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L1 GemeinderechtNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Grazer Grünflächen - und BaumschutzV vom 10.06.76; "Mißstand" - einzelner, eher eng abzugrenzender, gemeinschaftsrelevanter Lebenssachverhalt, der negativ bewertet wird; allgemeine rechtspolitische Anliegen bedürfen gesetzlicher Regelung; Erhaltung von Grünflächen und Baumbestand aus Aspekten des Umweltschutzes in einem großen Gebiet - allgemeine verwaltungspolizeiliche Regelung; Aufhebung der (ortspolizeilichen) VerordnungRechtssatz
Prüfung der Grazer Grünflächen- und BaumschutzV
Der Verfassungsgerichtshof braucht sich aus Anlaß dieser Prüfungssache mit der Frage nicht auseinanderzusetzen, welcher Begriffsinhalt dem mit Beziehung auf das Gemeinschaftsleben gebrauchten - gewiß weitgehend wertausfüllungsbedürftigen - Ausdruck "Mißstand" insgesamt zukommt. Denn schon aus dem Sprachsinn, demzufolge der Ausdruck etwa mit "Übelstand" gleichgesetzt werden kann, ergibt sich mit zureichender Deutlichkeit, daß es sich jedenfalls um einen einzelnen, eher eng abzugrenzenden - gemeinschaftsrelevanten - (Lebens-)Sachverhalt handelt, der negativ bewertet wird. Eine - negativ beurteilte - allgemeine Lage in einem weiteren, das Gemeinschaftsleben berührenden Bereich liegt bereits außerhalb des für den Ausdruck "Mißstand" spezifischen Begriffsumfanges. (Als Beispiel sei angeführt, daß man etwa eine nach der konkreten Situation eintretende Lärmbelästigung durch das Inbetriebnehmen von Modellflugzeugen mit Verbrennungsmotoren als Mißstand bezeichnen wird (vgl. VfSlg. 8283/1978), nicht hingegen eine allgemeine Lärmbelastung infolge des Kraftfahrzeugverkehrs.)
Bei der Deutung des Art118 Abs6 B-VG und des darin verwendeten Mißstandsbegriffes geht der Verfassungsgerichtshof sohin davon aus, daß allgemeine rechtspolitische Anliegen nur vom formellen, parlamentarischen Gesetzgeber aufgegriffen werden dürfen. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf Petz, Gemeindeverfassung 1962 (1965), S 108, wonach das Gebiet der Verwaltungspolizei aus dem Ermächtigungsbereich des selbständigen Verordnungsrechtes ausscheidet, Maßnahmen der Pflege und Förderung von Verwaltungsgütern (daher) nicht in Betracht kommen, ferner auf die von Aichlreiter, Österreichisches Verordnungsrecht (1988), Bd 2, S 940, vertretene Auffassung, daß Agenden der Wohlfahrtspolizei (ohne eine für die Gemeinde spezifische Mißstandssituation) nicht als geeigneter Gegenstand der Regelungsbefugnis erscheinen.
§1 Abs2 lita und b, §4, §5 und §6 der Grazer Grünflächen- und BaumschutzV (Beschluß des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom 10.06.76, Zl. A17-56/7-1975, kundgemacht im Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 1976, Nr. 13, S 167 ff) werden als gesetzwidrig aufgehoben.
Die aufgehobenen Bestimmungen treffen eine allgemeine verwaltungspolizeiliche Regelung, die weit über den ortspolizeilichen Verordnungen zukommenden Zweck hinausreicht, das örtliche Gemeinschaftsleben störende Mißstände abzuwehren oder zu beseitigen.
Darstellung des Begriffs "Mißstand" iSd Art118 Abs6 B-VG.
Aus den dargelegten Erwägungen folgt, daß prohibitive und präventive Maßnahmen, welche die Erhaltung der Grünflächen und des Baumbestandes in einem sehr großen Gebiet bezwecken, nicht einem künftigen Mißstand, sondern einer unter dem Aspekt des Umweltschutzes abgelehnten allgemeinen Situation entgegenwirken sollen.
Die in den Äußerungen des Gemeinderates und der Landesregierung vertretene Ansicht, daß sich der negative Effekt gleichsam als die Summe zahlreicher Grünflächen und Baumbestand beeinträchtigender Einzelhandlungen ergibt, zeigt sohin einen - abzuwehrenden - Mißstand im dargelegten Sinn nicht auf; daß von einem solchen jedoch dann nicht gesprochen werden kann, wenn man bestimmte beeinträchtigende Einzelhandlungen isoliert betrachtet, räumen die Äußerungen im Ergebnis selbst ein.
Aufhebung der §§1 Abs2 lita und b, 4, 5 und 6 der Grazer Grünflächen- und BaumschutzV vom 10.06.76.
Der Verfassungsgerichtshof verkennt im Rahmen seiner ausschließlich an der Verfassungsrechtslage auszurichtenden Entscheidung keineswegs, daß die aufgehobenen Regelungen einem sehr bedeutsamen kommunalpolitischen Anliegen dienen, doch kann dieses nicht im Weg der bloßen Mißstandsabwehr, sondern nur auf Grund besonderer (landes-)gesetzlicher Ermächtigungen rechtens verwirklicht werden. Aus dieser Erwägung macht der Gerichtshof von der ihm nach Art139 Abs5 dritter Satz B-VG zukommenden Befugnis Gebrauch, für das Außerkrafttreten der geprüften Vorschriften die Höchstfrist von einem Jahr zu setzen.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Gemeinderecht, Verordnung, PolizeiEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:V150.1987Dokumentnummer
JFR_10119378_87V00150_01