in §81 Abs3 lita genannten, aufgrund weitergeltender Vorschriften verbotenen Zusatzstoffe einschließlich der künstlichen Süßstoffe (außer Saccharin) wird nun aber diese Möglichkeit erst durch die Erlassung einer Verordnung nach §12 Abs1 LMG eröffnet. Der bloße Umstand, daß für einen solchen Zusatzstoff keine Zulassungsverordnung ergeht, schließt also auch die Möglichkeit der Zulassung in einem individuellen Verfahren aus, ohne daß die Gefährlichkeit dieses Stoffes oder bestimmter Verwendungsarten überhaupt geprüft werden müßte.
Der einzige erkennbare Zweck, der das zusätzliche Erfordernis der Erlassung einer Verordnung rechtfertigen könnte, ist das Bestreben, über individuelle Zulassungsanträge erst dann entscheiden zu müssen, wenn die bisher geltende generelle Regelung durch eine Verordnung aufgrund des neuen Gesetzes ersetzt ist. Damit wird nämlich eine Häufung von Verwaltungsverfahren in Fällen vermieden, die durch generelle Zulassung erledigt werden können. Eine solche Beschränkung der Möglichkeit einer Antragstellung ist für eine Übergangszeit nicht unsachlich. Sie dient der Verwaltungsvereinfachung und ist für die Zeit, die zur Vorbereitung einer allgemeinen Richtlinie erforderlich ist, den Interessenten auch zumutbar.
Nichterlassung der nach dem LMG 1975 bis 30.06.78 zu erlassenden Verordnungen bewirkt hinsichtlich künstlicher Süßstoffe, daß die auf Gesetzesstufe stehende SüßstoffV 1939 (Verbot künstlicher Süßstoffe außer Saccharin) weiter in Kraft ist, die §§11 und 12 Abs2 und 3 LMG (bescheidmäßige Zulassung von Zusatzstoffen) aber noch nicht wirksam sind.
Die mögliche Gefährlichkeit für die menschliche Gesundheit kommt als Rechtfertigung für die dauernde Verweigerung eines individuellen Zulassungsverfahrens für Zusatzstoffe nicht in Betracht, weil die Prüfung der Gefährlichkeit ja erst Gegenstand des ausgeschlossenen Verwaltungsverfahrens wäre. Allenfalls könnte die besondere Schwierigkeit einer Entscheidung Grund für ein ausnahmsloses Verbot sein. Das Verfahren hat aber keinen Anhaltspunkt für solche Gründe gegeben. Der Gesetzgeber ist selbst davon ausgegangen, daß bis zum 30.06.78 für die in §81 Abs3 lita genannten Zusatzstoffe Verordnungen nach §12 Abs1 LMG erlassen werden können, welche die Anwendbarkeit der Abs2 und 3 des §12 herbeiführen und so individuelle Zulassungsverfahren ermöglichen. Da sich die Erwartung des Gesetzgebers, nach Ablauf der Übergangsfrist werde das System der §§11, 12 LMG wirksam werden, nicht erfüllt hat, führt die Gesetzeslage zu dem unsachlichen Ergebnis, daß das generelle Verbot des Zusatzstoffes nicht durch den Nachweis der Ungefährlichkeit im Einzelfall durchbrochen werden kann.
Die rechtzeitige Erlassung einer Verordnung, die das derzeit auf Gesetzesstufe ohnedies erlaubte Saccharin auf Verordnungsstufe (und sei es auch nur eingeschränkt) erlaubt, hätte den unsachlichen Rechtszustand vermieden. Gleichwohl hat den verfassungsrechtlichen Mangel nicht allein der säumige Bundesminister zu vertreten, sondern ebenso der Gesetzgeber, der den Eintritt einer für die Dauer geeigneten Rechtslage an ein künftiges Ereignis - die Erlassung einer Verordnung nach §12 Abs1 LMG - geknüpft hat, das ausgeblieben ist und daher das nach Ablauf einer angemessenen Übergangsfrist eintretende unsachliche Ergebnis nicht vermeiden kann. Im Ergebnis trifft der Vorwurf daher (auch) das Gesetz selbst.
Aufhebung der Worte: "§§3 und 6, und bezüglich 'Dulcin' der §5 der" in §76 litb Z2; "Verordnung über den Verkehr mit Süßstoff vom 27.02.39, DRGBl I., S 336, unbeschadet des §76 litb Z2 und", in §78 litb; "künstlicher Süßstoffe," in §81 Abs3 lita LMG.
Nichterlassung der nach dem LMG 1975 bis 30.06.78 zu erlassenden Verordnungen bewirkt hinsichtlich künstlicher Süßstoffe, daß die auf Gesetzesstufe stehende SüßstoffV 1939 (Verbot künstlicher Süßstoffe außer Saccharin) weiter in Kraft ist, die §§11 und 12 Abs2 und 3 LMG (bescheidmäßige Zulassung von Zusatzstoffen) aber noch nicht wirksam sind.
Unsachlichkeit des Systems der verwaltungsbehördlichen Prüfung der Gefährlichkeit von Zusatzstoffen, weil es trotz der generellen Zulassung zumindest eines künstlichen Süßstoffs (Saccharin) die Möglichkeit, auf Antrag über die Zulassung anderer künstlicher Süßstoffe mit Bescheid zu entscheiden, im praktischen Ergebnis (wegen Unanwendbarkeit der §§11 und 12 Abs2 und 3 LMG) ausschließt.
Aufhebung einiger Wortfolgen in den Schluß- und Übergangsbestimmungen des LMG 1975.
Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes liegt jenen Vorschriften zur Last, die das Inkrafttreten der §§11 und 12 Abs2 und 3 LMG für künstliche Süßstoffe hemmen. Dazu gehört ua. die Wortfolge "mit dem Inkrafttreten von ihren Gegenstand regelnden Verordnungen aufgrund dieses Bundesgesetzes" im Eingangssatz des das Außerkrafttreten der SüßstoffV hinausschiebenden §78. Da sich eine Bereinigung des Eingangssatzes des §78 nicht nur auf künstliche Süßstoffe, sondern auf alle in §78 genannten Vorschriften erstrecken würde, stellt die Aufhebung der in Prüfung gezogenen Wortfolge in der litb dieser Bestimmung einen geringeren Eingriff in den Normenbestand dar; iVm dem die SüßstoffV dann uneingeschränkt aufhebenden §76 litb Z2 reicht dieser Eingriff - was die SüßstoffV betrifft - auch aus.
Aufhebung der Worte: "§§3 und 6, und bezüglich 'Dulcin' der §5 der" in §76 litb Z2; "Verordnung über den Verkehr mit Süßstoff vom 27.02.39, DRGBl I., S 336, unbeschadet des §76 litb Z2 und", in §78 litb; "künstlicher Süßstoffe," in §81 Abs3 lita LMG.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 28.02.89 in Kraft.
Da die Aufhebung all dieser Bestimmungen nicht die Zulassung künstlicher Süßstoffe als Zusatzstoffe zur Folge hat, sondern nur das System der §§11 f LMG (Möglichkeit der bescheidmäßigen Zulassung von Zusatzstoffen) wirksam macht, wäre zum Schutz der Verbraucher die Setzung einer Frist nicht erforderlich. Da aber das gleichzeitige Außerkrafttreten der SüßstoffV im Ergebnis die Ausnahme für Saccharin beseitigt (weil §11 lita LMG die Zusatzstoffe ausnahmslos verbietet und eine das Saccharin ausnehmende Verordnung nach §12 Abs1 noch nicht erlassen wurde), wäre die Verwendung eines künstlichen Süßstoffes als Zusatzstoff plötzlich verboten, der bisher ohne weiteres verwendet werden durfte und dessen bescheidmäßige Zulassung nach §12 Abs2 von den Interessenten erst erwirkt werden müßte. Daher scheint dem Verfassungsgerichtshof doch eine Befristung der Aufhebung nach Art140 Abs5 B-VG angebracht. Sie hindert den zuständigen Bundesminister nicht an der sofortigen Erlassung einer Verordnung.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Gesetz, Gewaltentrennung, Invalidation, Geltung Wirksamkeit / Übergangsbestimmung, Lebensmittelrecht, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:G82.1987Dokumentnummer
JFR_10119696_87G00082_01